022020

Foto: Brian Babb/Unsplash

Praxis

Steffen Debus

Erfahrungen mit einer Hauskirche – eine Reflexion aus der Praxis 

19:55 Uhr an einem Dienstagabend im Herbst. So langsam trudeln vier Menschen bei mir zuhause ein. „Wie geht’s? Was gibt’s Neues von deinem Vater mit Demenz? Wie geht es den Kindern in der Schule mit den neuen Corona-Auflagen?“ Freundliches und interessiertes Ankommen, alle setzen sich um den großen Tisch, bedienen sich mit Wasser, Obst und Knabbereien. Es könnte ein Vereinsvorstand sein, ein Lesezirkel oder auch Schulelternvertreter*innen. Aber es ist eine Hauskirche.

Ich bin Mitte 40. Als postmoderner Christ fühle ich mich in meiner Kirche meist fehl am Platz. Pfarrei und Gemeinde bieten mir vor allem ein Angebot in meiner Rolle als Vater. Aber ich bin ja mehr als das. Als Christ suche ich einen Ort, an dem ich mich mit anderen Christ*innen über Glaubens- und Lebensfragen austauschen kann, in vertrauensvoller Atmosphäre auf Augenhöhe. Das habe ich lange gesucht, aber nicht gefunden. Und dann kam mir ein Zufall zur Hilfe.

Sowas wollte ich gerne gründen.

Pastorale Mitarbeiterinnen der Pfarrei machten eine „Sommertour“ durch unser Neubaugebiet, um zu hören, wie es den Katholik*innen dort ging. Das war meine Chance. Ich erzählte von meiner Sehnsucht und von einem Artikel aus dem Erzbistum Berlin, der von einer sog. Casa, einer Hauskirche berichtete. Sowas wollte ich gerne gründen. Und die Mitarbeiterin der Pfarrei nahm das ernst und vernetzte ein paar Menschen miteinander. Wir schrieben uns E-Mails und verabredeten ein Treffen, an dem wir schauen wollten, ob unsere Wünsche und Bedürfnisse zusammenpassten. Und es passte.  

Wir treffen uns immer bei jemandem zuhause. Diese Person ist Gastgeber*in und bereitet auch den Abend vor. Wir starten meist mit einer Gebetsrunde, in der wir vor Gott legen, was uns beschäftigt und wie wir gerade hier sind. Danach folgt eine Art Bibel-Teilen in sehr unterschiedlichen Formen. Heute steht das Evangelium vom kommenden Sonntag an. Wir hören, schweigen und tauschen uns aus: Was sagt der Bibeltext in mein Leben, in meinen Alltag hinein? Wir sprechen sehr persönlich über unseren Glauben und unseren Nicht-Glauben, unsere Hoffnungen und Zweifel, unsere Gottesbilder in all ihrer Unterschiedlichkeit. Mal gibt zusätzlich es ein Lied, ein Gedicht, häufig Fragen, Impulse und Zeiten der Stille.

Hauskirchen, so heißt es immer wieder, seien DIE Urform der Kirche und daher irgendwie auch die Form, zu der wir, in Zeiten der Institutionenkrise, wieder verstärkt zurückkehren müssten. Prof. Stefan Heid jedoch sieht Hauskirchen im historischen Kontext kritisch1. Sie seien eine Legende und würden als Gegenstück zur Bischofskirche instrumentalisiert. „Die Einheit der städtischen Gottesdienstgemeinde, die Beschränkung auf einen einzigen Ort und Altar sind ferner wichtige Instrumente der Autoritätssicherung des Prebyteriums und des Bischofs einer Stadt. Ihr Interesse ist nicht eine Stadtviertelpastoral durch ein immer größeres Netz von Kirchen, sondern im Gegenteil das Beharren auf der einen Kirchenversammlung an dem einen Altar.“2

Unsere Hauskirche ist kein politischer Gegenentwurf zu irgendetwas, sondern eher eine „spirituelle Selbsthilfegruppe“.

In diesem Diskurs scheint es auch aktuell um Machtfragen zu gehen. In der Praxis sind uns diese Fragen völlig egal. Unsere Hauskirche ist kein politischer Gegenentwurf zu irgendetwas, sondern eher eine spirituelle Selbsthilfegruppe. Wir waren alle auf der Suche nach etwas, das wir an anderen Orten nicht gefunden hatten. Und diese Bedürfnisse konnten in der gegenwärtigen Gestalt irgendwie fallen wir auch aus dem System Kirche ein wenig heraus und werden mit zwiespältigen Gefühlen betrachtet. Im Erzbistum Hamburg unterscheidet man innerhalb des „Systems  Pfarrei“ Gemeinden (die sich regelmäßig zur Eucharistie versammeln) und Orte kirchlichen Lebens. Beides sind wir nicht, weder in der Selbst- noch in der Fremdzuschreibung. Dann gibt es noch „Gruppen“ oder Verbände. Eine (soziale) Gruppe sind wir zwar, aber wir tauchen nicht in den Gemeinderäumen auf, brauchen kein Geld und nutzen keine hauptamtliche Unterstützung. Für Außenstehende ist unklar, was wir tun, und vielleicht ist es deshalb auch ein wenig suspekt. Auch aus meiner Sicht ist unsere Verbindung zur Kirche vor Ort nicht geklärt, vielleicht weil wir eine Festlegung vermeiden wollen:  

