022020

Foto: Arno Senoner/Unsplash

Konzept

Michael David

Authentizität im Kleinen als Chance für das große Ganze

Download | Sprecher: Uli Keip

Die Rahmenbedingungen von Kirche in Deutschland haben sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Eine respektierte und in der Gesellschaft verankerte Institution und Gemeinschaft hat in der modernen Gesellschaft wahrhaft den Boden unter den Füßen verloren. Das Auftreten und die Akzeptanz im Rahmen der Corona-Pandemie hat den scheinbaren Relevanzverlust in der öffentlichen Wahrnehmung noch einmal deutlich vor Augen geführt.

Menschen wenden sich von Kirche ab, weil Sie keine Relevanz mehr erkennen können…

Kirche projiziert dabei ganz unterschiedliche Eindrücke und Bilder, je nach Perspektive. Die Institution selbst scheint sich zudem in unseren Breiten – wenn man nur einen Blick in den medialen Resonanzraum wirft – extrem von der Basis abgekoppelt zu haben. Jedoch rumort es auch an der Basis innerhalb der Gemeinden vor Ort. Unterschiedliche Strömungen suchen nach individuellen Ausdrucksformen, und ein konsistentes Bild ist für das „Außen“ nicht immer erkennbar. Im „Außen“ verlässt man sich dann der Einfachheit halber auf das medial geprägte Bild von Kirche – nicht unbedingt zum Vorteil der Gemeinde vor Ort. Menschen wenden sich ab, weil Sie keine Relevanz mehr erkennen können und derzeit auch „andere Sorgen“ haben. Interessant. Ist das nicht eigentlich die Kernkompetenz von Kirche und Gemeinde, auf diese Sorgen eine beziehungsreiche Antwort geben zu können? Wo liegt dann jedoch die Zukunft? Wie und wo kann eine authentische Kirche entstehen, die sich Ihrer Identität bewusst ist? Darauf muss Kirche im Großen und Kleinen dringend eine Antwort finden.

Die Schwelle als Chance begreifen

Die Situation der Krise bedeutet immer auch eine Chance.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Situation der Krise immer auch eine Chance bedeutet, da mehr oder weniger akuter Handlungsdruck entsteht. Und wenn man nicht unbedingt eine substanzielle Krise erkennen mag – folgt man der Argumentation einzelner Kirchenvertreter – dann doch wenigstens folgendes: Wenn wir beispielsweise als Beratungsunternehmen Organisationen oder Wirtschaftsunternehmen unterstützen, dann befinden sich diese häufig in Schwellensituationen. Es geht zum Beispiel um Wachstum und darum, neue Märkte zu erschließen. Oder um Nachfolge im Unternehmen, wo das gute Alte mit dem dynamischen Neuen in Verbindung gebracht werden muss, um Kontinuität zu erzeugen. Ohne dabei dem Neuen die Luft zum Atmen zu nehmen. Oder es geht darum, dass die äußeren Rahmenbedingungen sich derart verändert haben, dass man als Organisation oder Unternehmen wieder zu sich selbst finden muss, um mit neuer Kraft und neuem Selbstbewusstsein in die Zukunft zu starten.

Es ist dabei essenziell, dass so ein neues Selbstbewusstsein maximal authentisch gelebt und von möglichst vielen in der Organisation mitgetragen werden kann. Das klingt doch ein wenig nach der Situation von Kirche und Gemeinde, auch wenn der Leistungs- und Handlungskontext ein anderer sein mag. Die Mechanismen sind jedoch im Kern dieselben.

Echt gute Beziehungen zu Menschen entwickeln

Warum ist es so wichtig, authentisch zu sein? Vor einigen Jahren hätte man das vielleicht als idealistisches Wunschbild bewertet, weil man sich manchmal doch wohl auch etwas verbiegen können muss, um seine Ziele zu erreichen oder die Fassade aufrecht zu erhalten.

Kirche ist sehr häufig noch im alten Muster der Fassadenerhaltung verhaftet.

Aber genau hier liegt das Problem, ganz unabhängig von einer moralischen Bewertung: in der modernen Welt mit einer nahezu totalen Transparenz, Interaktion und Echtzeit-Kommunikation werden Fassaden schneller eingerissen, als man sie auch nur zu errichten im Stande wäre. Und Kirche ist sehr häufig noch im alten Muster der Fassadenerhaltung verhaftet.

