22018

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Konzept

Ulrich Engel

Fremdprophetie – Ordensexistenz als prophetisches Zeichen im kirchlichen Systemwechsel?

I.

Valentin Dessoy plädiert in den anstehenden Schritten der Kirchenentwicklung für die Einbeziehung einer Außenperspektive. Diese Perspektive qualifiziert er mit dem Begriff „Fremdprophetie“1 als prophetisch.

Als Ordensmitglied interessiert mich, unter welchen Bedingungen Ordensgemeinschaften (fremd-)prophetische Zeichen für die und in der Kirche sein können. Meine kleine Studie fokussiert dabei bewusst nicht auf den potentiellen Beitrag der Orden zu den ekklesialen Umbauarbeiten, sondern befragt die Orden nach ihrem prophetischen Potential überhaupt als Bedingung der Möglichkeit, von außen auf den ekklesialen Systemwechsel einwirken zu können.

II.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat weder im Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens „Perfectae caritatis“ noch in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ die vita religiosa als „prophetisch“ gekennzeichnet; allenfalls partizipieren die Ordensleute als Teil des gesamten Volkes Gottes am prophetischen Amt Christi (vgl. LG 12).2

Die Charakterisierung des Ordenslebens als „prophetisches Zeichen“ kommt erst in nachkonziliarer Zeit auf. Kirchenamtliche Erwähnung findet die Kennzeichnung expressis verbis im Dokument der Religiosenkongregation „Religiosi e promozione umana“ von 1980.3 Gemäß der Einführung in das Dokument wurzelt der prophetische Charakter des Ordenslebens wesentlich in der prophetischen Sendung Christi, den Armen die Frohe Botschaft zu bringen (vgl. Lk 4,18), um in der Hinwendung zu ihnen und im Eintreten für Gerechtigkeit zur „Bekehrung und Umwandlung der Welt“ (RPU 33b) beizutragen.

In ähnliche Richtung zielen auch befreiungstheologische Ansätze; so wiesen beispielsweise die 1968 in Medellín (Kolumbien) versammelten Bischöfe aus ganz Lateinamerika dem Ordensleben dezidiert „eine prophetische Aufgabe [zu]: Es soll nämlich eschatologisches Zeichen sein“4.

Deutlich also beziehen beide nachkonziliaren Dokumente – RPU und Medellín – die als prophetisch markierte Zeichenfunktion des Ordenslebens auf den gesellschaftpolitischen Bereich ad extra.

III.

Im Bereich der Ordenstheologie waren es vor allem Jean-Marie Roger Tillard OP (1927-2000) und Johann Baptist Metz, die sich mit der prophetischen Zeichenhaftigkeit der vita religiosa befasst haben.

Orden sind eine Art Schocktherapie des Heiligen Geistes für die Großkirche.

Nach Tillard verkündet der Prophet „unnachgiebig die Forderungen von Gerechtigkeit und Wahrheit, ohne sich allzu viel Gedanken über die unmittelbaren Folgen oder die konkreten Möglichkeiten zu machen. Er sagt, was zu sagen ist, und klagt die unvermeidliche Mittelmäßigkeit an“5. In dieser Haltung – Tillard bezeichnet sie als eine „conviction évangélique“6 – obliegt es den Ordensleuten, mit ihrer ganzen Existenz den Primatsanspruch Gottes in Erinnerung zu rufen – auch und besonders innerhalb der Kirche.

Metz spricht zwar an keiner Stelle seiner Schriften von einer prophetischen Dimension der vita religiosa, doch definiert er – sachlich in dieselbe Richtung zielend – die Orden als „kritische Öffentlichkeit in der Kirche“7. Berühmt geworden ist seine Formulierung aus „Zeit der Orden?“: Orden sind „eine Art Schocktherapie des Heiligen Geistes für die Großkirche: Gegen gefährliche Arrangements und fragwürdige Kompromisse, zu denen die Großinstitution Kirche immer wieder neigen mag, klagen sie die Kompromißlosigkeit des Evangeliums und der Nachfolge ein. Sie sind in diesem Sinne die institutionalisierte Form einer gefährlichen Erinnerung inmitten der Kirche.“8

Nach beiden – Tillard wie Metz – zielt das prophetisch-kritische Zeugnis der Ordensleute zuerst auf die Institution Kirche ad intra.9

IV.

