022020

Foto: Jon Flobrant/Unsplash

Konzept

Hubertus Schönemann

Lebenswende und Sakrament

Oder: Wie kann Kirche junge Menschen an ihrem Ort der (religiösen) Identitätsfindung abholen und begleiten?

Dieser Beitrag reflektiert das Verhältnis von Lebenswendefeiern und sakramentaler Firmung von Jugendlichen in Ostdeutschland und nimmt dies zum Anlass, für eine Durchlässigkeit bestimmter „Laufbahnen“ zu werben und grundsätzlich den jeweiligen Ort auf dem Weg der Identitätsentwicklung, auch der religiösen, für die Gestaltung von rituellen Feiern als pastorale Chance zu gestalten. Letztlich geht es darum, die jungen Menschen selbst als religiöse Subjekte ernst zu nehmen und katechetische Wege (im weitesten Sinne) und deren Prozesse und Feiern auf dem Weg stärker an den tatsächlichen Erwartungen und am Selbstbild der jungen Menschen zu orientieren.

Die Feier der Lebenswende als Ausgangspunkt

Der Ausgangspunkt meiner Fragestellung ist das Angebot von Lebenswendefeiern für nicht getaufte Jugendliche, wie sie mehrheitlich im Osten Deutschlands kirchlicherseits angeboten werden. Sie finden im Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter (14 Jahre) statt und werden in einigen Regionen stark nachgefragt. Sie verstehen sich als kirchliche Alternative zur sonst üblichen Jugendweihe im Sinne einer „christlichen Hilfe zur Sinnfindung für Ungetaufte“, so der Initiator, des heutigen Erfurter Weihbischofs Reinhard Hauke. Er entwickelte 1998 für Schüler/innen des so genannten „Grundkurses“ für konfessionsfreie Schüler/innen der katholisch getragenen Edith-Stein-Schule in Erfurt, bevor sie sich für evangelischen oder katholischen Religionsunterricht entscheiden sollen, das Angebot der Lebenswendefeier im Erfurter Dom.

Man mag den Initiatoren für die damalige Zeit unterstellen, dass diese Feier wohl anfänglich als Erstverkündigung gedacht war, in der Hoffnung, dass hier ein Weg zum Christwerden und zur Taufe eröffnet würde. Diese Hoffnung hat sich – das haben die darauffolgenden Jahre gezeigt – mehrheitlich nicht erfüllt. Die Taufe und ein weiterer sakramentaler Weg in der Kirche werden in der Regel nicht intendiert, wohl aber die Lebenswendefeier selbst als deutendes Zeichen, und das sehr beständig. Die Gespräche des Autors mit aktuellen lokalen Anbietern von Jugendweihefeiern (z. B. https://jugendweihe-erfurt-ev.de/) zeigten, dass dort eine gewisse „Verschnupftheit“ ob der kirchlichen „Konkurrenz“ besteht: Die katholische Kirche habe ohne Kontaktaufnahme mit den Jugendweiheverbänden von ihnen „abgekupfert“. Die evangelische Kirche hat nach anfänglicher Kritik und Zögern ebenfalls vielerorts eine entsprechende Praxis aufgenommen. Derzeit „boomt“ die Lebenswendefeier als ökumenisches Angebot besonders in Halle an der dortigen Moritzkirche mit ca. 600 Jugendlichen jährlich.

Warum kann es nicht möglich sein, dass in Einzelfällen Getaufte auch an der Lebenswendefeier teilnehmen, wenn ihnen diese im Augenblick stimmiger erscheint?

Der äußere Anlass, an den ich diese Überlegungen anhänge, ist die Tatsache, dass immer wieder vereinzelt Jugendliche, die zwar getauft wurden und „zur Erstkommunion gegangen sind“, als Jugendliche nicht zur Firmung gehen wollen, sondern die Lebenswendefeier besuchen wollen. Im Bistum Erfurt ist das derzeit nicht möglich. Die Getauften sollen zur Erstkommunion und zur Firmung gehen, die Nicht-Getauften zur Lebenswendefeier. Das System ist nur in einer Richtung durchlässig, nicht in der anderen. Gespräche mit Verantwortlichen brachten mich zu meiner These, die ich hier darlegen will: Warum kann es nicht möglich sein, dass in Einzelfällen Getaufte auch an der Lebenswendefeier teilnehmen, wenn ihnen diese im Augenblick stimmiger erscheint? Oder mehr noch: Könnte nicht mit einer teilweisen Verzahnung der beiden „Laufbahnen“ ein Dialog über Sinn des Lebens sowie Glaube und Weltanschauung entstehen, der Getaufte und Nicht-Getaufte in einer Weise zusammenführt, die beide bereichern kann und dazu beiträgt, den je eigenen religiös-weltanschaulichen Standpunkt zu überprüfen und bewusst einzunehmen? Letzten Endes geht es doch grundsätzlich um die Frage, wie und mit welchen Prozessen und Zeichen die Kirche Menschen an der Stelle begleiten kann, an der sie sich in ihrer (religiösen) Identitätsfindung befinden, und sie darin bestärken und unterstützen kann.

Jugendweihe – Jugendfeier – Lebenswende. Ein kurzer Exkurs

Jugendweihe und Lebenswendefeier finden sich im Kontext Ostdeutschlands. Dennoch bin ich der Auffassung, dass die hier angeführten Überlegungen auch für den gesellschaftlich-kirchlichen Kontext im Bereich der so genannten „Alten Bundesrepublik“ Bedeutung haben, aber dazu später.

Die Jugendweihe wurde schon früh (erstmals 1852 im thüringischen Nordhausen) durch freireligiöse Gemeinden und Freidenkerverbände als oppositionelle Alternative zu kirchlichen Feiern für junge Leute entwickelt, die sich keiner Kirche zugehörig fühlten. Über den Umweg der Arbeiterbewegung wurde die Jugendweihe allerdings erst in den 50er-Jahren auf Drängen der Sowjetunion in der DDR eingeführt. Sie galt als staatlich getragenes Element der marxistisch-leninistischen Erziehung der Jugend auf dem Weg zum sozialistischen Menschen. Insofern wurde sie von der DDR staatssozialistisch benutzt und politisch instrumentalisiert. Aus dieser Zeit stammt die auch heute noch bei vielen Gläubigen und Priestern in Ostdeutschland vorhandene Auffassung, ein katholischer Christ dürfe nicht zur Jugendweihe gehen. Man müsse sich entscheiden, ob man sich zur Kirche oder zum sozialistischen Staat halte. Offenbar zu stark scheinen immer noch die Nachwirkungen der DDR, in der es eine „Glaubensfrage“ war, ob jemand die kirchlichen Feiern mitvollzog und sich dann – je nach den örtlichen Gegebenheiten – oftmals bewusst in Kauf genommene Nachteile im gesellschaftlichen Fortkommen einhandelte (kein Studienplatz etc.), oder ob jemand den „sozialistischen Weg“ mitging. Oftmals wurde auch beides parallel vollzogen. Der kirchliche Impuls jedoch, sich zu entscheiden, war auf dem Hintergrund des Bekenntnisinteresses immens.

Mehr oder weniger weltanschaulich neutral erweist sich die Jugendweihe aber dennoch als „säkulare“ Alternative zu kirchlichen Feiern der Kommunion/Firmung und Konfirmation.

Nach 1989/90 haben sich – wohl mehr aus der Erwägung, dass die Jugendweihe doch so schön und für einen selbst so wichtig war – unter Anknüpfung an die freidenkerische Tradition der Jugendweihe diverse lokale Jugendweihevereine gebildet, die in Landesverbänden und bundesweit zusammengeschlossen sind. Sie und andere kommerzielle Anbieter, z. B. Gastronomen, bieten Jugendweihefeiern und Vorbereitungswege dazu an. Die Jugendweihe ist also kein geschützter Begriff. Die Szene zeigt sich heute vielfältig und in der Regel ohne die sozialistische Ideologie, allerdings ist bei den Anbietern manchmal eine Verharmlosung der sozialistischen „Inanspruchnahme“ und die These vom „Missbrauch“ der freidenkerischen Jugendweihe durch die DDR zu beobachten. Mehr oder weniger weltanschaulich neutral erweist sich die Jugendweihe aber dennoch als „säkulare“ Alternative zu kirchlichen Feiern der Kommunion/Firmung und Konfirmation. Insofern ist z. B. beim Verein Jugendweihe Deutschland e. V. oder beim Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) eine klare atheistische Prägung der Jugendlichen ein deutliches Ziel, auch wenn man sich weltanschaulich tolerant gibt.

Nach einem Zwischentief nach der Wiedervereinigung stiegen die Zahlen der Jugendweihen in Deutschland bis auf ca. 96.000 (2000) an, um dann um die Jahre 2008/09 auf einen Wert von ca. 25.000 jährlich herabzusinken. Seit 2013 sind sie wieder leicht angestiegen auf derzeit ca. 33.000 (2019). Soweit die eigenen Zahlen von Jugendweihe Deutschland e. V. Immer noch zeigt sich die Jugendweihe in den östlichen Bundesländern weithin als das „normale“, jahrgangsweise über die Schule vermittelte Ritual des Erwachsenenwerdens. Weil die Eltern die Jugendweihe in der DDR „gemacht“ haben, machen das auch die heutigen Jugendlichen mit einer hohen Plausibilität. In den Grußkartenständern in ostdeutschen Städten sind wesentlich mehr Glückwunschkarten für Jugendweihe in der Auswahl als für Konfirmation und Kommunion/Firmung. In den westlichen Bundesändern hatte und hat die humanistische Jugendfeier – angesichts der volkskirchlich angebotenen und gesellschaftlich immer noch weithin als „ungefragte plausible Normalität“ („Es gehört irgendwie dazu“) verstandenen kirchlichen Sakramentenfeiern – nur eine geringe Relevanz.

Kirchlich gestaltete Lebenswende als Alternative

In dieser Gemengelage wird für die vorliegende Thematik mehreres deutlich: Zunächst stellt sich die kirchlich veranstaltete Lebenswende für manche als ein Anbieter von „Jugendweihe“ unter anderen dar, der das aber in beeindruckend-fremden sakralen Räumlichkeiten, z. B. dem Erfurter Dom, in einem besonders feierlichen Rahmen bieten kann. In Gesprächen zeigt sich aber auch, dass manche Jugendliche und deren Familien sehr bewusst die Lebenswende statt einer säkularen Jugendweihe intendieren, womöglich, weil sie über eine kirchliche Schule bereits einen kirchlichen Kontakt haben.

Die Feier zeigt sich also als eine Form selbstloser kirchlicher Ritendiakonie an Nicht-Glaubenden.

Die Lebenswendefeier ist nach eigenen Angaben ein „offenes Angebot für Jugendliche der 8. Klasse“, das „die katholische Kirche (z. T. gemeinsam mit der evangelischen Kirche) jungen Menschen mit der Feier zur Lebenswende“ macht, indem sie „sowohl den Raum für Begegnung und Gespräche als auch die abschließende Feier zum Übergang von der Kindheit zur Jugend“ anbietet (www.lebenswendefeier.de). Und weiter: „Als Kirche sehen wir eine Verantwortung, jungen Leuten in der besonderen Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein eine sinnvolle Begleitung anzubieten, damit die Heranwachsenden mit ihren eigenen Anliegen vorkommen und diese vor dem Hintergrund unseres Glaubens an den Gott des Lebens wertgeschätzt werden können. In dieser Weise fließt unsere christliche Überzeugung und damit die biblische Überlieferung mit ein, die wir nicht ausklammern können und wollen. Die Tatsache, dass junge Leute in den Gruppen keiner Kirche angehören, wird aber von uns respektiert und ernst genommen.“ Die Feier zeigt sich also als eine Form selbstloser kirchlicher Ritendiakonie an Nicht-Glaubenden.

So zeige sich, dass die Kirche hier und auf anderen Feldern Riten entwickele, die „Sensibilität für den religiös-weltanschaulichen Pluralismus zeigen.”