  • Ich möchte gerne unsere Freiheit im Handeln bewahren und daher nicht offiziell etwas in der Pfarrei anfragen (Räume, Geld etc.). Damit wäre gefühlt eine Art Rechenschaft verbunden, die sich vielleicht negativ auf unsere Freiheit auswirken würde.  
  • Gleichzeitig diskutieren wir innerhalb der Casa immer wieder, ob und wie wir uns öffnen können und auch innerhalb der Pfarrei wirksam werden können. In diesem Jahr werden wir beispielsweise einen Tag des „lebendigen Advents“ gestalten und damit als Casa auch nach außen auftreten. Damit verbunden ist auch das Gefühl, etwas zurückgeben zu wollen. Und vielleicht auch, von der Pfarrei wahrgenommen zu werden?  

Klar ist: Wir verstehen uns als (Teil von) Kirche. Zwei Aspekte, die uns dabei wichtig sind, könnten auch für die Zukunft des Christ-Seins wichtig sein: erfahrungsorientiert und auf Augenhöhe.

Beide Aspekte sind wohl Teil des ambivalenten Reflexionsgeschehens, das uns immer auch begleitet. Klar ist: Wir verstehen uns als (Teil von) Kirche. Zwei Aspekte, die uns dabei wichtig sind, könnten auch für die Zukunft des Christ-Seins wichtig sein: erfahrungsorientiert und auf Augenhöhe.  

Wir machen als Hauskirche gemeinsam geistliche Erfahrungen und wir teilen unsere Erfahrungen aus dem Alltag miteinander. Das ist etwas, das uns sowohl in der Liturgie als auch in „kirchlichen Gruppen oft zu kurz kommt. Das berühmte Wort von Karl Rahner trifft auch uns: Der Fromme der Zukunft wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.3 Es geht also um den gelebten Glauben und wie er in Beziehung zur Tradition der Kirche gesetzt werden kann. Nicht absolute Wahrheiten stehen im Mittelpunkt, sondern die Passung: Wie kann ich meine Erfahrungen im Alltag religiös deuten? Welche Impulse gibt mir die Bibel dafür mit auf den Weg? Wie kann ich mich an unserem Religionsstifter Jesus von Nazareth orientieren und in seinem Sinne leben? Und wie entwickelt sich die kirchliche Tradition dadurch weiter?4

Wir wollen dies in Gemeinschaft und auf Augenhöhe miteinander teilen. Wir legen unser Wissen, unsere Lebensweisheit und unser Gottvertrauen zusammen und bereichern uns gegenseitig. Und dies gelingt in einer sehr wertschätzenden Atmosphäre. Wir alle haben in Kirche auch andere Erfahrungen gemacht, was letztlich zu diesem Suchprozess nach einer „Alternative“ geführt hat.  

Nach 90 Minuten enden wir mit einem gemeinsamen Gebet. Danach bleiben meist alle Sitzen, der Austausch geht weiter: der neueste Klatsch aus der Pfarrei aber auch Persönliches, das beim Bibelteilen angeklungen ist: Erfahrungen mit Tod und Trauer, neugeborene Enkelkinder, Enttäuschungen und Trennungen, Beförderungen und Bewerbungen, Zusagen und Absagen. Das ganze Leben.

Was das für meine Kirchlichkeit bedeutet? Ich sehe mich und uns als Teil von Kirche, als Teil dieser Jesus-Bewegung. Ich weiß aber nicht genau, wie die verfasste Kirche dazu steht. Der Pfarrer unserer Pfarrei weiß von unserer Hauskirche. Vielleicht zeigt sich hier der Kontrollverlust, den Kirche aktuell aushalten muss. Und wir auch. Kirche wird damit einen Umgang finden und sich dazu verhalten. Und wir auch.  

  1. Heid, Stefan: Die Renaissance der Hauskirchen;  https://de.catholicnewsagency.com/article/die-renaissance-der-hauskirchen-0866 (aufgerufen am 6.10.2020)
  2. Heid, Stefan: Das Ende einer Legende; in: Herder Korrespondenz 4/2019, S. 37-39
  3. Rahner, Karl: Frömmigkeit heute und morgen. In Geist und Leben 39 (1966), S. 335
  4. Einen schönen Gedankengang dazu findet sich bei P. Bernd Hagenkord SJ: https://paterberndhagenkord.blog/christsein-und-kirche-sein-morgen-wird-ein-mystiker-sein/ (aufgerufen am 6.10.2020)

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