Um eine echte und gute Beziehung zu Menschen aufzubauen, braucht es jedoch ebenso echte Vertrauenswürdigkeit. Und die Basis von Vertrauenswürdigkeit entsteht über drei Schritte: Zunächst einmal benötigt es Aufmerksamkeit für das, was ich bin, anzubieten habe oder leiste. Diese Aufmerksamkeit muss im zweiten Schritt bedeutsam sein. Es muss Menschen betreffen und sie müssen sich ehrlich angesprochen fühlen. Im dritten Schritt geht es darum, Glaubwürdigkeit zu erleben. Stimmen mein Handeln und Reden mit dem überein, was ich vorher aufmerksamkeitsstark verkündet habe? Erst dann kann Vertrauenswürdigkeit und eine vertrauensvolle Beziehung entstehen1. Wird einer der drei ersten Schritte nicht ausreichend berücksichtigt, wird es schwierig. Und am stärksten hat Kirche anscheinend mit der Glaubwürdigkeit zu kämpfen.

Kommen wir noch einmal auf die Fassade zu sprechen. Die Haltung in Kirchenkreisen scheint häufig: Es kann einfach nicht sein, was aufgrund bestehender Glaubenssätze und Dogmen nicht sein darf. Diese Haltung allein, ohne glaubwürdiges, konsequentes und konsistentes Handeln, funktioniert in der modernen Gesellschaft fernab eines volkskirchlichen Konsens einfach nicht mehr. Zum Glück. Sie wird zum nachhaltigen Problem, wenn die Erfahrungen und Erlebnisse der Menschen die Glaubwürdigkeit der Glaubenssätze im Kern erschüttern. Glaubwürdigkeit ist im Kontext von Kirche essenziell. Die Frage ist nun, wo und wann Institutionen und die Menschen darin als glaubwürdig erachtet werden können. Die Antwort ist so einfach wie plausibel: wenn sie authentisch kommunizieren, authentisch sind und sein dürfen. Im Alltag an der Basis, grundsätzlich in der Leitungsebene.

Das Erlebnis ist relevant und echte Erlebnisse entstehen vor Ort

Authentizität betrifft zunächst einmal jeden Einzelnen in einem System. In erster Linie – vor allem im Hinblick auf alltägliche Erfahrungen – wird sie vor Ort erlebbar. Hier besteht die große Chance der Gemeinde als kleinste Organisationseinheit. Die Chance, dass christlicher Glaube, christlicher Wertekanon und Kirche für die Menschen positiv erlebbar wird. Und nur hier ist es für die Menschen tatsächlich relevant. In ihrem Alltag, in den alltäglichen Herausforderungen mit Sorgen, Wünschen und Bedürfnissen.

Authentizität gelingt in einer Gruppe nur, wenn es sich um eine sehr konsistente Gruppe handelt oder wenn es genügend Freiraum innerhalb definierter Rahmenparameter gibt.

Authentizität gelingt in einer Gruppe nur, wenn es sich um eine sehr konsistente Gruppe handelt oder wenn es genügend Freiraum innerhalb definierter Rahmenparameter gibt, in denen jedes Gruppenmitglied authentisch bleiben darf und kann. Kann dies im Rahmen von Kirche und Gemeinde gelingen? – Ja, aber nicht mit einem strikten oder nahezu bürokratisch anmutenden Regelwerk, sondern anhand wohlwollender Leitplanken. Bestenfalls sind eine Gemeinde und jedes Gemeindemitglied maximal selbstwirksam im Sinne des „großen Ganzen“. Für diese Art von Selbstwirksamkeit benötigt man in erster Linie Orientierung und ein starkes Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft.

Leitplanken für die Praxis

Kirche ist großartig darin, auf der Meta-Ebene zu kommunizieren und dabei leider die Menschen in ihrem Alltag aus dem Blick zu verlieren.

Kirche ist großartig darin, auf der Meta-Ebene zu kommunizieren und dabei leider die Menschen in ihrem Alltag aus dem Blick zu verlieren. In der Theorie alles sehr korrekt und wohl formuliert – oft auch weihevoll. Für die Praxis ist dies allerdings nur sehr bedingt tauglich, weil es nicht die Sprache der Menschen spricht und sich so nicht im Denken und Handeln verankern kann. Es werden eher auf das Wesentliche reduzierte Formen der Orientierung benötigt. Keine Lehrschreiben, keine Leitbilder, sondern einfache und kraftvolle Leitworte und Botschaften. Für ein Unternehmen reichen zum Beispiel tatsächlich vier solcher Leitworte, wenn sie verständlich und mit „Bodenhaftung“ formuliert sind. Kirche würde diese Reduktion auf das Wesentliche und eine Rückkehr zur einfachen Sprache guttun. Dies unterstützt das Verständnis und abgeleitete Handlungsprozesse deutlich, und somit kann und wird insgesamt mehr Wirkung entfaltet.

Zentral ist dabei die Erkenntnis über den eigentlichen Antrieb und seine Formulierung. Manche sprechen hier auch vom Sinn oder „Why“.2 Das Wort „Antrieb“ bringt es jedoch eher auf den Punkt und forciert ein nachgelagertes Handeln. Der Antrieb steht im Zentrum und bildet die Grundlage für den Zusammenhalt und die Ausrichtung. Er sollte übergreifend formuliert sein und kann durchaus in unterschiedlichen Organisationseinheiten, z. B. in der Gemeinde vor Ort, mit einem „lokalen Dialekt“ versehen werden. Dieser Dialekt darf dem zentralen Antrieb jedoch nicht entgegenstehen, sondern muss ihn zwingend befördern oder maximal sinnvoll feinjustieren. Ein Antrieb sollte zudem nicht ziellos formuliert sein. Es benötigt auch immer einen Zweck, eine Ausrichtung, ein Ergebnis, welches mit der Kraft des Antriebs verfolgt wird. Damit dieser so beschriebene Kern plausibel wird und im Leben eine konkrete Resonanz erfahren kann.

Antrieb, Zweck und Attribute müssen so definiert sein, dass für jede Ebene und jeden Einzelnen in der Organisation Luft zum Atmen bleibt.

Neben Antrieb und Zweck dienen drei weitere Attribute dazu, die Sprachfähigkeit und praktische Ausrichtung im Handeln zu konkretisieren – quasi als drei Säulen, die den Kern stützen. Über diese Säulen lässt sich dann alles Handeln und jede Kommunikation kanalisieren. Wichtig ist jedoch folgendes: Antrieb, Zweck und Attribute müssen so definiert sein, dass für jede Ebene und jeden Einzelnen in der Organisation Luft zum Atmen bleibt. Das klingt zunächst wieder einmal sehr plausibel und einfach. Allerdings ist es nicht ganz so trivial. Die Herausforderung besteht im Prozess, die Dinge punktgenau zu verdichten. Zur Erinnerung: Es geht um die Definition von kurzen Aussagen oder Botschaften, nicht um lange Sätze, Lehrschreiben, Pastoralpläne und Leitbilder.

Auch für Kirche eine wertvolle Option.

Die Erfahrung mit Unternehmen und Organisationen zeigt, dass ein solcher Ansatz auf Dauer trägt und energetisiert, über die gesamte Organisation hinweg, von der Führungsebene bis hin zu den Mitarbeitenden, die an der Basis sehr oft die meisten und eindrücklichsten Erlebnisse mit dem „Außen“ erzeugen und so die Unternehmensmarke prägen. Das scheint sich doch mit etwas gutem Willen auch auf die kirchlichen Strukturen projizieren zu lassen. Nicht ohne Anstrengung, nicht ohne Kreativität, jedoch im Sinne des „großen Ganzen“. Mit maximaler Orientierung, Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit für jeden Einzelnen. Nur so kann ein authentisches, konsistentes und beziehungsorientiertes Selbstbewusstsein in bestem christlichen Sinne entstehen – für die Gemeinde vor Ort und die Kirche insgesamt.

  1. vgl. Michael Buttgereit: „Leuchttürme bauen“, Schlaue Bücher Verlag, 2015
  2. vgl. Simon Sinek: „Start with why“, Penguin LCC US, 2011

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