012020

Foto: Grant Whitty/Unsplash

Konzept

Hans-Joachim Sander

Jetzt trennt sich auf, was nicht mehr zusammen gehört

Warum weniger katholisch mehr Katholizität ist

Die Krisenzeit, in der sich die katholische Kirche befindet, begann im Wendejahr 1979. Seither ging es darum, dass man keine Angst haben soll, katholisch zu sein. Allerdings gab es damals schon und gibt es bis heute beängstigende katholische Zustände, die nun mittlerweile an das Lebenselexier des katholischen Glaubens gehen (Klerikalismus, selbstherrliche Finanzen, sexueller Missbrauch, Frauenausgrenzung). Alle Versuche, irgendwie alles in ihr zu halten, was sich davon so alles in ihr findet, führt in eine Messie-Theologie und zu einer Kirche, die nicht einzuräumen bereit ist, was unvermeidlich ist, weil sie nicht ausräumen will, was längst hätte weggeschafft werden müssen.

Papst als Symbol der Einheit

Vielfalt, Pluralität und Differenz haben soweit Sinn, wie sie das Papst-Integral nicht antasten, sondern sichtbar ausdrücken.

Im katholischen Glaubensuniversum war die Frage nach Einheit über Jahrhunderte relativ einfach zu beantworten. Sie ist der Papst; er macht sie sichtbar. Sichtbare Einheit war das Rückgrat der kirchlichen Staatswerdung nach der Reformation als ‚societas perfecta supernaturalis‘. Die Theorie hat Robert Bellarmin geliefert und die vielen loci theologici der Renaissancetheologie auf den einen Ort Papst reduziert. Er schuf damit das Herz der Kontroverstheologie. Protestantisch ist keine derart sichtbare Lokalisierbarkeit gegeben; ein Buch liefert das nicht, was den Papst zum Ausweis katholischer Stärke machte.

Das Denken gibt es bis heute. Ohne sichtbare Einheit gelten politische Parteien, Mannschaften im Profi-Sport, globale Konzerne, Musikfestivals als nicht fähig zum Erfolg, gleich wie die Akteure innerlich dazu stehen. Im Papst kulminiert das politisch-kirchlich und insbesondere für den katholischen Glauben. Das Papsttum garantiert Einheit durch die von ihm – wenn nötig auch infallibel – sichtbar zu definierende Doktrin des Glaubens, so das Erste Vatikanische Konzil 1870. Der Papst profitiert dabei von der Indefektibilität der Wahrheit des Glaubens; seine Definitionen müssen sie sichtbar machen. Damit war die gallikanische Version einer zwischengelagerten regionalisierbaren Einheit ausgeschaltet, für die es in Frankreich keine sichtbare Festlegung im Glauben ohne Zustimmung von König, Bischöfen und Parlamenten geben konnte.

Die regionale Pluralisierung eines sichtbaren Glaubens war damit katholisch vorbei; ein sozial und kulturell homogenes Milieu trat an ihre Stelle. Vielfalt, Pluralität und Differenz haben soweit Sinn, wie sie das Papst-Integral nicht antasten, sondern sichtbar ausdrücken. Im Abwehrkampf gegen den sog. Modernismus wurde das schlagend. Jede moderne Ausdifferenzierung und Subjektivierung von Glauben wurde katholisch bekämpft. Im politischen Bereich wurden damit sogar autoritäre Regimes akzeptiert, weil sie sich mit der katholischen vera religio verbanden.

Symbolisch verschiebt sich damit die Einheit vom Papst auf die Menschheit, in deren prekären Lagen Menschen um die Anerkennung ihrer Würde ringen müssen.