Es geht an dieser Stelle nicht darum, die Lebenswendefeier pastoraltheologisch zu reflektieren, das ist bereits an vielen Stellen geschehen (Griese 2000; Hauke 2000; Stutzenberger 2001; Kranemann 2011; Sander 2013; Štica 2013; Handke 2016). Beispielhaft sei die Aussage des Erfurter Liturgiewissenschaftlers Benedikt Kranemann angeführt, der es begrüßt, dass Kirche einen „rituellen Raum schafft, in dem sich Menschen angesichts einer Lebenssituation, die sie als für sich wesentlich wahrnehmen, über Fragen des Lebenssinnes und der Hoffnung für die Welt austauschen.“ So zeige sich, dass die Kirche hier und auf anderen Feldern Riten entwickele, die „Sensibilität für den religiös-weltanschaulichen Pluralismus zeigen.“ (Kranemann 2016).

Teilnahme von Getauften an der Lebenswendefeier

Ich komme nun zurück zu meiner Ausgangsfrage, ob es nicht sinnvoll sei, dass auch getaufte Jugendliche an der Lebenswendefeier teilnehmen können.
Meine ursprüngliche Idee war, getaufte und nicht getaufte Jugendliche gemeinsam zu einem anfänglich gemeinsamen Weg, z. B. einem persönlichkeitsorientierten Kurs (POK) oder zu einem gemeinsamen Prozess einzuladen, in dem die Jugendlichen selbst, ihre Identität mit ihren Stärken und Lernfeldern, ihre Wünsche und Hoffnungen an das Leben zur Sprache kommen können. In der Regel findet dies in den Kursmaterialien zur Firmung auch in ähnlicher Weise statt. Der Identitätskurs könnte mit dem Angebot einer rituellen Feier besiegelt werden. Diese könnten diejenigen mitvollziehen, die als Nicht-Getaufte das Übergangsritual der Lebenswende intendieren, diejenigen Getauften, die sich bewusst gegen (oder noch nicht) für einen weiteren Weg zur Firmung entscheiden, sowie diejenigen, die zum Firmsakrament weitergehen möchten. Sie können diese Feier als Segnung (analog zu den Stationen des Katechumenates) verstehen. Im weiteren Verlauf könnte sich dann mit ihnen eine engere Vorbereitung auf die Feier der Firmung anschließen.

Möglicherweise leuchtete dann für die Firmung stärker als bisher die sakramentale Dimension auf, dass nämlich die Glaubenden von Christus her gestärkt werden für einen christlichen Lebensentwurf. Vielleicht würde diese Praxis eine mehr oder weniger verantwortete und bewusste Entscheidung für den christlichen Weg ermöglichen, jenseits von gesellschaftlichen und kirchlichen „Selbstverständlichkeiten“, die dann vom Übergangsritual als rite de passage aufgenommen wären.

Eine solche Praxis böte die Möglichkeit, Verbindungen zu schaffen und Kommunikation zu ermöglichen zwischen Menschen unterschiedlicher religiös-weltanschaulicher Standpunkte (bei den Jugendlichen selbst und ihren Begleiter/innen), die sich gegenseitig befruchten könnten im Suchen und Ringen nach Deutungskategorien, die sich im Spannungsfeld von vielfältigen religiös-christlichen, säkularen oder anders-weltanschaulichen Perspektiven ergeben. Ebenso darin, einen je eigenen Standpunkt einnehmen und verantwortlich vertreten zu können, dabei sich jeweils vom anderen her positiv herausfordern lassen, um das Eigene klarer zu erkennen und die eigene Perspektive ggf. revidieren oder verändern zu können. Eine solche Praxis nähme den jeweiligen von den Betroffenen selbst eingenommenen Standpunkt im Glauben bzw. in der Weltanschauung ernst und versuchte, ein entsprechendes Gestaltungselement anzubieten.

Ich bleibe jedoch dabei, gemeinsame Phasen oder eine Verzahnung der Wege von getauften und nicht getauften Jugendlichen bzw. die Möglichkeit, die Wege durchlässiger zu gestalten, vorzuschlagen.

Von dieser ursprünglichen Idee gemeinsamer Prozesse der Vorbereitung auf Lebenswende und Firmung bin ich mittlerweile abgerückt. Nach Gesprächen mit Verantwortlichen der Lebenswendefeiern, denen es darum geht, die konfessionsfreien Jugendlichen nicht zu verzwecken oder unter Druck zu setzen, oder ein Zweiklassensystem einzuführen, habe ich Abstand von dieser anfänglichen Idee genommen; die Kritik leuchtet mir ein. Ich bleibe jedoch dabei, gemeinsame Phasen oder eine Verzahnung der Wege von getauften und nicht getauften Jugendlichen bzw. die Möglichkeit, die Wege durchlässiger zu gestalten, vorzuschlagen.

Denn: Gesellschaftliche Plausibilitäten und sozial stützende (oder auch bindende) Faktoren für die Teilnahme an den Sakramentenfeiern haben immer weniger Relevanz (z. B. die Selbstverständlichkeit, es gehöre einfach dazu, die Plausibilität des Festes, die Aussicht auf Geld und Geschenke, der Wunsch der Eltern oder Großeltern, …). Zum anderen kann es nur immer mehr darum gehen, Freiheit zu geben und dazu zu begleiten, unterschiedliche Wege zu gehen, den Weg, der für mich derzeit richtig erscheint. Die jungen Menschen sollten von der Kirche darin unterstützt werden, für sich eine Entscheidung zu treffen, die ihrem Glaubensweg oder ihrem Ort im Glauben und in der Kirche entspricht. Das hieße ein Ernstnehmen der jeweiligen Glaubensbiografie, die trotz erfolgter Kindertaufe nicht eindimensional selbstverständlich und automatisch ins „Sammeln“ von kirchlichen Sakramenten geht.

Zum anderen kann es nur immer mehr darum gehen, Freiheit zu geben und dazu zu begleiten, unterschiedliche Wege zu gehen, den Weg, der für mich derzeit richtig erscheint.

Feiern des Lebens könnten als „ritueller Zwischenraum“ zur Verlebendigung einer im weitesten Sinne als Katechese verstandenen Wegbegleitung junger Menschen verstanden und erfahren werden. In den ehrenamtlich engagierten Begleiterinnen und deren hauptberuflichen Begleiter/innen könnte Kirche als Kirche des Willkommens erlebt werden, die als Begleiterin Räume eröffnet, um sich selbst, das Leben und verschiedene weltanschauliche Standpunkte kennen zu lernen.

Ein Dialog des Lebens über Sinn, Identität und Hoffnung

Ein Dialog des Lebens über Sinn, Identität und Hoffnung findet in der Regel zwischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden nicht statt. Vielmehr zeigen sich jeweils Eigendynamiken und -perspektiven, die in der „Blase“ oft genug im abgrenzenden Gegenüber zum jeweils anderen Entwurf als Vorurteile verstärkt werden. Das Angebot eines „katechumenal“ begleiteten Prozessweges, der neben den „klassischen“ Sakramenten auch andere Feierformen kennt, könnte möglicherweise tatsächlich Prozesse der kerygmatischen Erstverkündigung (vgl. Direktorium für die Katechese) in Gang setzen. Papst Franziskus ermutigt in seiner Verkündigung dazu, als Kirche das Gespräch mit den Menschen guten Willens zu suchen (vgl. Laudato sì und Fratelli tutti). Gaudium et spes spricht davon, dass die Glaubenden auch von den Nicht-Glaubenden lernen können (GS 44).

Ich kenne einen Aha-Effekt, ein positives Erstaunen darüber, dass in der Kirche Raum für das konstruktiv-kritische und freimütig-offene Gespräch über christlichen Lebensentwurf sowie über säkulare Lebensperspektiven gegeben wird.

Ich verstehe die Sorge der Verantwortlichen, dass manche Getauften sich möglicherweise nicht für den weiteren Weg zu den Sakramenten entscheiden. Es scheint mir aber ehrlicher, das freizugeben, als dass man ihnen den anderen Weg nicht ermöglicht und sie somit dazu nötigt, entweder die Sakramente ohne innere Beteiligung mitzuvollziehen, oder ihnen gar nichts anbietet. Ich meine, mein Vorschlag beinhaltet eine größere Ehrlichkeit und größere Selbstverantwortung der jungen Menschen, in der Hoffnung, dass durch ein solch begleitendes Ernstnehmen auch ihr Verhältnis zum christlichen Glaubenszeugnis und zu den Vollzügen der Glaubensgemeinschaft positiv beeinflusst werden könnte. Aus meinen eigenen Gesprächserfahrungen zwischen Glaubenden und Agnostikern/Atheisten in meinem Umfeld kenne ich einen Aha-Effekt, ein positives Erstaunen darüber, dass in der Kirche Raum für das konstruktiv-kritische und freimütig-offene Gespräch über christlichen Lebensentwurf sowie über säkulare Lebensperspektiven gegeben wird.
Ich werbe für ein pastorales Profil, das zur Entscheidung hinführt und unterschiedliche Wege zulässt, Vielfalt und Verschiedenheit als Bereicherung versteht, die sich gegenseitig befruchten können. Ich werbe für das Zulassen von Differenz und für den Verzicht auf Vereinnahmung und auf implizite Nötigung zur „Unehrlichkeit“. Rituale, auch die sakramentalen, sind um der Menschen willen da. Sie feiern und performieren das, was von der Beziehung Gottes zum Menschen und der Beziehung des Menschen zu Gott sinnvoll und „ehrlich“ ist. Sakramente ihrerseits setzen den Glauben voraus, sie nähren ihn und zeigen ihn an. Mein Vorschlag beinhaltet jedenfalls, den jeweiligen Ort ernst zu nehmen, an dem sich die jungen Menschen in der Entwicklung ihrer (religiösen) Identität selbst sehen. Das gilt nicht nur für die konfessionsfreien, sondern auch für die getauften Jugendlichen, die auf ihre Weise auf dem Weg des Glaubens sind. Es kann nicht um eine traditionell vorgegebene sakramentale „Laufbahn“ oder um ein selbstverständliches „Sammeln“ von Sakramenten gehen, sondern um den bewussten Mitvollzug dessen, was die jungen Menschen in der eigenen Lebensgeschichte und ihrer Sinndeutung selbst aufnehmen und gestalten.

Ich werbe für ein pastorales Profil, das zur Entscheidung hinführt und unterschiedliche Wege zulässt, Vielfalt und Verschiedenheit als Bereicherung versteht, die sich gegenseitig befruchten können.

Auch wenn im sogenannten Westen Deutschlands die konfessionell-kirchliche Selbstverständlichkeit immer noch relativ hoch scheint: Konfessionslosigkeit wächst auch in den westlichen Bereichen, ebenso sinkt die Plausibilität der kirchlichen Feiern. Oft fungieren auch hier gerade Taufe, Erstkommunion, Firmung bei vielen als selbstverständliche Übergangsrituale, die nicht unbedingt mit einem reflektierten Glauben oder einer bewusst eingegangenen Kirchlichkeit verbunden und intendiert werden. Während die Erstkommunion im Alter von 8 Jahren in der Regel noch als Familienfest „mitgenommen“ und groß gefeiert wird, zeigt sich bei der Firmung, je nachdem, in welchem Alter und mit welcher Entscheidungsfreiheit die jungen Menschen angesprochen werden, dass die Selbstverständlichkeit abnimmt. Und viele Jugendliche, die die Feiern „mitmachen“, sagen deutlich, dass sie einen Glauben an Gott bzw. einen christlichen Lebensentwurf nicht unbedingt intendieren.
Und schließlich ein Letztes: Alle religionssoziologischen Studien zeigen auf, dass der postmoderne Mensch als „Pilger oder Konvertit“ (Danièle Hervieu-Léger) oder als „spiritueller Wanderer“ (Winfried Gebhardt) ein mehr oder weniger autonomes und verantwortliches Subjekt seiner eigenen Religiosität ist, bzw. seines eigenen Suchens nach Sinn und Deutung der Erfahrungen seines Lebens.

Ich werbe für das Zulassen von Differenz und für den Verzicht auf Vereinnahmung und auf implizite Nötigung zur „Unehrlichkeit“. Rituale, auch die sakramentalen, sind um der Menschen willen da.

Ritualform und Zugehörigkeit nicht fest zusammenzubinden, heißt, den Unterschied zwischen believing und belonging ernstzunehmen. Dies zu akzeptieren ermöglichte in neuer Weise, einen christlichen Lebensstil als Option vorzuschlagen, der aber von den Jugendlichen in den begleitenden Erwachsenen oder jugendlichen Teamern aber auch erlebt werden muss. Und trotzdem: Jenseits von Erstverkündigungsprozessen ist es auch ein Wert an sich, den je eigenen Standpunkt zu suchen, zu finden und zu festigen und die Gemeinschaft der Kirche darin als Begleiterin und Dienstleisterin in Anspruch zu nehmen.
Ich bin mir bewusst, dass dieser Vorschlag aus verschiedenen Gründen Widerspruch herausfordern wird. Ich ermutige dennoch und gerade deshalb dazu, einen konstruktiven Dialog dazu zu führen und freue mich über Ihre qualifizierte und konstruktive Rückmeldung. Man müsste darüber diskutieren. Schreiben Sie mir Ihre Meinung!

Literatur:

  • Griese, Hartmut M., (Hg.), Übergangsrituale im Jugendalter. Jugendweihe, Konfirmation, Firmung und Alternativen, Positionen und Perspektiven am “runden Tisch”, Münster 2000.
  • Handke, Emilia, Religiöse Jugendfeiern »zwischen Kirche und anderer Welt«. Eine historische, systematische und empirische Studie über kirchlich (mit)verantwortete Alternativen zur Jugendweihe (Arbeiten zur Praktischen Theologie, Band 65), Leipzig 2016.
  • Hauke, Reinhard, Die Feier der Lebenswende. Eine christliche Hilfe zur Sinnfindung für Ungetaufte, in: Benedikt Kranemann – Eduard Nagel – Elmar Nübold (Hg.), Gott feiern in nachchristlicher Gesellschaft. Die missionarische Dimension der Liturgie, Stuttgart 2000, 32–48.
  • Kranemann, Benedikt, Rituale in Diasporasituationen. Neue Formen kirchlichen Handelns in säkularer Gesellschaft, in: Stefan Böntert (Hg.), Objektive Feier und subjektiver Glaube? Beiträge zum Verhältnis von Liturgie und Spiritualität (Studien zur Pastoralliturgie 32), Regensburg 2011, 253–273.
  • Kranemann, Benedikt, Was leisten Lebenswendefeiern, das Konfirmation und Jugendweihe nicht können? Wortmelder, Forschungs-Blog der Universität Erfurt 2016. https://www.uni-erfurt.de/en/forschung/aktuelles/forschungsblog-wortmelder/nachgefragt-was-leisten-lebenswendefeiern-das-konfirmation-und-jugendweihe-nicht-koennen-herr-prof-kranemann (abgerufen am 4.11.2020)
  • Sander, Hans-Joachim, Weniger ist mehr und Gott steckt in den Details. Der Gottesraum in Lebenswenden und seine urbane Feier, in: Theologie der Gegenwart 56 (2013), 272–287.
  • Schatzler, Stephan, Riten und Rituale der Postmoderne. Am Beispiel des Bistums Erfurt, Hamburg 2013.
  • Schwarzmüller, Konstantin, Neue religiöse Riten in der katholischen Diaspora am Beispiel der Feier der Lebenswende. Nordhausen 2011.
  • Štica, Petr, Die Lebenswendefeier in sozialethischer Perspektive, in: Theologie der Gegenwart 56 (2013), 288–298.
  • Stutzenberger, Markus, Pastoralliturgische Innovation im Osten Deutschlands, Die “Feier der Lebenswende” im Bistum Erfurt als rite de passage ungetaufter Jugendlicher im Vergleich mit profanen, kirchlichen und sakramentalen Feierformen, Diplomarbeit 2001.

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