022022

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Praxis

Andreas Fritsch

Alles wird sich ändern, wenn wir groß sind … Vom Erwachsenwerden in einer Kirche des Umbruchs

Ausgangslage

Die Kirche in Deutschland befindet sich in einem rasanten Veränderungsprozess. Die Phänomene, an denen dies sichtbar wird, sind allgemein bekannt und bedürfen in kirchennahen Kreisen kaum einer vertiefenden Darstellung: ein sich beschleunigender gesellschaftlicher Relevanzverlust, ein Glaubwürdigkeitsverlust durch den nicht enden wollenden Missbrauchsskandal, die enorme Anzahl an Kirchenaustritten, eine als nicht mehr zeitgemäß geltende kirchliche Sexualmoral mit den sich hieraus ergebenden Verwerfungen, die u.a. die Aktion OutinChurch eindringlich sichtbar gemacht hat etc.

Wie geht es hierbei eigentlich denjenigen, die in der Kirche bleiben und sogar hauptberuflich in ihr tätig sind? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich nur einige wenige persönliche Schlaglichter beitragen können und auch diese werden angesichts der Kürze des Beitrags sowie der Komplexität heutiger kirchlicher Realität nur holzschnittartig die Situation beschreiben können. Hierbei beschränke ich mich auf die Gruppe der so genannten hauptberuflichen pastoralen Mitarbeiter*innen (Priester, Gemeindereferent*innen, Pastoralreferent*innen) aus der ich selbst komme und mit der ich mich von daher besonders verbunden fühle.

Ist es wirklich so, dass sich Kirche in Auflösung befindet, wie es der Titel des diesjährigen Strategiekongresses formuliert? Dann müssen sich ja auch die Rollen, Stellenbeschreibungen, Selbstverständnisse und Erwartungen an hauptberufliches pastorales Personal in Auflösung befinden. Diesem Gedanken folgend werde ich versuchen, die Situation Hauptberuflicher in Kirche zu reflektieren und Ansätze für die professionelle Zukunft kirchlicher Mitarbeiter*innen zu beschreiben. Die Zeiten des Umbruchs bieten meiner Ansicht nach vor allem eine Chance: endlich erwachsen zu werden.

Blick in den Rückspiegel

Um zu verstehen, in welcher Situation sich viele hauptberufliche Mitarbeiter*innen befinden, lohnt ein Blick zurück, um zu sehen, aus welcher Zeit wir kommen und was unsere Realität maßgeblich geprägt hat.

Ist es wirklich so, dass sich Kirche in Auflösung befindet, wie es der Titel des diesjährigen Strategiekongresses formuliert?

Viele sind, so wie ich auch, in der Kirche Johannes Paul II. und Benedikt XVI. groß geworden und durch diese geprägt. Diese kirchenpolitische Epoche von 1978-2013 war in der Frage kirchlicher Veränderung und deren weltkirchlicher Durchsetzung geprägt von kirchlicher Sanktionierung, Definition von korrektem und angemessenem Verhalten sowie der Stärkung der Zentrale in Rom. Bezogen auf das Selbstverständnis und die Rollenzuschreibung für pastorale Laien sind mir Ereignisse und Entscheidungen haften geblieben: Wie z.B. das Predigtverbot für Laien bestärkt und ihnen stattdessen eine Statio vor Beginn der eigentlichen Liturgie eingeräumt wird, es für wiederverheiratete Geschiedene im kirchlichen Dienst unmöglich war, weiterhin tätig zu sein, die Diskussion um das Priestertum der Frau für beendet erklärt wurde, Kolleg*innen zu einer schnellen kirchlichen Trauung nach der standesamtlichen Hochzeit gedrängt wurden und homosexuelle Kolleg:innen aus Angst vor Repressionen Kirche als Arbeitgeber verlassen haben.

Gleichzeitig hat sich die Zahl der Gemeindereferent*innen und Pastoralreferent*innen in derselben Zeitphase signifikant erhöht, ihr Berufsbild hat sich weiter professionalisiert und die Möglichkeiten des beruflichen Einsatzes haben sich wesentlich erweitert. Diese Gemengelage hat über viele Jahre das Handeln hauptberuflicher Laien geprägt. Für viele war es das Gebot der Stunde, möglichst nicht aufzufallen, abweichendes Verhalten nur in ausgesuchten Situationen zu zeigen und sich eines Umfeldes zu vergewissern, in dem zumindest in Ansätzen die Freiheit des Denkens gelebt werden konnte.

Was ist heute anders?

Diese Epoche ist unwiderruflich vorbei. Angesichts einer sich rasant verändernden Wirklichkeit verändern sich auch Diskurs- und Freiheitsräume für kirchliche Mitarbeitende. Veränderte Partizipationserwartungen tragen hierzu ebenso bei wie die Unmittelbarkeit des Diskurses, wie er in den sozialen Medien erfahrbar ist. Neue Formen der digitalen wie auch physischen Vernetzung (lokal, regional, global) ermöglichen Austausch, Selbstvergewisserung und Kampagnenfähigkeit. In diesen Diskursen erleben sich Mitarbeitende als selbstwirksam und selbstmächtig.

Es wird Zeit einzustehen, dass dieses Ende nun erreicht ist und zum anderen damit auch ein bestimmtes Bild von Hauptberuflichkeit in Kirche an sein Ende kommt.

Gleichzeitig artikulieren auch Leitungsverantwortliche in Kirche immer stärker die Notwendigkeit grundlegender kirchlicher Reformen und werden, zumindest zum Teil inhaltlich wie auch zeitlich befristet, zu Verbündeten pastoraler Laienberufe. Allen gemeinsam ist die große Ratlosigkeit, wie sich Kirche in Deutschland auf Zukunft hin weiterentwickelt und welche Rolle hierin Amtsträger, Leitungsverantwortliche und alle pastoralen Dienste haben werden. Bezogen auf die Zukunft der Kirche wird seit ca. 15 Jahren, z.B. durch den damaligen Bischof von Essen und heutigen Bischof von Münster Felix Genn konstatiert: Eine bestimmte Sozialgestalt von Kirche ist an ihr Ende gekommen. Es wird Zeit einzustehen, dass dieses Ende nun erreicht ist und zum anderen damit auch ein bestimmtes Bild von Hauptberuflichkeit in Kirche an sein Ende kommt.

Pubertät

Mir kommt bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit des hauptberuflichen pastoralen Personals gelegentlich das Bild der Pubertät in den Kopf. Wie bei pubertierenden Jugendlichen schwanken die Verhaltensmuster sehr stark zwischen Resignation, Rebellion, Aktionismus und Rückzug ohne das für Außenstehende ohne weiteres erkennbar wäre, warum wann welches Reaktionsmuster vorherrscht.

De facto können heute pastorale Mitarbeitende weitestgehend machen, was sie wollen. Sie initiieren neue pastorale Projekte, vernetzen sich mit Gleichgesinnten, gestalten z.B. die Katechese zusammen mit freiwillig Engagierten neu und entwickeln Angebote in neuen pastoralen Handlungsfeldern. Sie konzentrieren sich z.B. nur auf die Kür und verweigern die Pflicht, sie halten sich nur dann an Vorgaben, wenn sie ihnen nützen, ignorieren Ansprüche der Christen in ihrem Verantwortungsbereich, verwirklichen sich in pastoralen Nischen, verweigern die Auseinandersetzung mit dem Thema Qualität ihrer Arbeit und stellen kirchliche Glaubensinhalte auch öffentlich schonungslos in Frage. Sie erfüllen treu ihren Dienst, machen um ihre Arbeit wenig Aufhebens und sind als Seelsorger*innen nah bei den Menschen.

De facto können heute pastorale Mitarbeitende weitestgehend machen, was sie wollen.

Parallel gibt es auch bei pastoralen Mitarbeiter*innen den Wunsch nach Anerkennung ihrer Arbeit und Person sowohl individuell durch Verantwortungsträger aber auch systemisch im Wunsch nach Anerkennung als bedeutende Akteure pastoraler, seelsorglicher Professionalität. Eine Veranstaltung erfährt dann eben doch dadurch Anerkennung und Aufwertung, dass der Bischof dabei ist. Und ich erlebe mich in meiner Professionalität z.B. besonders geschätzt, wenn mir zugetraut wird, ein großes diözesanes Projekt zu verantworten.

Erwachsenwerden

Es wird Zeit, auch als Berufsgruppen der pastoralen Laien erwachsen zu werden. Erfahrungsgemäß nimmt hierbei die Akzeptanz der eigenen Person sowie der Realität eine entscheidende Rolle ein.

Die zentralen Aspekte in der Wahrnehmung der Wirklichkeit sind meiner Ansicht nach folgende:

  • Die Einführung neuer Berufsgruppen hauptberuflicher Laien im pastoralen Dienst hat zu einer weiteren Differenzierung und Ausgestaltung theologischer Berufe und Berufungen, Qualifikationen und Berufsprofilen geführt.
  • Die Kehrseite ist, dass heutzutage viele Aufgaben und Zuständigkeiten bei Hauptberuflichen liegen, die ihnen entweder von Christ*innen übertragen oder die sie sich genommen haben. Hauptberuflichkeit verhindert bzw. verunmöglicht so auch freiwilliges Engagement in Kirche.
  • Die Zahl der Berufungen zum Priestertum sinkt seit Jahrzehnten und hat vielerorts den viel zitierten Nullpunkt erreicht. Dies gilt in ähnlichem Maße für den Nachwuchs bei Gemeindereferent*innen und Pastoralreferent*innen. Die Konsequenz wird sein, dass die Kirche in Deutschland zukünftig nicht mehr maßgeblich eine Kirche der Hauptberuflichen sein wird. Es wird große pastorale Räume geben, in denen nur noch sehr wenige Hauptberufliche (Priester wie Laien) ihren Dienst tun.
  • Für hauptberufliche Laien gilt vergleichbar wie für Priester, dass die Besinnung auf die Charismen, die Menschen von Gott geschenkt sind, leider erst dann ins Bewusstsein dringt, wenn es zu massivem hauptberuflichem Personalmangel kommt.
  • Die Professionalität hauptberuflicher pastoraler Mitarbeiter*innen ist Fluch und Segen zugleich. In gleichem Maße, wie diese einer gut gestalteten pastoralen Arbeit und somit den Menschen und ihrem Leben dient, führt sie auch dazu, dass den Laien die Kompetenz in Fragen des Glaubens abgesprochen und ihre Lebens- wie Glaubenserfahrung zu wenig wahrgenommen, geschätzt und akzeptiert wird.
  • Eine nicht geringe Zahl an hauptberuflichen pastoralen Mitarbeiter*innen überschätzt die Qualität, spirituelle Tiefe und fachliche Kompetenz ihrer Arbeit. Echtem beruflichen Wettbewerb auf dem freien Arbeitsmarkt würden viele nicht standhalten.
  • Viele Mitarbeitende haben kein geklärtes Verhältnis zum Thema Loyalität gegenüber der Kirche und dem konkreten Bistum, in dem sie tätig sind, im Gegenteil: Illoyalität verschafft und erfährt Anerkennung.

Tippingpoint

Aktuell wird beim Thema der beschleunigten Veränderungsdynamik in Kirche davon gesprochen, dass womöglich ein Kipppunkt erreicht ist, der eine Steuerung dieses Veränderungsprozesses unmöglich macht und unweigerlich zum Ende der Kirche führt, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten gewohnt waren.
Ich möchte abweichend hierzu einen Gedanken einbringen, auf den mich der britische Autor Malcolm Gladwell mit seinem wunderbaren Buch „Tippingpoint. Wie kleine Dinge Großes bewirken können“ (Goldmann Verlag. 5. Auflage 2016) aufmerksam gemacht hat.

Tippingpoints sind einflussbare Stellschrauben, an denen ich bewusst eine (auch positive) Veränderung herbeiführen kann.

Kipppunkte z.B. im Kontext des Klimawandels beschreiben den Moment, in dem bestimmte Entwicklungen irreversibel werden und die Welt unwiderruflich eine andere sein wird. Kipppunkte beschreiben sozusagen die Schwelle, an der sich alles entscheidet.
Tippingpoints hingegen sind einflussbare Stellschrauben, an denen ich bewusst eine (auch positive) Veränderung herbeiführen kann. Sie zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus, die der Logik von Epidemien entsprechen: Sie sind ansteckend, kleine Ursachen können große Wirkungen haben und sie lösen exponentielle Veränderungsprozesse aus.

Drei Regeln der Epidemie sind nach Gladwell bedeutsam:

  1. Das Gesetz der Wenigen, mit denen Veränderungsprozesse beginnen.
  2. Die Verankerung einer Botschaft, die durch einfache Veränderungen in der Präsentation und Struktur von Informationen gelingt.
  3. Die Macht der Umstände, die über Möglichkeiten und Willen zur Veränderung entscheiden.

Tippingpoints lassen sich, wenn man die Logik von Epidemien verstanden hat kreieren, um ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher werden zu lassen. „Letztlich sind die Tippingpoints eine Bestätigung des Potenzials zur Veränderung und der Kraft intelligenten Handelns. Sehen Sie sich die Welt um sich herum an. Sie mag als unbeweglich und unnachgiebig erscheinen. Sie ist es nicht. Mit dem kleinsten Anstoß kann man sie – wenn man den richtigen Punkt findet – kippen.“ (Gladwell, Seite 301)

Was könnten solche Tippingpoints in Kirche sein oder gibt es sie womöglich schon längst?

Veränderungsschritte mit Potenzial

Wenn die dargestellte Diagnose stimmt, ergeben sich mögliche Ansätze für verändertes Handeln und veränderte Rollendefinitionen von pastoralen Mitarbeiter*innen in einer Kirche des Umbruchs.

  • Wenn es das Gebot der Stunde ist, endlich erwachsen zu werden, dann ist für mich ein Ausgangspunkt weiterer Überlegungen die Anerkennung des Knowhows zum Thema Führen, Leiten, Personalgewinnung und -entwicklung, Aus- und Fortbildung, Rollenklärung und Stellenprofil etc. in nichtkirchlichen Kontexten. Die Wahrnehmung der Erkenntnisse anderer Disziplinen, Wissenschaften und Forschungseinrichtungen ist dann nicht nur nice-to-have, sondern ein must-have in Kirche!
  • Die Zeit der Lippenbekenntnisse ist unwiderruflich vorbei. Hauptberufliche erwarten heute Partizipationsformen und -möglichkeiten, echte Entscheidungsräume, Geschlechtergerechtigkeit, Begegnung auf Augenhöhe und Freiheit im gemeinsamen Diskurs. Diese Ansprüche sind in einer freiheitlichen Demokratie nicht verhandelbar – auch nicht in Kirche. Personalverantwortliche stehen damit u.a. vor der Herausforderung klären zu müssen, wie sie diesen Prinzipien Geltung verschaffen und wie sie mit Mitarbeitenden umgehen, die diesem Anspruch nicht gerecht werden. Bräuchte es nicht z.B. auch den Mut, sich dann von Mitarbeitenden zu trennen?

Hauptberufliche erwarten heute Partizipationsformen und -möglichkeiten, echte Entscheidungsräume, Geschlechtergerechtigkeit, Begegnung auf Augenhöhe und Freiheit im gemeinsamen Diskurs. Diese Ansprüche sind in einer freiheitlichen Demokratie nicht verhandelbar – auch nicht in Kirche.

  • Transformation ist das Gebot der Stunde. Hierzu bedarf es eines größeren (auch externen, siehe den ersten Spiegelstrich) Knowhows. Es braucht jetzt Programme, in denen Personen als Transformationsmanager*innen ausgebildet und befähigt werden, um als Letzte ihrer Art den Übergang hin zu einer Kirche des Volkes Gottes aktiv zu gestalten. Pro Pfarrei/pastoraler Raum wäre eine Person (besser noch ein Team) zu identifizieren, deren Kernaufgabe darin besteht, diesen Übergang verantwortlich zu begleiten.
  • Es bedarf einer Auseinandersetzung darüber, was Loyalität in Kirche bedeutet und zwar jenseits der Diskurse, die bezogen auf die Überarbeitung der kirchlichen Grundordnung derzeit geführt werden. Hier geht es meiner Ansicht nach vor allem um Haltungsfragen: Können Menschen an meiner Art, wie ich mein Leben gestalte, wie ich in Konfliktsituationen handle, wie ich mit Menschen umgehe, die anderer Meinung sind als ich etc. erfahren, dass ich mich bemühe, mein Leben und damit auch meine Hauptberuflichkeit im Geiste Jesu zu gestalten? Diese Klärung gilt gleichermaßen für Mitarbeitende wie für Führungskräfte und Amtsträger.
  • Der Fachkräftemangel wird sich auch im Kontext hauptberuflicher pastoraler Mitarbeiter*innen weiter verschärfen. Eine Konsequenz ist bereits heute, dass wir nicht nur Spitzenpersonal in Führungsverantwortung haben. Eine systematische Förderung und Qualifizierung von Führungskräftenachwuchs tut daher not.
  • Es ist in der Forschung unbestritten, dass Frauen in Führungspositionen einen Unterschied machen. Daher gilt kurz und knapp: Fähige Frauen an die Macht!

Die Pubertät ist bekanntermaßen eine, zum Glück für viele Eltern, zwar anstrengende aber auch glücklicherweise endende Phase. Im Idealfall finden Eltern und Kinder wieder neu zusammen. Und irgendwann gründen die Kinder ihren eigenen Hausstand. Es liegt in der Verantwortung aller Beteiligten dafür Sorge zu tragen, ob sie auch zukünftig noch gerne nach Hause zurückkehren und ob die Eltern ihre Rolle neu definieren. Die Entscheidung ist derzeit offen!

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