22018

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Konzept

Patrik Höring

Eine fluide Kirche in flüchtigen Zeiten

Anmerkungen zu einer möglichen Sozialgestalt von Kirche in einer ‚Postmoderne‘.

Mit dem Eintreten in das Zeitalter einer zweiten, neuen Moderne, in der die einen Anzeichen einer Überwindung der Moderne im Sinne einer Post-Moderne erkennen, andere schlichtweg das für alle unweigerlich spürbare Zutagetreten der Folgen der Moderne im Sinne einer „entfalteten Moderne“1, stellt sich auch für die Kirche die Frage nach einer dieser Zeit angemessenen Sozialgestalt. Bei den verschiedensten Gelegenheiten hat Valentin Dessoy auf diese Herausforderung aufmerksam gemacht.

1. Von der ‚Risikogesellschaft‘ zur ‚flüchtigen Moderne‘

In seinem Werk „Risikogesellschaft“2 macht Ulrich Beck Mitte der 1980er Jahre auf einen tiefgründigen Strukturwandel der modernen Industriegesellschaft aufmerksam, der vergleichbar sei mit der Ablösung der ständischen Agrargesellschaft des 19. Jahrhunderts durch die Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts. Dieser neuerliche Modernisierungsprozess beinhalte inzwischen deutliche Risiken (Umkehrung von Reichtums­produktion zur Risikoproduktion: vor Nebenwirkungen muss gewarnt werden), die die Industriegesellschaft als „Risikogesellschaft“ erscheinen lasse.3 Zugleich bringe diese Risikogesellschaft neue Freisetzungsphänomene hervor (Enttraditionalisierung sozialer Klassen, Aufweichung geschlechtsspezifischer Rollenzuweisung der Kleinfamilie, Rationalisierung des Beschäftigungssystems und Integration [statt Bekämpfung] der Massenarbeitslosigkeit, Ausweitung des methodischen Zweifels über das Forschungsobjekt hinaus auf die Grundlagen und Risiken der Wissenschaft, Außerkraftsetzung demokratischer Prinzipien für Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie sowie Übergabe der gesellschaftsgestaltenden Führungsrolle an diese).4 Auch Karl Gabriel beobachtet: „Elemente der Vorgegebenheit und Schicksalhaftigkeit treten zurück zugunsten von Chancen und Zwängen individueller Entscheidung und Wahl.“5 Auch andere erkennen einen „’Freisetzungsprozeß’, der Subjekte aus traditionsbestimmten Lebensformen und -ent­würfen, der die Individuen in einem Maße zu Entscheidungsträgern ihrer eigenen Lebensorganisation macht, wie es in diesem Umfang historisch noch nie möglich war.“6 Zugleich kommt es durch die modernen Massenmedien zu einer Pluralisierung an Weltanschauungen und möglichen Lebensentwürfen. Zur Pluralisierung der Lebenswelten.7

Für die Kirche stellt sich die Frage nach einer dieser Zeit angemessenen Sozialgestalt.

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist diese ‚riskante Moderne’ zu einer „flüchtigen“ geworden, wie Zygmunt Bauman beschreibt.8 Beck sprach zehn Jahre nach seinem Buch „Risikogesellschaft“ von der „Möglichkeitsgesellschaft“ als dem Kennzeichen einer „zweiten Moderne“ (Postmoderne, entfalteten Moderne).9  Mit dem Begriff „liquid“ und dem Bild des Gases bzw. der Flüssigkeit bezeichnet Baumann jene Lebensweise, die sich nicht mehr stabil in festen Ordnungen, Klassen, Milieus oder Gruppen vollzieht, sondern in sich immer wieder verändernden sozialen Formen.10 Für eine Kirche, die, wie die Lebensweltforschung belegt11, ohnehin nur noch bestimmte Sozialmilieus oder Lebenswelten zur Teilnahme gewinnen kann, und andererseits über Jahrhunderte für sich eher überzeitliche und ewige Zuschreibungen annahm, eine grausliche Vorstellung oder zumindest eine, auf die sie sich einstellen muss.

2. Die Sozialgestalt der Kirche im Wandel: Kirche auf dem Weg in die Postmoderne

Auf dem Hintergrund dieses Freisetzungsprozesses ist auch die Kirche in West- und Mitteleuropa einem radikalen Wandel unterworfen. Die Entwicklung der letzten gut 50 Jahre mag in drei Phasen unterschieden werden, in denen Kirche ihre Sozialgestalt verändert hat.12 Die Grenzen zwischen den einzelnen Kirchenbildern sind fließend und zudem existieren in den Köpfen und Herzen der Menschen heutzutage diese verschiedenen Vorstellungen gleichzeitig. Sie sind in vielen Fällen auch der Grund für Konflikte zwischen der Kirchenleitung und dem Gottesvolk oder zwischen einzelnen Kirchenmitgliedern, wenn sie in Gremien und Räten über die Gestalt oder die Zukunft der Kirche beraten, spiegeln diese Typen doch die Spannung zwischen Kirche als Institution und Kirche als Bewegung wieder.13

2.1 Kirche als Parochia (Pfarrei) – die Zeit der ‚Volkskirche‘

Während in anderen europäischen Ländern, in Frankreich etwa schon am Beginn des 20. Jahrhunderts, gesellschaftliche Differenzierungsprozesse dazu führen, dass Kirche weitgehend ihre Macht in der Gesellschaft verliert, ist in der deutschen Nachkriegs- und heute oft als piefig erscheinenden ‚Adenauer-Zeit‘ (Stichwort: ‚Heimatfilm‘), auf dem Hintergrund der Notwendigkeit des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus, Kirche ein wesentlicher Haltgeber. Kirche funktioniert wie der Kitt im Fensterrahmen, und es gelingt ihr, Sozialstrukturen zu (re-)etablieren, die im 19. Jahrhundert ihren Fortbestand unter hinderlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sicherte: klare Hierarchien, Kleruszentrierung bzw. -fixierung, Versorgungsmentalität, Erfassungsprinzip. Der Gipfel: ein Kirchenbesuch von rund 50%, ein Top-Wert, der weder zuvor noch danach jemals erreicht wird.

2.2 Nach dem Konzil: Kirche als Gemeinde

Auf dem Hintergrund des vor allen in Deutschland weit verbreiteten Laienkatholizismus, der in der nach wie vor klerikal zentrierten Pfarrei selbstständige Organisationsformen ermöglichte, wie etwa die Jugendverbände, die Erwachsenenverbände oder andere Initiativen kommt es zu einer Ergänzung bzw. Weiterentwicklung des kirchlichen Selbstverständnisses durch das Zweite Vatikanische Konzil. Es versucht, das bisherige Kirchenbild vom Kopf auf die Füße zu stellen. Den Ausgangspunkt der Ekklesiologie bildet nun das Gottesvolk: die Gemeinschaft der Christgläubigen, die sich erst in zweiter Linie differenziert in bestimmte Dienste und Rollen. Kirche ist nicht nur Hierarchie: Sie ist eine „communio hierarchica“ (hierarchische Gemeinschaft; LG 22); ein Kompromiss, aber immerhin.

Die Kirchenbilder sind in vielen Fällen der Grund für Konflikte zwischen der Kirchenleitung und dem Gottesvolk, spiegeln diese Typen doch die Spannung zwischen Kirche als Institution und Kirche als Bewegung wieder.

Doch der Anstoß findet in der Praxis vor Ort Widerhall. Es verändert sich das Selbstverständnis des Klerus. Bildete er vorher die Spitze einer Pyramide, war der Pfarrer der Hirte („Pastor“) seiner Schafe, wird er nun zum Moderator und Animator der sich engagierenden Laien. Nebst den schon bestehenden Verbänden und Gruppierungen kommen neue Dienste und Aufgaben hinzu sowie Gremien und Räte, Aktions- und Projektgruppen, die das Leben der Pfarrei ausmachen. Diese versteht sich nun als Gemeinde (Pfarrgemeinde), als Gemeinschaft, gegründet in einer Volk-Gottes- bzw. Communio-Ekklesiologie. Gemeinschaft meint faktisch aber auch Geselligkeit, Teilnahme und aktive Mitwirkung. Auf der Rückseite wird aktives Engagement zum Gratmesser der Zugehörigkeit, zum Eintrittstor für das Erleben von Gemeinschaft. Kurzum, wer nicht bereit ist sich zu engagieren, bleibt außen vor, kommt nicht in tieferen Kontakt mit den Vollzügen der Gemeinde. Freilich bilden auch in dieser Phase der Klerus bzw. die wachsende Zahl der nicht-sakramental ordinierten Laien (Pastoralreferenten/-innen, Gemeindereferenten/-innen) den Dreh- und Angelpunkt, die Motoren oder Transmissionsriemen in den Pfarrgemeinden.

2.3 In der Postmoderne ankommen: Kirchliches Leben als Netzwerk

Was sich in den 1960er Jahren (nicht erst 1968) bereits andeutet, bekommen die Kirchen ab den 1970er Jahren immer deutlicher zu spüren: die mangelnde Passung ihrer Sozialgestalt angesichts der sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Zuge des schon seit den 1970er Jahren sich andeutenden Priestermangels, dem Rückgang der Mitgliederzahlen und einem noch größeren Schwund der Kirchenbesucher kommt es in den 1990er Jahren erst zu Kooperationen vormals selbständiger Pfarreien (Pfarrgemeinden) in immer größer werdenden Seelsorgeräumen (Pastoralräumen, Seelsorgebereichen, Sendungsräumen) und dann zur Fusion ehemals selbstständiger Pfarreien zu ‚XXL-Pfarreien‘. So liegt die Aufgabe heute darin, unterhalb der Ebene der Groß-Pfarrei neue, kleinere Gemeindeformen wieder zu entdecken und neu zu entwickeln.

Solche kleinen Gemeindeformen existieren bereits in Form der bestehenden Gruppierungen und Verbände. Sie bilden ‚Kirche im Kleinen‘ und sind für viele oft der einzige Bezugspunkt zur Pfarrei bzw. zur Kirche. Im Blick ist damit nicht mehr das große Ganze, sondern die Kirche in der jeweiligen kleinen Lebenswelt. Pfarrei ist damit weder Pyramide, noch um eine zentrale Nabe kreisender Betrieb, sondern Netzwerk verschiedenster Akteure und Angebote. Die Hauptamtlichen werden (allenfalls) zum Moderator und Koordinator. Zugleich weitet sich der Blick in den Sozialraum hinein, neue Orte von Kirche werden wahrgenommen: Kindertagesstätten, Krankenhäuser, Schulen, die Katholischen Öffentlichen Büchereien und vieles mehr: informelle Treffpunkt, Kneipen, Bildungsträger, Vereine etc. Dabei geht es um die Entdeckung der jeweiligen Bedürfnisse, aber auch der Ressourcen der jeweiligen Partner, die schließlich zu einem bunten Netzwerk verschiedener Akteure und Zielgruppen führen können. Kurzum: „Die Kirche der Zukunft wird sich als Netzwerk multipler Kirchorte darstellen: Lose gekoppelte autonome (selbststeuernde) Einheiten unterschiedlicher Formate (‚Gemeinden‘) kooperieren in großen pastoralen Räumen prozess- und projektbezogen miteinander. Einzelne profilierte kirchliche Zentren bündeln die pastorale Arbeit inhaltlich und personell, richten Akteure und Aktivitäten auf das Ganze und die Einheit aus, schärften exemplarisch das Profil von Kirche nach innen und außen und sichern ggf. eine knapp bemessene ‚Grundversorgung‘.”14

Was noch im ersten Kirchenbild wie aus Stein gefügt erschien, ist nun einem flüchtigen, fluiden Zustand gewichen. Kirche ist im Wandel, im Werden.

So wird heute deutlich, dass dieses Netzwerk zugleich in Bewegung ist. Bestimmte Gruppen, Vereine, Verbände sterben ab, andere Orte, neue Initiativen treten hinzu. Ihre Lebensdauer ist möglicherweise begrenzt: Aufgrund der jeweiligen Notwendigkeit verliert eine Initiative ihre Zielgruppe und ihren Auftrag und kommt damit auch an ihr Ende. Was also noch im ersten Kirchenbild wie aus Stein gefügt erschien, als feste Burg, als ein ‚Haus voll Glorie‘, ist nun einem flüchtigen, fluiden Zustand gewichen. Kirche ist im Wandel, im Werden. Es geht nicht mehr um Integration und Aktivierung, sondern um Präsenz des Evangeliums in der Gesellschaft, unter den Menschen. Der Fokus rückt weg von der Kirche als Institution oder der Kirche als Gemeinschaft hin zur Frage des Christseins, zur Frage nach der Präsenz des Evangeliums an den unterschiedlichsten Orten an denen Menschen leben, arbeiten, ihre Freizeit verbringen. Dies erfordert auch gedanklich eine radikale Dezentralisierung und das Vertrauen in die Selbstorganisation der Christinnen und Christen.
Soziologische Situation Gruppen­struktur Kriterium der Zugehörigkeit Ziel Perspektive
Parochia Verwaltungseinheit der
Universalkirche / Weltkirche
Einheit tria vincula15
Bekenntnis
Seelenheil durch Kirchlichkeit
Versorgung
Individuum
Gemeinde
Gemeinschaft / Gesellschaft Brüderlichkeit (Integration) tätige Gliedschaft16Engagement Beheimatung durch
Teilnahme
Veranstaltung
Kirche
Netzwerk Gemeinwesen / Sozialraum Geschwister­lichkeit
(Einheit in Differenz)
Christsein im
AlltagKontakt
Mystik und Solidarität
Begegnung
Reich Gottes

Tabelle 1

Theologische
Prinzipien
Leitung Leitungsstil Analogie Kirchenlied
Parochia christomonistische Ekklesiologie Mittler der Heilsgaben hierarchisch feste Burg Ein Haus voll Glorie schauet“
(GL 478)
Gemeinde
Communio-Ekklesiologie Animator zentralistisch Festzelt Wir sind des Herrn Gemeinde … ein Leib und viele Glieder“
(GL 477)“
Netzwerk tri-unitarische Ekklesiologie einer Kirche als Koinonia Moderator kommunikativ Zeltlager Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind.“

Tabelle 2

3. Programmatische Aspekte für eine fluide Kirche: Koinonia und kommunikatives Handeln

Wer Kirche in der Postmoderne verstehen will, wird den bis heute leitenden Begriff der Gemeinschaft weiter denken müssen: nicht im Sinne von Gemeinschaftlichkeit, sondern im Sinne von Beziehung und Kommunikation. Zweifellos haben es da von der Reformation geprägte Kirchen leichter. Sie tun sich auch weniger schwer, neue Gemeindeformen als authentische (und nicht defizitäre) Formen von Kirche wertzuschätzen.17Dazu ist der Vorschlag des englischen Theologen Pete Ward hilfreich, der die Gestalt der Kirche als einer „Solid Church“ hinter sich lässt und Anzeichen einer „Liquid Church“ erkennt, die auch aus theologischen Gründen als die angemessene Kirchengestalt heute erscheint.18

Wer Kirche in der Postmoderne verstehen will, wird den bis heute leitenden Begriff der Gemeinschaft weiter denken müssen: nicht im Sinne von Gemeinschaftlichkeit, sondern im Sinne von Beziehung und Kommunikation.

Während die feste Kirche sich definiert durch quasi natürliche Mitgliedschaft, durch regelmäßige Anwesenheit und Mitwirkung, durch Begriffe wie Gemeinschaft und Zusammenhalt, durch „one-size-fits-all“-Gottesdienste, durch Insider-Sprache und eine Club-Mentalität, versteht sich eine ‚flüchtige‘ Kirchengestalt als Netzwerk, nicht als Versammlung, als Verb, nicht als Nomen.19 Identitätsstiftend sei nicht die Mitgliedschaft in der Kirche, sondern die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Ward verweist darauf, dass in den Texten des Apostels Paulus sich zuhauf Wendungen fänden, die vom „in Christus sein“ sprächen. 20

Kirche ereigne sich also da, wo Menschen sich mit Jesus Christus verbunden fühlen, „in Christus sind“, wo sie in seinem Namen aufeinander treffen, in Kontakt kommen, in Beziehung geraten. Als Beispiel führt Ward die Begegnung eines seiner Studenten an, der in einem Café einen Freund traf und spürte, dass hier Kirche entstand, weil beide so miteinander umgingen, dass sie spürten, dass Jesus in ihrer Mitte ist.21

Das bei Ward erkennbare Kirchenverständnis entspricht dessen, was sich biblisch im Begriff der Koinonia ausdrückt. Denn das griechische ‚koinos‘ im NT bzw. das hebräische Äquivalent im AT (‚habar‘) beschreiben einen Partizipationszusammenhang. Im AT findet sich das Motiv im Selbstverständnis und in der Struktur des Volkes Israel wieder. Gemeinschaft bedeutet Teilhabe an der gemeinsamen Tradition, Verantwortung füreinander in Abbildung der partnerschaftlichen Beziehung Gottes zu den Menschen (vgl. Gen 1,26ff; Ps 8,6f). Im NT kann der Begriff vor allem durch die paulinischen Schriften als „Gemeinschaft mit jemandem durch gemeinsame Teilhabe an etwas“ verstanden werden.22Was aber konstituiert die Gemeinschaft?

Sind es im Volk Israel der Glaube an den Schöpfergott und die Exodus-Erfahrung, so ist es in den christlichen Gemeinden die gemeinsame Teilhabe mit dem Sohn (1 Kor 1,9), am Evangelium (Phil 1,5), an seinem Leiden (Phil 3,10) und in der Gemeinschaft des Geistes (2 Kor 13,13; Phil 2,1). Hieraus erwächst die christliche Gemeinde, die ihren Zusammenhalt stets erneuert durch die Teilhabe an Leib und Blut Christi (1 Kor 10,16f). Diese christozentrische Koinonia bildet sich horizontal ab in der Gemeinschaft der Glaubenden, die durch wechselseitiges Anteil geben und Anteil nehmen gekennzeichnet ist. Dieser Zusammenhang prägt auch das Gemeindebild von Lukas (Apg 2,42-47; 4,32-37). Theozentrisch gebündelt werden die beiden Stränge in 1 Joh 1,3.6f, wobei ein weiterer neutestamentlicher Zentralbegriff, die Liebe, ins Spiel gebracht wird.

Der Begriff der Liebe ist es, der der gemeinschaftlich strukturierten Kirche das notwendige Leben gibt. Vorbild der partizipativen Struktur der christlichen Gemeinde ist der Glaube an einen Gott, der selbst „die Liebe ist“ (1 Joh 4,16b), gefasst in das Bekenntnis zum einen Gott als Gemeinschaft dreier Personen. Auf Ihn führt die Kirche ihr Selbstverständnis zurück. „So erscheint die ganze Kirche als ‚das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk’.“ (Zweites Vatikanisches Konzil: LG 4; vgl. GS 24,3; UR 2). Dieser Zielvorstellung gilt es immer mehr gerecht zu werden, um glaubwürdiges Zeichen der „innigsten Vereinigung mit Gott wie für die Einheit mit der ganzen Menschheit“ zu sein (LG 1).

Der Begriff der Liebe ist es, der der gemeinschaftlich strukturierten Kirche das notwendige Leben gibt.

Dies erfordert ein anderes Handeln der Hauptamtlichen und ein anderes Verhalten aller Beteiligten untereinander.23 Es erfordert weitreichende Partizipation jener, die kraft Taufe und Firmung als Geistbegabte den gleichen Ehrennamen „Christgläubige“ tragen (vgl. u.a. LG 40.32.10). Partizipation und Kommunikation sind Bestandteile einer Kirche als Koinonia. Dabei lassen sich Aspekte dieses Selbstverständnisses und Kennzeichen „kommunikativen Handelns“ für das Handeln der Kirche fruchtbar machen.

Was kennzeichnet solches Handeln?24 „Kommunikatives Handeln liegt dann vor, wenn sich die Beteiligten darauf einlassen, ihre Pläne und Ziele aufeinander abzustimmen und diese nur auf der Grundlage eines ohne Druck und Zwang entstandenen Einverständnisses über ihre Situation und die zu erwartenden Handlungsfolgen zu realisieren.“25

Kennzeichen kommunikativen Handelns finden sich im Selbstverständnis der Kirche wieder:

  1. Kommunikation gelingt nur in einer Atmosphäre der Freiheit und ebenso kann der Glaube nur in Freiheit angenommen und vollzogen werden.26
  2. Das Ziel kommunikativen Handelns ist eine Einigung. Alle Beteiligten daran sind gleichberechtigte Subjekte. Der Verzicht auf Macht- und Herrschaftsansprüche ist dafür Voraussetzung. Auch aus theologischer Perspektive kann sich der Wahrheit nur durch einen Konsens (consensus fidelium) genähert werden, an dem alle Gläubigen aufgrund des sensus fidei als Subjekte beteiligt sind.27
  3. Die Verständigung der Subjekte wird in einem sozialen Lebensraum, der Voraussetzung und Folge ist, erzielt. Der Glaube als Konsens zwischen den Glaubenden kann sich nur in einem sozialen Lebensraum einer Traditionsgemeinschaft vollziehen, die der Gegenwart vorausliegt und gleichzeitig Folge eines Verständigungsprozesses ist.
  4. Auch wenn im Alltag die volle Verwirklichung oftmals verfehlt wird, bleibt das Ideal Voraussetzung von Kommunikation. So verhält es sich auch mit dem Glauben: Der Glaube an den Beginn der Gottesherrschaft schließt das Wissen um die noch ausstehende volle Verwirklichung ein.

Kirche, die die Kennzeichen kommunikativen Handelns realisiert, erscheint somit nicht nur den Gegebenheiten einer ‚fluiden Moderne‘ angemessen, sie ist zutiefst botschaftsgemäß.

4. Ausblick

Die Verständigung der Subjekte wird in einem sozialen Lebensraum, der Voraussetzung und Folge ist, erzielt.

Der angedeutete Kulturwandel macht bisherige Formen von Kirche nicht völlig überflüssig. Jedoch wird Kirche als Institution auf ihren Dienstcharakter für das ‚Erwachen der Kirche in den Seelen‘ (Romano Guardini28) zurückgewiesen.29

Sie kann Rahmenbedingungen schaffen, damit neue Formen von Kirche/Gemeinde entstehen können: die Stärkung von Menschen, die als bewegliche Moleküle des Christ-Seins in der Gegenwart unterwegs sind; sie kann die Bildung von Knotenpunkten unterstützen, an denen diese sich anlagern und kondensieren können, ohne zu verhindern, dass sie wieder zurück in den gasförmigen Zustand übergehen, um an anderen Orten, mit anderen Leuten erneut zu kondensieren.

  1. Vgl. u.a. Gabriel, K.: Lebenswelten unter den Bedingungen entfalteter Modernität. Soziologische Anmerkungen zur gesellschaftlichen Situation von christlichem Glauben und Kirche, in: PThI (1988), 93-106; Welsch, W.: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987.
  2. Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.
  3. Vgl. ebd., 23-112.
  4. Vgl. ebd., 18f. 113-374.
  5. Gabriel, K.: Christentum zwischen Tradition und Postmoderne [QD 141], Freiburg i. Brsg. 1992, 130.
  6. Keupp, H.: Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation. Sozialpsychologische Studien, Heidelberg 1988, 62f.
  7. vgl. Berger, P.L., Berger, B., Kellner, H.: Das Unbehagen an der Modernität, Frankfurt / New York 1987, 59-74.
  8. Vgl. Bauman, Z.: Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main 2003 (engl. Original: Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press 2000). Vgl. ähnlich: Liquid Love (2003); Liquid Life (2005); Liquid Fear (2006); Liquid Times (2007).
  9. Vgl. Von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft. Ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Beck, in: Telepolis 1 (1997), 93-107 (http://www.heise.de/tp/artikel/2/2099/1.html / 23.06.2015).
  10. Vgl. Bauman, Z.: Flüchtige Moderne, 7f.
  11. Vgl. bspw. Kläden, T. (Red.): Milieus fordern heraus. Pastoraltheologische Deutungen zum MDG-Milieuhandbuch „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus® 2013“, Erfurt 2013.
  12. Vgl. zum Folgenden auch Steinkamp, H.: Gemeindestruktur und Gemeindeprozeß. Versuch einer Typologie, in: Greinacher, N.; Mette, N.; Möhler, A. (Hrsg.): Gemeindepraxis. Analysen und Aufgaben, München / Mainz 1979, 77-89.
  13. Aus der Perspektive der Organisationsentwicklung ist festzuhalten, dass Modell 1 sich durchhalten wird, da Kirche nicht nur Bewegung, sondern immer zugleich auch Institution ist (und bleibt), mindestens einmal unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hierzulande: Kirche als ‚freier Träger‘, als Partner des Staates im Sinne der ‚res mixta‘, als Arbeitgeberin etc.
  14. Dessoy, V.: Kirche könnte gehen …, in: Hennecke, Ch; Tewes, T.; Viecens, G. (Hrsg.), Kirche geht … Die Dynamik lokaler Kirchenentwicklung, Würzburg 2013, 23-42.
  15. Die „tria vincula“ bezeichnen die nach Robert Bellarmin entwickelten Kriterien der Zugehörigkeit zur Kirche: vinculum liturgicum (Taufe und Sakramente), vinculum symbolicum (Bekenntnis des Glaubens), vinculum hierarchicum (Unterordnung unter die kirchliche Leitung). Vgl. can. 205 CIC/1983.
  16. Ein Begriff der durch die Münchener Schule eingeführt wurde und die durch die Taufe vermittelte „konsekratorische Gliedschaft“ ergänzte.
  17. Wie in der „Fresh Expressions of Church“-Bewegung der Church of England. Vgl. https://freshexpressions.org.uk/ (15.10.2018).
  18. Vgl. Ward, P.: Liquid Church, Peabody/Carlisle 42005.
  19. Vgl. ebd., 13-21; 56-64.87-98.
  20. Vgl. ebd., 33-39.
  21. Vgl. ebd., 2.
  22. Vgl. Hainz, J.: Koinonia. „Kirche“ als Gemeinschaft bei Paulus [BU 16], Regensburg 1982, 89.
  23. Vgl. auch Ward, P.: Participation and Mediation. A Practical Theology for the Liquid Church, London 2008; Dessoy, V.: Partizipation – Schlagwort oder mehr?, in: Diakonia 49 (2018), 82-91; Kröger, E. (Hrsg.): Wie lernt Kirche Partizipation? Theologische Reflexion und praktische Erfahrungen, Würzburg 2016.
  24. Vgl. zum Folgenden Höring, P.C.: Jugendlichen begegnen. Arbeitsbuch Jugendarbeit, Stuttgart 2017, 276-288 mit Bezug auf Kehl, M.: Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 31994; Lehmann, K.: Vom Dialog als Form der Kommunikation und Wahrheitsfindung heute, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1994; Arens, E.: Christopraxis. Grundzüge theologischer Handlungstheorie [QD 139], Freiburg i. Brsg. 1992; Peukert, H.: Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Düsseldorf 1976.
  25. Höhn, H.-J.: Kirche und kommunikatives Handeln. Studien zur Theologie und Praxis der Kirche in der Auseinandersetzung mit den Sozialtheorien Niklas Luhmanns und Jürgen Habermas’ [FTS 32], Frankfurt am Main 1985, 36.
  26. vgl. Zweites Vatikanisches Konzil: DH; AG 13.
  27. Vgl. Scharr, P.: Consensus fidelium. Zur Unfehlbarkeit der Kirche aus der Perspektive einer Konsenstheorie der Wahrheit [StSSTh 6], Würzburg 1992. Aus lehramtlicher Sicht: Internationale Theologische Kommission: Sensus fidei und sensus fidelium im Leben der Kirche, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [VAp 199], Bonn 2015.
  28. Vgl. Guardini, R.: Vom Sinn der Kirche. Fünf Vorträge, Mainz 41955, 19.
  29. Vgl. ähnlich bereits „Gemeinsam Kirche sein“. Wort der deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Patoral, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2015.

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