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Foto: Schub@: take a seat, read a book (CC BY-NC-SA 2.0)

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Martin Lätzel

Buchrezension: Renata Salecl: Die Tyrannei der Freiheit

Renata Salecl, Die Tyrannei der Freiheit. Warum es eine Zumutung ist, sich anhaltend entscheiden zu müssen. Karl Blessing Verlag: München 2014; 238 S.; 16,99 €

Unsere Zeit ist geprägt von dem hohen Gut freier Entscheidungen. Das ist zunächst einmal konsequent, beruht doch unsere Demokratie genau darauf, dass Freiheit ein Ergebnis freier Entscheidungen, näherhin einer Wahl zwischen unterschiedlichen politischen Richtungen ist. Dass die freie Entscheidung notwendig ist, wird mittlerweile in fast allen Bereichen des Lebens eingefordert, selbst Geburt und Tod stellen keine Grenzen mehr da. Es gibt nur noch wenige Tabus, die bisher unberührt blieben. Weiterhin aber gilt er paradigmatischem Satz Rosa Luxemburgs, dass nämlich meine Freiheit dort aufhört, wo deine Freiheit anfängt. Damit sind der Freiheit und auch möglichen Entscheidungen deutliche Grenzen gesetzt. Wie ist es also, wenn man das ganze Konzept freier Entscheidungen hinterfragt und zwar nicht deswegen, weil Neurobiologen eh daran zweifeln, ob unser Wille so frei ist, wie wir uns gerne suggerieren, sondern weil die Entscheidungsfreiheit auch Kehrseiten hat, die bisher vernachlässigt worden sind, aber gerade in einer sich in Transformation befindlichen Gesellschaft eine zunehmende Rolle spielen werden. Diesen Versuch unternimmt die slowenische Philosophin und Soziologin Renata Salecl mit ihrem Buch “Die Tyrannei der Freiheit. Warum es eine Zumutung ist, sich anhaltend entscheiden zu müssen”. Der Titel führt etwas in die Irre. Keineswegs will die Autorin vermitteln, dass wir einem zwanghaften Entscheidungswahn unterliegen, dem abzuhelfen am besten dadurch gelingt, die Hände in den Schoß zu legen und das Schicksal quasi von außen auf uns zukommen zu lassen. Sicher, ihr geht es um mehr Geduld und vielleicht auch hier und da um etwas mehr Demut angesichts der Ellenbogenmentalität, der wir tagtäglich ausgesetzt sind. Salecl geht es aber primär um den ganzen persönlichen Bereich, in dem sich das Individuum einem andauernden Anspruch ausgesetzt sieht, den Fortgang des Lebens quasi genauestens zu konfigurieren und zwar durch ständige Entscheidungen. Dazu gehören besonders der Bereich von Partnerschaft und Liebe, aber auch die Frage nach Familiengründung und Kindererziehung.

Die Autorin will Muster aufdecken, will deutlich machen, welche ökonomische Strategie dahinter steht, Menschen immer und überall zu insinuieren, sie müssten, nein, besser: sie könnten Entscheidungen treffen. Für Renata Salecl sind das Strukturen, die wirtschaftlich determiniert sind, denen sich die demokratische Gesellschaft eigentlich nicht unterwerfen sollte. Das ist nicht mit einem Plädoyer gegen Entscheidungsfreiheit verbunden, vielmehr mit einem Petitum für die wirklich wichtigen und richtigen Entscheidungen des Individuums und des Kollektivs, und die spielen sich auf den Feldern Solidarität, Verzicht und Innerlichkeit ab. Ihr geht es darum, dass gesellschaftliche Missstände aufgedeckt werden und nicht in den privaten Bereich verlagert werden – alle sehen toll aus, alle machen Karriere, nur ich, ich mach was falsch. Falsche Entscheidung? Oder falsche Ideologie? Paradox ist für die Autorin, „dass die Zwangseinstellungen, die von der spätkapitalistischen Ideologie promoviert werden, der freien Wahl in Wirklichkeit nur sehr wenig Raum lassen. Das äußerst kontrollierte, permanent wachsende Individuum, dem es vor Chaos graut und das beim Sterben versteinert, kann kaum Genuss aus seinen angeblich grenzenlosen Wahlmöglichkeiten beziehen. Es ist fest im Griff der Angst vor dem Versagen, der ‚ideale‘ Wähler zu sein.“ (186f). Davor will die Autorin bewahren.

Nun fragt man sich: Warum argumentieren gerade slowenische Philosophen immer mit den Theorien Jacques Lacans? Bei Salecl ist die Antwort einfach; sie war mit Slavoj Žižek verheiratet, dem derzeit rührigsten Interpreten Lacans. Der Franzose ist nun auch Kronzeuge der Thesen dieses Buches, besonders seine Ideen vom „großen Anderen“ als Ordnungsmacht. Aber zugegeben: Man braucht den französischen Psychoanalytiker nicht zu bemühen, um die Thesen Salecl nachzuvollziehen. Gerade weil unsere Zeit geprägt ist von dem hohen Gut der freien Entscheidungen, müssen wir umso mehr hinterfragen, ob das, was wir tun und wie wir es tun, das Richtige ist und ob nicht das, was uns als Freiheit und Entscheidung suggeriert wird, nicht in Wahrheit ferngesteuert ist und unfrei macht. Wir müssen – das ist das Fazit der Lektüre – uns also endlich entscheiden, wofür wir uns entscheiden.

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