Im Anschluss an die hier nur ganz knapp rekonstruierten Aussagen von RPU, Medellín, Tillard und Metz zur prophetischen Dimension des Ordenslebens stellen sich zwei Fragen:

  1. Wie verhalten sich die konträren Zielbestimmungen der Ordensprophetie – ad extra im Blick auf den politisch-sozialen Kontext vs. ad intra im Blick auf den kirchlich-institutionellen Bereich – zueinander?
  2. Welchen theoretischen Status hat die real existierende Gebrochenheit des praktisch gelebten Ordenslebens für eine verantwortete theologische Rede von dessen prophetischer Zeichenhaftigkeit?

Skizziert seien an dieser Stelle nur die Richtungen, in die sich m.E. die Antworten auf die o.g. Fragen bewegen müssten:

  1. Allein in einem dialektischen Zueinander von Innen und Außen sind Ort und Auftrag der Orden in Gesellschaft und Kirche zu finden. Dem Zweiten Vatikanischen Konzil war es grundlegend „um die Bedeutung des Glaubens im Außen der Kirche“10 zu tun. Im Hintergrund dieser These steht die Überzeugung, dass nicht nur das ekklesiale Innen Ort des Glaubens ist, sondern ebenso der gesellschaftliche Kontext außerhalb der Kirche. Folglich kann es seit dem Konzil zwischen den diversen Orten des Glaubens, dem eigenen Topos auf der einen und den – immer im Plural vorkommenden(!) – politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Heterotopoi auf der anderen Seite, keinen auf Ausschließung beruhenden Gegensatz mehr geben. Theologisch bedeutet das: „Erst wer sich dem Fremden ausliefert, bei ihm politisch wie geistlich präsent ist, findet sich selbst im Anderen – und darin den Herrn.“11 Innen und Außen dürfen also nicht gegeneinander ausgespielt werden.
  2. Will man die faktische Unzulänglichkeit der individuell (Stichwort: Sünde) und institutionell (Stichwort: Einbindung in das – hierzulande finanziell i.d.R. für beide Seiten profitable – großkirchliche System12 gelebten Ordensexistenz nicht eindimensional als Beweisgrund gegen jegliches prophetisches Zeichenpotential verstehen, dann bedarf es einer theologischen Interpretation, welche die alltäglichen Gebrochenheiten (anstatt sie zu verdrängen) als integralen Bestandteil der vita religiosa zu verstehen sucht. Denn „noch in ihrer Fehlerhaftigkeit legen die Ordensleute ein ihnen gemäßes Zeugnis ab, indem sie gerade dadurch auf die je größere Barmherzigkeit Gottes verweisen, der sündige Menschen in seinen Dienst nimmt.“13

Neben diesem theologischen Argument ist ein zeichentheoretisches anzuführen, gilt doch, dass zum Zeichen geradezu unabdingbar die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem gehört. Was Jörg Splett im Blick auf Symbole sagt, kann m.E. auch auf Zeichen übertragen werden: „Das Symbol der Versinnlichung eines geistigen Gehalts bleibt wesensnotwendig seinem Inhalt unangemessen und aus diesem Grund zweideutig. Da es nämlich eine eigene Gestalt besitzt, die sich vom Symbolisierten unterscheidet, verdeckt es dieses stets zugleich.“14

V.

