012021

Foto: Schub@: take a seat, read a book (CC BY-NC-SA 2.0)

Service & Dialog

Frank Reintgen

Rezension: Benedikt Jürgens/Matthias Sellmann (Hg.): Wer entscheidet, wer was entscheidet?

Das vor kurzem von Benedikt Jürgens und Matthias Sellmann herausgegebene Buch “Wer entscheidet, wer was entscheidet? Zum Reformbedarf kirchlicher Führungspraxis” fällt mitten in eine Zeit schwerster Krise der katholischen Kirche. Nicht zuletzt wird in den vergangenen Jahren zunehmend insbesondere die kirchliche Entscheidungspraxis angefragt. So verstehen Jürgens und Sellmann ihr Buch als Beitrag zum synodalen Weg der deutschen Kirche, der als Reaktion auf die öffentlich gewordenen Missbrauchsverbrechen in der Katholischen Kirche initiiert wurde. Er zielt nicht zuletzt auch auf systemische Veränderung in der Kirche und fragt danach, wie sich kirchliche Strukturen ändern müssen, um künftigen (Macht-)Missbrauch zu verhindern.

Die Kirchenkrise, so die Gewissheit der Herausgeber, ist zugleich eine Führungskrise. Das sei besonders kritisch, weil Reformen epochalen Ausmaßes anstehen. Reformen aber sind Entscheidungen. Wenn die Entscheidungspraxis der Kirche sowohl bei den Kirchenmitgliedern selber als auch im gesellschaftlichen Umfeld unter massivem Legitimierungsdruck steht, gefährdet dies die anstehenden Transformationsprozesse. Die Frage “Wer entscheidet, wer was entscheidet?” wird so zu einer der zentralen Zukunftsfragen der katholischen Kirche.

Die Beiträge in dem von Jürgens und Sellmann herausgegebenen Band gehen zurück auf den Arbeitskreis “Führen und Entscheiden in der Katholischen Kirche” der katholischen-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, der vom Lehrstuhl für Pastoraltheologie und dem “Zentrum für angewandte Pastoralforschung” (zap) initiiert wurde. Im Arbeitskreis arbeiteten Vertreterinnen bzw. Vertreter unterschiedlicher theologischer Disziplinen interdisziplinär zusammen. 2019 wurden im Arbeitskreis erarbeitete Thesen einem größeren und öffentlichen Publikum vorgestellt. Die überarbeiteten Thesen bilden den Kern des vorliegenden Buches. Aus verschiedenen theologischen Disziplinen wird das kirchliche Führungsthema ausgeleuchtet und die aktuelle kirchliche Entscheidungspraxis kritisch hinterfragt.

Kirchliche Entscheidungspraxis steht … gesellschaftlich unter enormem Legitimierungsdruck.

Die Beiträge zeigen überdeutlich: Das aktuell wirksame kirchliche Führungskonzept und die damit verbundene kirchliche Entscheidungspraxis stecken in der Krise. Die Entscheidungspraxis der katholischen Kirche, wie sie sich heute ausgeprägt hat, steht in doppelter Hinsicht unter Druck. Aus dem Inneren heraus wird mit Verweis auf die biblischen Quellen theologisch kritisch hinterfragt, wie faktisch in Kirche Entscheidungsprozesse laufen. Darüber hinaus weicht kirchliche Entscheidungspraxis stark von allgemein gültigen gesellschaftlichen Standards ab. Kirchliche Entscheidungspraxis steht somit auch gesellschaftlich unter enormem Legitimierungsdruck.

Die Beiträge des Bandes und ihre Lösungsvorschläge kommen vor allem aus der intensiven Reflexion der eigenen kirchlichen Tradition und bezeugen somit eine Innensicht. Die aktuelle, reale kirchliche Entscheidungspraxis wird in Beziehung zum eigenen Anspruch, zu ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Praktiken gesetzt. Auf diese Weise wird der Reformbedarf aber auch das Reformpotential sichtbar gemacht.

Das Buch ist unterteilt in fünf Kapitel, die jeweils markieren, aus welcher Perspektive der Reformbedarf kirchlicher Führungspraxis untersucht wird:

  1. philosophisch
  2. biblisch theologisch
  3. historisch theologisch
  4. systematisch theologisch
  5. praktisch theologisch

Die im Band präsentierten Antworten und Optionen … weisen … eindringlich darauf hin, wie groß der Reformbedarf bzw. -druck auch im Hinblick auf die kirchliche Entscheidungspraxis ist.

Abgerundet wird der Band durch eine die Beiträge auswertende, praktisch-theologische Reflexion. Auf Grundlage dieser Reflexion entwickeln die Herausgeber eine “Kriteriologie einer praktischen Theologie kirchlichen Entscheidens” und nennen dreizehn Kriterien, an denen sich kirchliches Führen und Entscheiden messen lassen sollte:
  1. Inspirierte Legitimität
  2. Inklusion moderner Wertestandards
  3. Aktives Lernen
  4. Freisetzung neuer Potentiale
  5. Transparenz
  6. Verbindliche und verlässliche Prozesse
  7. Balancierte Symbolizität
  8. Partizipation
  9. Gewaltenteilung und -kontrolle
  10. Strukturell geregelte Selbstbegrenzung
  11. Kollegialität
  12. Ethos und Habitus
  13. Professionalität

Ohne auf alle Beiträge eingehen zu können, sollen im Folgenden einige Beiträge besonders hervorgehoben werden.

  • Katharina Pyschny verdeutlicht an drei ausgewählten biblischen Perikopen des Alten Testaments, welche Ressource von Denkmöglichkeiten und Handlungsoptionen in Führungsfragen alttestamentarische Texte liefern. Das überrascht und irritiert. Das nach wie vor gängige Klischee einer streng-hierarchisch geprägten Kultur bekommt hier wertvolle Ergänzungen. Pyschny stellt fest, dass in den biblischen Texten Führung bleibend angefragt ist und das diskursive Moment wesentlich zum Volk Gottes auf seinem Weg ins verheißene Land dazu gehöre.
  • Georg Essen weist im Rückgriff auf das geschichtswissenschaftliche Konzept “Invention of Tradition” auf eine paradoxe Situation hin. Im 19. Jahrhundert fand, so Essen, im amtlichen Kirchenverständnis ein Traditionsbruch statt, der eine veränderte Kirche hervorgebracht hat, die in ihrer Selbstbeschreibung proklamiert, Hüterin der Tradition zu sein. Im 19. und 20. Jahrhundert habe eine Entwicklung stattgefunden, die die römisch-katholische Kirche normativ, das heißt dogmatisch, rechtlich und ekklesiologisch, in eine Hermetik geführt hat, aus der, so Essen, kein Ausweg mehr möglich sei. Sein Beitrag ernüchtert, weil er die Größe der Herausforderung deutlich macht. Er weist auf, an welcher Stelle systemisch gesehen der Hebel anzusetzen wäre. Substantielle Veränderung sei nur möglich, wenn sich das kirchliche Selbstverständnis radikal ändert, und dieses veränderte Selbstverständnis zu einer veränderten Dogmatik und einem veränderten Kirchenrecht führt.
  • Böntert widmet sich der Liturgie und sieht sie als Brennpunkt von Leitung in der Kirche. Er weist darauf hin, dass bei jeder liturgischen Feier ein Bild von Macht in der Kirche zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig normativ proklamiert wird. Er lenkt damit den Blick auf ein Thema, das zu selten im Kontext von Kirchenreform im Blick ist. Die Bedeutung der Liturgie in den Prozessen des Umdenkens und Neuformulierens von Leitung und die Wirkkraft von Ritualen wird oft unterschätzt. An einigen Beispielen weist Böntert nach, wie aktuelle liturgische Vorschriften dazu führen, dass in der  Liturgie ein bestimmtes Kirchenverständnis inszeniert, gestärkt und verfestigt wird.

Es ist eine ebenso kritische wie notwendige Frage, mit der Benedikt Jürgens und Matthias Sellmann das von Ihnen herausgegebene Buch betitelt haben: “Wer entscheidet, wer was entscheidet?”. Die im Band präsentierten Antworten und Optionen sind eindeutig und weisen (nochmals) eindringlich darauf hin, wie groß der Reformbedarf bzw. -druck auch im Hinblick auf die kirchliche Entscheidungspraxis ist. Zudem verdeutlichen die vielen Artikel in ihrer unterschiedlichen Perspektive, welches Potential der Rückgriff auf die biblische Botschaft und die zweitausendjährige Glaubenstradition der Kirche bietet, um Kirche nachhaltig so zu verändern, dass sie ihrer Sendung treu bleiben kann.

Ein Buch, dem man wünscht, dass es gerade auch von denen gelesen wird, die entscheiden, wer was entscheidet!

Benedikt Jürgens/Matthias Sellmann (Hg.): Wer entscheidet, wer was entscheidet? Zum Reformbedarf kirchlicher Führungspraxis, Freiburg 2020

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