Menschheit als Fokus der Einheit

Die symbolische Welt dieser auf sich selbst bezogenen katholischen Einheit ist gescheitert. Das geschah nicht durch einen modernen Ausdifferenzierungsdruck, sondern durch die selbst induzierte Globalisierung durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965). Mit der Kuba-Krise und der Ermordung von John F. Kennedy gehört es zu den Frühformen der Globalisierung. Symbolisch verschiebt sich damit die Einheit vom Papst auf die Menschheit, in deren prekären Lagen Menschen um die Anerkennung ihrer Würde ringen müssen. Das nennt dieses Konzil Zeichen der Zeit; deren Deutung geht der jeweils möglichen Glaubensbestimmung voraus. Das mutet ihr eine Identifizierung mit diesen Menschen zu. Diese nun sehr andere Katholizität von Einheit ist nur mit Respekt vor Vielfalt, Pluralität und Ausdifferenzierung möglich: „Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“ (Gaudium et spes 3) Mit ‚Mensch‘ wird keine metaphysische Metapher bemüht, sondern eine Metonymie für die Solidarität der katholisch Glaubenden mit „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (Gaudium et spes 1) eingerichtet. Das steigert die Komplexität der katholischen Einheit erheblich; die katholische Doktrin muss nun ihrerseits diese Einheit sichtbar machen.

In diesem komplexeren Rahmen haben Papst und Papsttum weiterhin eine sehr wichtige Einheitsfunktion. Sie werden zu global identifizierbaren Aktivposten, um die Identifizierung des eigenen Glaubens mit der jeweils zeitgenössischen Menschheit politisch und ökumenisch, aber auch interreligiös und interkulturell zum Ausdruck zu bringen. Das ist offenkundig gelungen. Das Papsttum hat seit den 1960er Jahren einen Distinktionsgewinn durch die Globalisierung erfahren, wie man an den Päpsten Johannes Paul II und Franziskus leicht nachvollziehen kann. Päpste machen wie nur wenige andere Amts- und Funktionsträger die Unvermeidlichkeit sichtbar, warum Menschen angesichts der gefährlichen Problemlagen des Planeten sich global nicht ausweichen können. Sie agieren als Mahner für eine integrale Weiterentwicklung humaner Lebensverhältnisse.

Wir erfahren in dieser Pandemie eine global fast gleichzeitig ablaufende Krise, die Ungleichheit und Uneinigkeit befördert, je länger sie dauert.

Tribalisierung nach innen und Abschottung nach außen

Das symbolische Kapital dieser Einheit mit der jeweils zeitgenössischen Menschheit erfährt aber seit einiger Zeit eine gravierende Deflation. Die innerkirchlichen Kosten, diese Einheit auch zu erreichen, führen nicht dazu, außerkirchlich jene Gewinne zu erzielen, welche die Menschheitseinheit und der pastorale Dienst der Kirche daran versprachen. Dafür gibt es einen zivilisatorischen und einen kirchlichen Grund. Den ersten macht die Corona-Pandemie nun anschaulich. Der zweite ergibt sich aus der Glaubwürdigkeitskrise aufgrund des sexuellen Missbrauchs durch das priesterliche Führungspersonal der Kirche.

Die Corona-Pandemie hat sich zu einer Krise entwickelt, welche alle Bevölkerungen auf dem Planeten politisch, wirtschaftlich und existentiell trifft und nun möglicherweise gravierende gesellschaftliche Veränderungen anstößt. Der Vernetzungsgrad der Menschheit ist heute höher als jemals zuvor und zugleich treibt das die Bevölkerungen in dieser Zivilisation auseinander. Überall wird händeringend nach Antworten gesucht, wie die Krise zu bewältigen ist, aber zugleich zeigt sich, wie unterschiedlich gut die verschiedenen Gesellschaften reagieren. Es kommt zu Aufstieg oder Abstieg ganzer Nationen in einer Geschwindigkeit, die ihresgleichen sucht.