Schließlich stellt sich die Frage, ob die Orden qua Institution oder eher die einzelnen Mitglieder Träger der prophetischen Zeichen sind. Zur Beantwortung seien zwei Hinweise gegeben:

  1. Institutionentheoretisch ist an die von Max Weber eingeführte Unterscheidung zwischen den beiden Herrschaftstypen Charisma und Institution anzuknüpfen. In seiner Religionssoziologie „Wirtschaft und Gesellschaft“ charakterisiert Weber das Charisma als außeralltäglich.15 Zugleich beschreibt er den Weg der „institutionellen Wendung des Charismas“ (WG 674). Ohne diesen Übergang bliebe die rein charismatische Herrschaft dauerhaft labil und bedroht. Entsprechend bedarf es der „Veralltäglichung“ (WG 663) des Außeralltäglichen. Mit dem Begriff der Veralltäglichung beschreibt Weber einen Institutionalisierungsprozess, der zum Ziel hat, die charismatische Herrschaft auf Dauer zu stellen.

    Vor dem Gesamthintergrund der hier vorgelegten Skizze ist es theologisch vertretbar, das Ordensleben als prophetisches Zeichen für Kirche und Welt zu deuten.

    Die erste Stufe der Institutionalisierung ist also die Veralltäglichung. In ihr bleibt das Charisma an eine Person gebunden. Die zweite Stufe der Institutionalisierung nennt Weber „Versachlichung“ (WG 657). „Der entscheidende Unterschied zwischen Veralltäglichung und Versachlichung liegt in der Übertragbarkeit der charismatischen Geltung im Fall der versachlichten Institutionalisierung auf die Institution selber.“16 Das Charisma ist von nun an „an ein institutionelles Gebilde ohne Ansehen der Person geknüpft“ (WG 671). Damit ist einerseits das Charisma über die Institution versachlicht, andererseits ist die Institution über das, was man ‚Institutionen-Charisma‘ nennen könnte, charismatisch aufgeladen. Vor diesem Hintergrund muss die Bipolarität zwischen dem Ordensinstitut einerseits und dem einzelnen Mitglied andererseits auch im Blick auf die prophetische Qualifikation nicht notwendigerweise als die jeweils andere Seite ausschließend – nach dem Motto: entweder Institution oder Person – verstanden werden. Vielmehr könnte man im Anschluss an Weber widerspruchsfrei und gleichzeitig von einer in der Institution Orden versachlichten Prophetie und einer prophetisch aufgeladenen Institution sprechen.
  2. Diesem soziologisch eruierten Befund korrespondiert die aktuelle exegetische Einsicht, nach der im Ersten/Alten Testament Institution und Prophetie nicht zwangsläufig als Gegensätze betrachtet werden müssen. Denn – so Ulrike Bechmann und Joachim Kügler in ihrer Zusammenfassung der neueren bibelwissenschaftlich-exegetischen Forschungsergebnisse – die „Unabhängigkeit eines/r Propheten/in ist nicht notwendigerweise Voraussetzung für Institutionenkritik. Diese kann auch innerhalb der Institution angesiedelt sein. Mit ihrer Kritik kann eine Institution selbst innerhalb einer Gesellschaft kritisch-prophetisch wirken.“17Damit ist auch im Rückgriff auf die biblische Tradition die Möglichkeit gegeben, nicht nur der je einzelnen Ordensfrau bzw. dem je einzelnen Ordensmann qua charismatischer Persönlichkeit, sondern den Orden qua kirchlicher Institution insgesamt eine prophetische Zeichenhaftigkeit zuzusprechen.

VI.

Fazit: Vor dem Gesamthintergrund der hier vorgelegten Skizze ist es theologisch vertretbar, das (real gelebte) Ordensleben – sowohl hinsichtlich seines personalen als auch seines institutionellen Aspekts – als prophetisches Zeichen für Kirche und Welt zu deuten. Damit ist die Bedingung der Möglichkeit gegeben, dass Orden in fremdprophetischer Weise in die Gesamtprozesse des kirchlichen Systemwechsels hineinwirken können.

  1. Valentin Dessoy: Nur Mut. Vom Pfad abweichen und den Systemwechsel vorbereiten. In: heute.glauben.leben. Themenheft der Hauptabteilung Seelsorge, Bistum Würzburg, Heft 8, Mai 2015, 6-10, hier 8: https://www.kilianshaus.de/medien/4e7f72c7-25f2-43bb-8237-ca23db14aaee/magazin_hgl_8_15_gehen.pdf (Abruf: 11.9.2018).
  2. