012024

Foto: Hillary Ungson/Unsplash

Konzept

Christian Schuldt

Die Zukunft des Zusammenhalts

Wie kann die Stärkung sozialer Verbundenheit in einer vernetzten Gesellschaft gelingen? Die Suche nach Antworten führt zurück zu den Wurzeln der Sozialität.

Die Angst vor der „Erosion des sozialen Zusammenhalts“ ist die am schnellsten wachsende Sorge weltweit – rund 90 Prozent der Befragten blicken diesbezüglich pessimistisch in die Zukunft (vgl. WEF 2022). Befunde wie diese spiegeln ein Phänomen, das sich längst im Mainstream der öffentlichen Debatte etabliert hat: die Rede von der „gespaltenen Gesellschaft“. Als Gründe für eine fortschreitende Fragmentierung werden gern die „Filterblasen“ und „Echokammern“ in sozialen Medien angeführt: Mechanismen und Strukturen, die Menschen darin bestärken, vor allem jene Nachrichten zu rezipieren, die ihre eigene politische Positionierung spiegeln – eine Art digitaler Polarisierungskatalysator.

Allerdings ist die Echokammer-Hypothese schon vielfach widerlegt worden – de facto ist „keine Fragmentierung öffentlicher Aufmerksamkeit entlang politischer Präferenzen feststellbar“ (vgl. Rau/Stier 2022). Und Soziologen wie Steffen Mau, die intensiv zur gesellschaftlichen Spaltung forschen, stellen schon länger fest: „Wir haben radikale Ränder. Aber deshalb ist unsere Gesellschaft noch nicht gespalten“ (vgl. Agarwala/Scholz 2022). Was sich faktisch beobachten lasse, seien lediglich „unsettled conflicts“, weil sich Themen und Debatten neu strukturieren (vgl. Bisky 2022). Auch die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky kommt zu dem Schluss: „Spaltung und Polarisierung sind Metaphern für Dynamiken, die sich in der empirischen Forschung meist als wesentlich komplexer darstellen“ (vgl. Liebhart 2022).

Menschen lieben einfache Erzählungen, die eine unübersichtliche Wirklichkeit handhabbar machen. Vor allem alarmistische Narrative verfügen über eine gesteigerte Anschlussfähigkeit und werden deshalb immer wieder medial reproduziert.

Damit ist bereits der erste Grund genannt, warum die Spaltungsbehauptung so erfolgreich ist, obwohl ihr die empirische Entsprechung fehlt: Sie lebt von der Macht der Metapher, des Narrativs. Menschen lieben einfache Erzählungen, die eine unübersichtliche Wirklichkeit handhabbar machen. Vor allem alarmistische Narrative verfügen über eine gesteigerte Anschlussfähigkeit und werden deshalb immer wieder medial reproduziert. Steffen Mau zufolge ist die These von der gespaltenen Gesellschaft ein „Angstszenario“, das „immer wieder ungeprüft nacherzählt“ wird (vgl. Agarwala/Scholz 2022).

Der zweite, tiefer liegende und „eigentliche“ Grund für den Erfolg der Spaltungserzählung ist die unübersichtliche Wirklichkeit selbst: Unter den Vorzeichen der Vernetzung wird immer deutlicher, dass die Gesellschaft nicht mehr als ein großes Ganzes verstehbar ist, sondern nur noch als dynamischer Zusammenhang des Verschiedenartigen, als Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen. Und je undurchschaubarer und unberechenbarer die Verhältnisse werden, umso attraktiver erscheinen vereinfachende Beschreibungen. Nur auf dem Boden einer überkomplexen Realität können unterkomplexe Narrative gedeihen.

System im Stresstest

Die Reduzierung von Komplexität ist etwas Grundmenschliches, alle lebenden Systeme tun im Grunde nichts anderes. Problematisch wird es aber, wenn unterkomplexe Narrative die komplexe Wirklichkeit so stark überlagern, dass sie eigene, destruktive Realitäten etablieren. Wenn etwa „Polarisierungsunternehmer“ (Steffen Mau) gezielt Radikalisierungen fördern, besteht eine realistische Gefahr, dass das Spaltungsnarrativ zur „self-fulfilling prophecy“ wird. Die großen Krisen unserer Zeit verleihen dieser Dynamik weiteren Schub. Die Pandemie hat radikalisierten Gruppen die Möglichkeit gegeben, freie Kommunikationsräume in der eingeschränkten Öffentlichkeit einzunehmen. Und die Energie- und Inflationskrisen im Zuge des Ukraine-Krieges schüren neue Ängste vor gesellschaftlichen Verwerfungen.

Immer dringlicher stellt sich also die Frage: Wie kann die Stärkung eines übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhalts unter vernetzten Vorzeichen gelingen?

„Wir gehen in eine Art Stresstest unseres demokratischen Systems“, sagt Martin Voss, Leiter der Abteilung Katastrophenforschung an der FU Berlin: „Und es könnte sein, dass bereits vorhandene Gräben vertieft werden und die gesellschaftliche Instabilität zunimmt“ (vgl. Schnabel 2022). Der Konfliktforscher Andreas Zick warnt sogar davor, dass sich Radikalisierte komplett vom „System“ abwenden: „Die Ära des Populismus ist vorbei. Sie geht in Demokratieverachtung über“ (vgl. Maxwill 2021).

Immer dringlicher stellt sich also die Frage: Wie kann die Stärkung eines übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhalts unter vernetzten Vorzeichen gelingen? Substanzielle Antworten lassen sich nur finden, wenn man nicht bei den Symptomen verharrt, sondern die Ursachen und Voraussetzungen untersucht. Die Suche nach den neuen Potenzialen für Verbundenheit, nach neuen „gesellschaftlichen Befriedungsformen“ (Steffen Mau), muss deshalb bei den Strukturen ebendieser „nächsten Gesellschaft“ ansetzen. Genauer: beim Organisationsprinzip des Netzwerks.

Die exkludierende Gesellschaft

Auf den ersten Blick scheint die Form des Netzwerks die Spaltungsthese sogar zu stützen. Schließlich versprechen Netzwerke keine Teilhabe, im Gegenteil: Sie schließen alle aus, die nicht dazugehören. Die Netzwerkgesellschaft des 21. Jahrhunderts bildet sozusagen das exkludierende Gegenstück zum Inklusionsversprechen der modernen, „vorvernetzten“ Gesellschaft, die allen Individuen Zugang zu allen gesellschaftlichen Subsystemen garantierte: Jede und jeder Einzelne sollte sich prinzipiell an Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft et cetera beteiligen können. Eingelöst wurde dieses Versprechen unter anderem durch ein demokratisches politisches System, durch ein Bildungssystem mit allgemeiner Schulpflicht, durch sekundäre Funktionssysteme wie Sozial- und Entwicklungshilfe.

Auf der einen Seite stehen die zahlreichen Facetten der „neuen Wir-Kultur“ und das hohe Maß an Solidarität, Empathie und Rücksichtnahme, das Menschen in Krisenzeiten zeigen, etwa während der Flüchtlingswelle oder der Pandemie. Auf der anderen Seite die Verschwörungstheorien und radikalen Gemeinschaften, die ebenfalls im Kontext von Krisen aufblühen.

Die Netzwerkgesellschaft „entgrenzt“ diese einheitliche Inklusionsprogrammatik nun: Teilhabe muss immer häufiger auf bislang gültige Absicherungen und Garantien verzichten, seien es wohlfahrtsstaatliche Inklusionen oder gewerkschaftliche Korrekturen. Die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen im Kontext der jüngsten Großkrisen bilden gewissermaßen die Ausnahmen zu dieser Regel. Denn tatsächlich bewirkt die Vernetzung vor allem eine Renaissance der tribalen, „archaischen“ Partizipation und damit auch einen Boom der Affekte – mit positiven wie negativen Effekten: Auf der einen Seite stehen die zahlreichen Facetten der „neuen Wir-Kultur“ und das hohe Maß an Solidarität, Empathie und Rücksichtnahme, das Menschen in Krisenzeiten zeigen, etwa während der Flüchtlingswelle oder der Pandemie. Auf der anderen Seite die Verschwörungstheorien und radikalen Gemeinschaften, die ebenfalls im Kontext von Krisen aufblühen. Die zentralen Orte dieser neuen, emotionalen Teilhabe sind die sozialen Medien – in denen das „alte“ Recht auf Inklusion nun umso vehementer eingefordert wird.

Diese Entwicklung ist, so wie die Vernetzung selbst, kein spezifisch „westliches“ Phänomen, sondern ein globales. Auch im autokratisch regierten China verlieren klassische Institutionen wie Parteien, Familie oder Gewerkschaften an Bedeutung – der Sozialanthropologe Xiang Biao attestiert der chinesischen Gesellschaft ein „zerrissenes Band“, weil das Gespür des einzelnen Individuums für das unmittelbare soziale Lebensumfeld verloren gehe (vgl. Yang 2022). Kompensiert wird dieser Mangel an Zugehörigkeit, in Fernost wie in der westlichen Welt, auch mit der rückwärtsgewandten Wiederbeschwörung fiktiver Größen wie Nation und Ethnie: „Make XY great again. Take back control.“

Was könnte unter diesen Rahmenbedingungen eine übergreifende soziale Verbundenheit stärken? Einfache soziologische Konzepte wie das der „Resonanz“ (vgl. Rosa 2016) helfen nicht weiter – die Grundannahme, dass wir letztlich alle eine Welt teilen, reicht nicht aus, um die hochkomplexen Abhängigkeiten der vernetzten Welt in den Blick zu bekommen. Gefragt sind vielmehr Zugänge, die mindestens ebenso komplex sind wie die Ausgangslage selbst: ganzheitlich-systemische Perspektiven, die die Relationen und Dynamiken der vernetzen Gesellschaft erfassen. Denn genau an diesen Schnittstellen entstehen auch die neuen Potenziale für Verbundenheit.

Brückenschläge

Je deutlicher wird, dass einzelne Systeme von Komplexität überfordert sind, umso mehr muss sich die Aufmerksamkeit nun auf die Intersektionen und Verbindungen verlagern, aus denen übergreifende Effekte entstehen können: auf interdisziplinäre Allianzen und hybride Organisationsformen, die verschiedene Akteure gemeinsam an einem Strang ziehen lassen. Dies ist die Grundidee der „Co-Society“ als einem der großen Transformationsprozesse unserer Zeit (vgl. The Future:Project 2023).

Wie kann eine Kultur des konstruktiven Miteinanders unter den Vorzeichen zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung gestärkt werden? Antworten auf diese Frage liefert die transformative Trendsystematik „Future:System“ des Thinktanks The Future:Project. Insbesondere die Transformation der „Co-Society“ spielt dabei eine zentrale Rolle: Indem sie gezielt die „wir-kulturellen“ Kräfte unserer Zeit analysiert, hilft sie bei der Verwirklichung einer postpolarisierten Gesellschaft.

Im Kern geht es dabei um ein neues Zusammenspiel der gesellschaftlich Verantwortlichen, um „Bündnisse zwischen den Denkungsarten unterschiedlicher Systeme und Funktionslogiken“, wie es der Soziologe Armin Nassehi sagt (vgl. Unfried 2019). Gesucht werden Räume, in denen sich verschiedene Eigenlogiken gegenseitig irritieren und abgleichen können.

Hinweise, wie dies funktionieren könnte, liefert das Beispiel der Gemeinnützigkeit: Gemeinnützige Organisationen sind sozusagen von Natur aus dafür prädestiniert, neue Gemeinschaftsformen zu schaffen, indem sie kluge strategische Allianzen etablieren, insbesondere an den Überschneidungen der drei klassischen Sektoren Staat, Wirtschaft, Gemeinnützigkeit. Die neuen Konstrukte, die an diesen Schnittstellen entstehen, schaffen gleichsam einen neuen „Vierten Sektor“, der diese drei traditionellen Sektoren übergreift. Gemeinnützigkeit kann dann als eine Art Community-Management fungieren, das den Aufbau nachhaltig resilienter Gemeinschaftsstrukturen fördert.

Am Beispiel der Gemeinnützigkeit wird jedoch auch deutlich, dass sich eine solche neue Wirklichkeit nicht einfach „einführen“ lässt, erst recht nicht in einer vernetzten Gesellschaft, in der jede Form von „Ordnung“ immer ein Resultat von Praxis ist. Um die inklusiven Potenziale im Rahmen der exkludierenden Vernetzung zu erschließen, braucht es deshalb praktische Projekte und Räume, die Dialoge und Begegnungen ermöglichen – und neue Identitätsangebote vermitteln. Die Basis dafür bildet eine Kultur der „kooperativen Abgrenzung“: Erst die Toleranz unterschiedlicher Perspektiven eröffnet auch Zugänge zu „tiefer liegenden“ Gemeinsamkeiten wie geteilten Werten, Zielen und Wünschen.

Von der Theorie zum Tun

Konkrete Beispiele für diese neuen Möglichkeitsräume sind Wertedialoge wie die Z2X-Community oder Initiativen wie „Deutschland spricht“, die Menschen zusammenbringen, um über Politik zu diskutieren. In den USA, wo wohl am ehesten von einer „gespaltenen“ Gesellschaft gesprochen werden kann, bringen die „Braver Angels“ im ganzen Land Menschen in Workshops und Debatten zusammen, um Vorurteile abzubauen und wieder eine echte politische Debatte zu ermöglichen (vgl. Llanque 2022). Auch ein konstruktives Verständnis von Journalismus wirkt in diese Richtung: „Unser Job ist es, auch die Stillen in ein Gespräch zu verwickeln, und die gespaltenen Teile der Gesellschaft miteinander“, sagt etwa „Zeit Online“-Chefredakteur Jochen Wegner (vgl. Becker 2016).

Große Potenziale für die Schaffung eines konstruktiveren Miteinanders bieten auch die verschiedenen Facetten der Co-Kultur, von Co-Creation über Co-Living bis Co-Working.

Große Potenziale für die Schaffung eines konstruktiveren Miteinanders bieten auch die verschiedenen Facetten der Co-Kultur, von Co-Creation über Co-Living bis Co-Working. Das Co-Prinzip zahlt auch ein auf eine neue Nähe der Generationen: Es entstehen Gestaltungsräume, in denen Jugendliche wieder mehr lernen können (und wollen) von den Älteren, die ihrerseits ihre Lebenserfahrung konstruktiver in die Gesellschaft einbringen können. Das Spektrum reicht von multigenerationalen Lebenswelten bis zu „Reverse Mentorings“, bei denen jüngere und ältere Beschäftigte Medienkompetenzen und Facherfahrung austauschen.

Damit an solchen Schnittstellen tatsächlich jene sozialen Qualitäten gedeihen können, die einen neuen sozialen Zusammenhalt fördern, muss vor allem die kleinste individuelle Ebene adressiert werden: die persönliche Selbstwirksamkeit. Denn sämtliche soziale Energie speist sich letztlich aus dem Gefühl der individuellen Handlungsfähigkeit. Der größte Feind des sozialen Zusammenhalts ist deshalb auch das Schrumpfen dieser Handlungsspielräume – im schlimmsten Fall das Gefühl der Ohnmacht. Genau deshalb ist auch der Faktor Freiwilligkeit so entscheidend: Gerade in vernetzten Zeiten können verschiedene Akteure nur dann gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn sie nicht gezogen werden.

Damit an solchen Schnittstellen tatsächlich jene sozialen Qualitäten gedeihen können, die einen neuen sozialen Zusammenhalt fördern, muss vor allem die kleinste individuelle Ebene adressiert werden: die persönliche Selbstwirksamkeit.

Auch Unternehmen erhalten dabei eine neue soziale Verantwortung. Konsum ist schon immer ein zentraler Identitätsstifter gewesen, doch in einer Gesellschaft, in der Sinn eine immer zentralere Rolle spielt, wird Konsum auf eine neue Weise kollektiv aufgeladen. Ins Zentrum rückt die Teilhabe an gemeinsamen Werten und übergeordneten Zielen. Immer wichtiger wird der Wunsch, Teil einer Bewegung mit anderen Menschen zu sein. Was Firmen deshalb künftig erfolgreich macht, sind konkrete Hilfs- und Orientierungsangebote bei der Sinn- und Identitätsfindung. Indem sie Wertegemeinschaften schaffen und stärken, zu denen Menschen sich qua Konsum zugehörig fühlen, werden Unternehmen zu Unterstützern sinnhafter Vergemeinschaftung.

Die Tatsache, dass Unternehmen „aktivistisch“ werden und gleichsam Teile des politischen Feldes besetzen, wirft auch ein neues Licht auf die künftige Rolle des Staates für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mehr denn je muss der Staat nun nachholen, was im Wirtschaftssystem längst im Gange ist: den Wandel hin zu einer zeitgemäßen Führungs- und Organisationskultur, die Menschen befähigt und ermächtigt.

Die neue Funktion des Staates

In einer vernetzten und fragmentierten Welt kann sich auch der Staat nur selbst zum Handeln ermächtigen, wenn er seine Bürgerinnen und Bürger ermächtigt. Viele konkrete Ideen und Modelle für eine partizipative Demokratie sind bereits erfolgreich im Einsatz. Ein Beispiel ist das Konzept der „Monitorial Citizenship“: Das kontinuierliche Monitoring von Regierungsaktivitäten durch Bürgerinnen und Bürger hilft, das Misstrauen in politische Institutionen produktiv zu kanalisieren und zu reduzieren.

Dass eine stärkere Bürgerbeteiligung die Akzeptanz politischer Entscheidungen und die Zustimmung zur Demokratie erhöht, belegen verschiedene bürgerdemokratische Pionierprojekte, etwa aus der Schweiz oder Baden-Württemberg. Niedrigere Hürden für Volksbegehren und -entscheide oder Ämter wie eine „Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“ verbessern die Umsetzung zivilgesellschaftlicher Anliegen – und belegen zugleich, dass mehr Teilhabe die Bürgerinnen und Bürger zufriedener und sozial engagierter macht.

Das kontinuierliche Monitoring von Regierungsaktivitäten durch Bürgerinnen und Bürger hilft, das Misstrauen in politische Institutionen produktiv zu kanalisieren und zu reduzieren.

In diesem Kontext gewinnt auch die Idee der Losdemokratie neue Aktualität. Von den Ursprüngen der Demokratie bis weit ins 18. Jahrhundert wurden die Mitglieder der Volksvertretung nicht gewählt, sondern ausgelost. Das Losprinzip ermöglicht eine echte Repräsentation der gesamten Gesellschaft und erzeugt eine hohe persönliche Verantwortung – sowohl für Bürgerinnen und Bürger, die aktiv Lösungen entwickeln, als auch für Politikerinnen und Politiker, die mit diesen Lösungen weiterarbeiten. In Deutschland wurde 2019 erstmals ein losdemokratischer Bürgerrat eingesetzt. Vieles spricht dafür, dass mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie helfen, konstruktiv mit gesellschaftlichen Spaltungstendenzen umzugehen. Der Wandel von einer rein repräsentativen zu einer partizipativen Demokratie würde die Politik (wieder) anschlussfähiger machen – und könnte die Grundlage für ein neues Miteinander legen. Eine entscheidende Rolle wird dabei auch die Kultivierung eines neuen politischen Kommunikationsstils spielen.

Auch die Idee eines „aktivierenden“ Sozialstaates kann ihre gesellschaftliche Kraft allerdings nur dann entfalten, wenn sie den Fokus auf die praktische Umsetzung verlagert, auf Erfahrungen, die in der sozialen Alltagspraxis erlebbar werden. Gelingt dies, kann sogar eine neue, konstruktive „Bürger-Bewegung“ entstehen: Menschen, die sich stärker selbst organisieren und dabei aktiv unterstützt werden von einem Staat, der sowohl Verantwortung übernimmt als auch weiß, dass seine wahre Macht in der Ermächtigung gründet. Auf breiter Basis können so neue Möglichkeiten eines übergreifenden, gemeinsamen Handelns entstehen. Und: neue Weltbilder jenseits populistischer Protestkulturen und ideologischer Grabenkämpfe.

Vertrauen braucht Interaktion

Je „flüssiger“ sich gesellschaftliche Teilhabe gestaltet, umso wichtiger wird es, neue Möglichkeitsräume nicht nur zu eröffnen, sondern auch abzusichern. Für den Staat bedeutet das ein neues Bekenntnis zum Auf- und Ausbau verlässlicher Rahmenbedingungen, die es Menschen ermöglichen, frei und freiwillig zu agieren. Erst ein Mindestmaß an sozialer und finanzieller Absicherung eröffnet echte Spielräume für selbstorganisiertes Handeln – so wie ihr Fehlen das Abdriften in populistische, reaktionäre Ideen und Organisationen begünstigt. Im Kern geht es um den Aufbau von Vertrauen: Wer darauf vertrauen kann, als Mitglied einer Gesellschaft nicht „im Stich gelassen“ zu werden, ist offener für das Eingehen neuer Verbindungen. Fehlt dieses Vertrauen, wird eine große Distanz zur „Gesellschaft“ erlebt, die zur Flucht in Parallelwelten und Extreme motiviert.

Erst ein Mindestmaß an sozialer und finanzieller Absicherung eröffnet echte Spielräume für selbstorganisiertes Handeln – so wie ihr Fehlen das Abdriften in populistische, reaktionäre Ideen und Organisationen begünstigt.

Diese Vertrauensdynamik, die allem sozialen Handeln zugrunde liegt, gilt es auch beim Umgang mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der aktuellen Energiekrise zu bedenken. Hilfsmaßnahmen wie Tankrabatte, die nicht zuletzt auch Wohlhabende unterstützen, wirken in großen Teilen der Gesellschaft tendenziell vertrauenszersetzend. Das ist umso fataler, als die resilienzfördernde Kraft gesellschaftlicher Zusammengehörigkeitsgefühle gerade in einer Zeit akuter Krisen essenziell ist.

Generell übt die ökonomische Ungleichheit viele kontraproduktive Effekte aus: „Deutschland ist heute so ungleich wie vor 100 Jahren“, sagt Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der HU Berlin: „Das Gleichheitsversprechen der Demokratie läuft empirisch also für sehr viele Menschen ins Leere. Der Widerspruch zwischen einer verinnerlichten Norm (wir sind eine Demokratie mit einem großen Gleichheitsversprechen) und einer empirisch fassbaren Realität der Ungleichheit wird für viele Mitglieder der Gesellschaft immer spürbarer und führt zu einer kognitiven Dissonanz sowie spürbarer Gereiztheit“ (vgl. Kappacher 2022). Als konstruktives Gegenbeispiel ließe sich die Idee eines Grundeinkommens anführen, das in großem Umfang abgesicherte Handlungsspielräume schaffen könnte – und so auch Vertrauen generieren würde.

Vertrauen muss sich in der Praxis bewähren, es baut auf Gewöhnung auf – und lebt dabei ganz entscheidend von der sozialen Kraft der Interaktion.

Vertrauen muss sich in der Praxis bewähren, es baut auf Gewöhnung auf – und lebt dabei ganz entscheidend von der sozialen Kraft der Interaktion. Der Soziologe Reinald Manthe betrachtet die unmittelbare, körperliche Begegnung sogar als elementare Infrastruktur für eine funktionierende Demokratie: Nur die physische Interaktion, die „Unbeschwertheit in der Begegnung mit Unbekannten“, ermögliche ein „gleichräumliches und gleichsinnliches“ Wahrnehmen der Umgebung – und damit auch ein „Gefühl der Zusammengehörigkeit“ (vgl. Fischer 2021). Die Möglichkeit, einander in die Augen zu schauen, ist demnach die Grundvoraussetzung für den Aufbau von Vertrauen und sozialem Zusammenhalt. Und virtuelle Visionen wie das Metaverse erscheinen aus dieser Perspektive geradezu demokratiegefährdend.

Zurück in die Zukunft

Die Suche nach den Möglichkeiten gesellschaftlicher Verbundenheit in vernetzten Zeiten führt nicht nur zurück zu den Ursprüngen menschlicher Sozialität, zur direkten Begegnung. Sie macht auch deutlich, dass sich Zusammenhalt immer im Lokalen und Regionalen manifestieren muss, erst recht in globalisierten und krisengeschüttelten Zeiten. Zu den zukunftsweisenden Räumen des Austauschs und der Begegnung zählen deshalb auch jene lokalen Orte und Institutionen, die es schon seit Ewigkeiten gibt, von Dorf- und Stadtteilfesten über Vereine bis zur Kneipenkultur. Besonders spannend sind dabei lokale und regionale Modellprojekte, die dort entstehen, wo Reibungen herrschen und Arrangements notwendig werden. An diesen Schnittstellen müssen neue Kommunikationsformen eingeübt werden, die sich dann als neue Gewohnheiten etablieren können.

Die Potenziale für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind also vorhanden. Wir können und müssen nur noch besser darin werden, sie zu erschließen.

Hoffnung kann dabei die Tatsache geben, dass das Narrativ von der „gespaltenen Gesellschaft“ eben vor allem genau das ist: ein Narrativ. Viele Studien belegen, dass es „hierzulande eine breite und nachhaltige Orientierung an Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Schutz der Schwächeren, Solidarität“ gibt (vgl. Liebhart 2022). Die Potenziale für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind also vorhanden. Wir können und müssen nur noch besser darin werden, sie zu erschließen.

Als ein roter Faden dient dabei der Faktor Vertrauen. Vertrauen erhöht das „Systempotential für Komplexität“ und ermöglicht „ganz neue Arten von Handlungen“, schrieb der Soziologe Niklas Luhmann vor einem halben Jahrhundert (vgl. Luhmann 1973). Heute, in den krisengeplagten 2020er-Jahren, ist diese Erkenntnis wertvoller denn je. Für die Zukunft des Zusammenhalts und eine humane Gestaltung der vernetzten Realität brauchen wir deshalb keine digitalen Avatare. Sondern vor allem: mehr analogen Austausch, von Angesicht zu Angesicht.

Literatur

Agarwala, Anant und Scholz, Anna-Lena (2022): „Die Spaltung ist ein Angstszenario“. Interview mit Steffen Mau. In: Die Zeit 39/2022, S. 29

Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main

Becker, Alexander (2016): „Trump ist ein dunkler Twitter-Präsident“. Interview mit Jochen Wegner. In: meedia.de, 30.11.2016

Bisky, Jens (2022): „Die Welt ist bunter, als meist angenommen“. Interview mit Steffen Mau. In: soziopolis.de, 21.9.2022

Fischer, Pascal (2021): „Demokratie braucht Begegnung!“ Interview mit Reinald Manthe. In: deutschlandfunk.de, 11.4.2021

Kappacher, Stephanie (2022): „Das Gleichheitsversprechen der Demokratie läuft empirisch für sehr viele Menschen ins Leere“. Interview mit Naika Foroutan. In: soziopolis.de, 21.9.2022

Liebhart, Wibke (2022): „Polarisierung dient als Metapher, die Empirie ist in der Regel wesentlich komplexer“. Interview mit Paula-Irene Villa Braslavsky. In: soziopolis.de, 21.9.2022

Llanque, Morgane (2022): Diese ‚Engel‘ bringen linke und rechte Amerikaner:innen zusammen. In: perspective-daily.de, 3.9.2022

Luhmann, Niklas (1973): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart

Maxwill, Peter (2021): „Die Ära des Populismus ist vorbei. Sie geht in Demokratieverachtung über“. Interview mit Andreas Zick. In: spiegel.de, 16.1.2021

Nassehi, Armin (2021): Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. München

Rau, Jan Philipp und Stier, Sebastian (2022): Die Echokammer-Hypothese: Fragmentierung der Öffentlichkeit und politische Polarisierung durch digitale Medien? In: osf.io, 4.9.2022

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin

Schnabel, Ulrich (2022): Wenn es drauf ankommt. In: Die Zeit 39/2022, S. 27–28

Schuldt, Christian (2021): Ausweitung der Kontingenzzone. Beobachtungen der nächsten Gesellschaft. Hamburg

The Future:Project: Future:System. Transformation Beyond Megatrends. Frankfurt am Main 2023

Unfried, Peter (2019): „Ziele formulieren kann jeder“. Interview mit Armin Nassehi. In: taz.de, 15.6.12019

World Economic Forum (WEF) (2022): The Global Risk Report 2022. In: weforum.org, 01/2022

Yang, Xifan (2022): „Was haben wir gemeinsam?“ Interview mit Xiang Biao. In: Die Zeit, 14.7.2022, S.47

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