Die gemeinsam unentrinnbare Krisenerfahrung bringt also weder Gleichheit noch Einheit mit sich, obwohl eine globale Einigkeit darüber besteht, massiv betroffen zu sein. Die Krise hat weltweit nationale Grenzschließungen mit sich gebracht, regionale Egoismen wider alle Freundschaftsbeteuerungen befeuert und selbst verliebten Populismus weiter angestachelt. Das hat sich noch nicht zu einer Melange verdichtet, um die eine universale Humanität der letzten siebzig Jahren explodieren zu lassen. Aber es wäre fahrlässig, diese Gefahr für die weitere Zukunft auszuschließen. Wir erfahren in dieser Pandemie eine global fast gleichzeitig ablaufende Krise, die Ungleichheit und Uneinigkeit befördert, je länger sie dauert. Die Ansteckungszahlen treten wie ein Medaillenspiegel auf, dessen Bedeutung aber ungleich höher ist als auf der Olympiade. Diese Ausdifferenzierung lässt befürchten, wie egozentrisch mit einem möglichen Impfstoff umgegangen wird, wenn er zur Verfügung steht. Die Einigkeit der Krise und die gespaltene Einheit der Menschheit treten gleichzeitig auf.

In allen großen Religionsgemeinschaften beginnt (…) ein ähnlicher Strategiewechsel zur Moderne. Man steht gegen ihre Relativierungen, aber nutzt ihre globalen kommunikativen Möglichkeiten, um sich dabei in sich selbst zu stabilisieren.

Fast spiegelbildlich dazu verhält es sich mit der Krise der katholischen Kirche, deren Vorlauf im Wendejahr 1979 beginnt, also kurz nachdem Karol Wojtyla Papst wurde. In allen großen Religionsgemeinschaften beginnt nicht abgesprochen ein ähnlicher Strategiewechsel zur Moderne. Man steht gegen ihre Relativierungen, aber nutzt ihre globalen kommunikativen Möglichkeiten, um sich dabei in sich selbst zu stabilisieren. Niemand solle Angst haben, katholisch zu sein und das öffentlich zu zeigen, so Johannes Paul II in seiner ersten Predigt. So weit, so gut. Aber das hat eine prekäre Konsequenz im Fall des jahrzehntelangen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester.

In dessen Skandale gerät dieses Pontifikat auf globaler Ebene spätestens 2002, als das Rechercheteam spotlight des Boston Globe die massiven Vertuschungen des Missbrauchs in der lokalen Erzdiözese öffentlich machte. Diese Krise ist keine Pandemie, aber offenbar ähnlich ansteckend; mittlerweile ist die ganze katholische Weltkirche davon betroffen. Keine Region ist ausgenommen und die Enthüllungen reißen nicht ab. Wenn man auf die strukturellen Erscheinungen der Krise schaut, kann man darin fast so etwas wie eine ungewollte Avantgarde erkennen. An dem, was der katholischen Kirche durch die tiefste Krise geschieht, die sie seit der Reformation erlebt, kann man ablesen, was der Menschheit in der Corona-Krise möglicherweise bevorsteht: Tribalisierung nach innen und Abschottung nach außen.

Missbrauch und Glaubenskrise

Johannes Paul II folgte bei Bischofsernennungen der Grammatik seines Pontifikatsprogramms. Die katholische Führungselite sollte es sichtbar zum Ausdruck bringen. Aber die Betroffenen und Überlebenden des Missbrauchs belegen, wie viel Angst begründet bestehen kann, katholisch zu sein, und die Konsequenzen davon öffentlich zu machen. Ihre Erfahrungen waren so bedrängend und für die katholische Retroidentität derart kontraproduktiv, dass das bischöfliche Führungspersonal weltweit und strukturell einen „circle of secrecy“ einrichtet, wie der Missbrauchsbericht von Pennsylvania das nennt. Die Überlebenden des sexuellen Missbrauchs belegen nicht nur, welche Verbrechen ihnen angetan wurden, sondern wie wenig sie sich auf die klerikale Führungselite verlassen konnten, die „keine Angst vor dem Katholischen“ belegen sollten. Bis heute ist die Leitung der Kirche noch nicht auf dem Niveau der Herausforderung, vor der sie steht; sie hat noch alle Hände voll damit zu tun, den sehr prekären Prozess öffentlicher Aufklärung über dieses Versagen einzurichten, was zum Glück auch geschieht. Es steht der Kirche aber noch bevor, die damit selbst verursachte Glaubenskrise integral wahrzunehmen. Sie wird wie auf dem Missbrauchsgipfel im letzten Jahr noch so verhandelt, als ginge sie bei intensiver Aufarbeitung des Missbrauchs vorüber. Aber diese Glaubenskrise ist gekommen, um zu bleiben.

Es steht der Kirche aber noch bevor, die damit selbst verursachte Glaubenskrise integral wahrzunehmen … diese Glaubenskrise ist gekommen, um zu bleiben.

Es ist also nicht so, dass nichts geschieht, im Gegenteil. Nach der langen Herrschaft des innerkirchlich organisierten Verschweigens hat man nun in Anfängen begonnen mit der Analyse der kirchlichen Personalakten, der verheerenden Macht des Klerikalismus, der mangelnden Frauenrepräsentanz auf Entscheidungspositionen, der eklatanten Verstrickung der neuen geistlichen Gemeinschaften in sexuelle wie spirituelle Übergriffe, der Sexualmoral als potemkinsches Dorf sowie der Doppelmoral gelebter Sexualität in Führungskreisen der Kirche. Hinzu kommt nun im Nachhinein die bittere Einsicht, wie sehr ausgerechnet Johannes Paul II, der die Fähigkeit der Kirche zur Einheit mit der bedrängten Lage der Menschheit so überzeugend sichtbar machen konnte, selbst in der Bearbeitung des Missbrauchs versagt hat. In vielen notorischen Täterfällen (Groer, Maciel, Philippe, Karadima uvam.) und bei bischöflichen Vertuschern wie Law hielt er an den Personen fest, weil sie die katholische Linientreue gegenüber anderen garantierten. Er verschloss auch die Augen vor der strukturellen Heuchelei in seiner Kurie, die nach außen moralisch besser wissend auftritt, obwohl sie besser vom moralischen Versagen im eigenen Bereich Bescheid weiß.

Unter seinen Nachfolgern ist es besser geworden mit dem Widerstand gegen die Doppelbödigkeit des Katholischen. Aber die Trendwende ist nicht erreicht. Das führt unweigerlich zum Verlust der kirchlichen Glaubwürdigkeit, die nicht mit dem Hinweis auf die von den Tätern zu verantwortenden Verbrechen abgetan ist. Auch die vielen Schuldbekenntnisse und ehrlichen Gelübde, es künftig besser zu machen, ändern daran nicht viel, weil die strukturellen Defizite in der Kirche weiter verschleppt werden. Darüber ist ein intensives Ringen entbrannt, das zu einer regelrechten Tribalisierung der Kirche geführt hat.

Es stehen sich zwei Lager gegenüber, die lange nur indirekt beim Kampf um die Besetzung von Bischofsstühlen aneinander gerieten, aber nun zunehmend unversöhnlich miteinander umgehen.

Binär codierte kontrovers-katholischen Identität

Es stehen sich zwei Lager gegenüber, die lange nur indirekt beim Kampf um die Besetzung von Bischofsstühlen aneinander gerieten, aber nun zunehmend unversöhnlich miteinander umgehen. Beide haben Angst vor einem weiteren rasanten Abstieg ihrer Kirche, aber vermuten die eigentlichen Gründe im jeweils anderen Lager. Die einen beanspruchen angesichts der Krise umso mehr eine spirituelle und moralische Überlegenheit gegen den Relativismus in der säkularen Welt, der eben in die Kirche eingedrungen sei und sie moralisch geschwächt habe. Sie sei nun einmal ein Teil dieser Welt geworden und davon müssen sie wieder weg. Die anderen beanspruchen eine Wandlungsfähigkeit der katholischen Kirche durch die Solidarisierung mit der Menschheit insgesamt, nicht zuletzt durch eine Wortführerschaft für die Beachtung der Armen. Diese globale Qualität würde sie schon wieder jenseits des Missbrauchsskandals bringen.

Beide Lager scheuen aber die Komplexitätssteigerung durch die Krise. Für das erste Lager gilt eigentlich das Papsttum als jener Machtfaktor, der diese katholische Einheit wider die weltliche Relativierung zu fassen macht. Der gegenwärtige Papst steht jedoch dem zweiten Lager nahe und fördert die Regionalisierung des Fokus auf die Marginalisierten hin statt die Zentralisierung auf Rom. Aber eine andere Einheitsvision kann dieses Lager nicht anbieten; es schielt daher nach einem neuen Papst und sieht im zurückgetretenen Altpapst das Rohmodell dafür.

Beim zweiten Lager verdirbt die fortschreitende Säkularisierung und Individualisierung bei einer gleichzeitig gesteigerten Pastoralmacht des Staates das Bild. Man kann den sozialen Kitt nicht mehr als so defizitär voraussetzen, dass es einer Kirche als Integral des sozialen Gewissens in Gesellschaften bedürfte. Das bekommen erstens die bedrängten Individuen durch überraschend auftretende urbane Bewegungen wie Fridays for Future selbst hin. Zweitens vermag der Staat ein enormes Niveau an Selbstdisziplinierung bei der Bevölkerung zu wecken, wenn es wirklich eng wird; dazu benötigt er die Kirche nicht. Seine eigene Pastoralmacht, sich um alle und zugleich jede einzelne Person zu kümmern, genügt. Die Kirche kann durchaus weiter ein soziales Gewissen sein, aber eben in einer Nische der Gesellschaft. Daher geht dieses Lager primär auf die Bearbeitung der Kirchendesiderate zu, weil es darin den Schlüssel vermutet, aus der Nische herauszukommen. Es ist sich selbst aber nicht sicher, dass das gelingt.

Man muss sich jeweils primär vom anderen absetzen, um selbst wer zu sein.

Das erste Lager ist nicht bloß reaktionär und das zweite nicht einfach liberal. Das erste gibt einem Ressentiment über die schwindende eigene Bedeutung nach und das zweite gibt sich der Dekadenz der binnenkirchlichen Defizite hin. Gemeinsam ist ihnen die binäre Codierung einer kontrovers-katholischen Identität seit dem Barock. Man muss sich jeweils primär vom anderen absetzen, um selbst wer zu sein. Die Vertreter des ersten Lagers, das in der päpstlichen Kurie und in den neuen geistlichen Gemeinschaften seine Hochburgen hat, propagieren daher die kirchliche Unabhängigkeit mit dem Rechtsanspruch auf Religionsfreiheit. Sie soll ihre interne Autonomie garantieren. Dabei setzen sie auf den neoliberalen Staatsmodus, der sich aus kritischen Lebensverhältnissen zunehmend herausnimmt und die Bewältigung privatisiert, also auch die Religion. Sie kehren den übernatürlichen Vorrang der eigenen Religion gegenüber allen anderen Religionen und Kirchen heraus und vertreten primär diese Religionsfreiheit als ihr Vorrecht. Sie ist keine Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit. Wer dazu nicht passt, wird als unkatholisch verdächtigt. Die Verkleinerung der säkularen Bedeutung gilt dann als Ausweis interner Glaubwürdigkeit und nicht als Resultat der Krise des sexuellen Missbrauchs. In jüngster Zeit treten Bischöfe und Kardinäle aus diesem Lager sogar mit dem Brustton von Verschwörungstheoretikern über die Pandemie auf, Lobhudeleien an den derzeitigen US-Präsidenten inklusive. Ihre Karrieren mögen abgehalftert sein, aber ihr Schielen auf das nächste Konklave ist repräsentativ. Sie wollen die katholische Einheit der guten alten Zeit, der sich die wahren Katholiken auch unterwerfen.

Die Lager werden sich daher auf Dauer entweder trennen oder sich mit weiterer Selbstverzwergung abfinden müssen.

Das andere Lager hält an einer universalen Bedeutung des katholischen Glaubens für die ganze Menschheit fest. Über fällige Reformschritte soll die kirchliche Einheit nach außen hin wenigstens so wieder herzustellen sein, dass man aus der Missbrauchskrise herauskommt. Die Vertreter dieses Lagers sind bereit, regional über das hinausgehen, was sich der gegenwärtige Papst weltkirchlich zutraut. Aber dort blockiert das erste Lager die nötige weltkirchliche Durchschlagskraft dieser Taktik, weil sich der gegenwärtige Papst nicht in der Tribalisierung für eine Seite entscheidet. Er fürchtet um eine Einheit, die aber nur im Modus der Einigkeit vorhanden ist, vom Missbrauch getroffen zu sein. Die Lager werden sich daher auf Dauer entweder trennen oder sich mit weiterer Selbstverzwergung abfinden müssen. Beides ist nicht attraktiv, aber möglicherweise eine vorauseilende Einsicht in das, was der zersplitterten Menschheit durch die Corona-Erschütterung bevorsteht, wenn sie der gesteigerten Komplexität ausweichen will.

Das gemeinsame Muster ist ein idealisierter Anspruch, den die Realität als Illusion entlarvt. So lange man in einer solchen Lage beim Anspruch bleibt, wird sich nichts ändern.

Selbstrelativierung als Alternative zum Tribalismus der Selbstverzwergung

Es ist kein Zufall, dass sich in den kulturell lange Ton angebenden Gesellschaften der USA und Großbritanniens die Tribalisierung über verlorene Führerschaft schon gebildet hat. Man kann darin ein gemeinsames Muster in Kirchen-Krise und Pandemie-Krise erkennen. Es sind insbesondere große Nationen mit einer imperialem Selbstverständnis wie USA und Großbritannien, aber auch in der Erwartung einer künftigen Führungsnation wie Brasilien, deren Regierungen leichtsinnig und fahrlässig mit der Pandemie umgehen. Sie können von der Sehnsucht nach vergangener und/oder wieder kommender Größe nicht lassen und deshalb darf die Pandemie nicht so kritisch sein. Ähnlich prägt auch die katholische Kirche das Erschrecken darüber, nicht oder nicht mehr die Bedeutung haben, die sie sich eigentlich selbst zuschreibt. Das gemeinsame Muster ist ein idealisierter Anspruch, den die Realität als Illusion entlarvt. So lange man in einer solchen Lage beim Anspruch bleibt, wird sich nichts ändern.

In diesem Muster zeigt sich aber zugleich eine Alternative zu diesem Tribalismus der Selbstverzwergung. Es handelt sich um Selbstrelativierung. Ihr kann man nicht ausweichen, weder in der Pandemie noch im sexuellen Missbrauch. Wer das nicht tut, kann das Katholische dann anders buchstabieren. Es ist nicht umfassend, was es übrigens auch nie in der Geschichte war. Aber es umfasst die eigene Relativität und mutet sie umfassend zu. In dieser Einsicht liegt eine Hoffnung, weil sie vor falschen Ausflüchten bewahrt. Die Selbstrelativierung hat spirituelle, kulturelle, religiöse und politische Dimensionen. Wenn die Kirche ihr nicht ausweicht, hat sie sogar das Zeug zu einer demütigen Avantgarde in der Post-Pandemielage der Menschheit.

In diesem Muster zeigt sich aber zugleich eine Alternative zu diesem Tribalismus der Selbstverzwergung. Es handelt sich um Selbstrelativierung.

Lässt man die reziproke Unehrlichkeit des Katholisch-Seins weg und räumt auf, womit man nichts zu tun haben will, dann entsteht ein Raum für das Einräumen dessen, was unverzichtbar ist, um überhaupt noch einen Platz in den rasanten Veränderungen der zeitgenössischen Zivilisation zu bekommen, der mehr ist als bloße Folklore und katholisches Freilichtmuseum. Katholizität heute bedeutet, katholisch sein zu lassen, was nicht mehr dorthin gehört. Beispiele sind Pflichtzölibat, weil nun einmal weniger Zölibat mehr Priester bedeutet, Entweltlichung, weil weniger Ressentiment auf die Welt mehr gläubige Souveränität bedeutet, beschuldigendes Moralisieren, weil weniger Sexualmoral mehr Liebe bedeutet, altpäpstliche Petitessen, weil weniger Päpste im Vatikan mehr globalisiertes Papsttum bedeutet, u.a.m. Von solchen Dingen kann man sogar sehr leicht und gewinnbringend trennen. Sie reduzieren die Fassade, aber erhöhen die Glaubwürdigkeit.

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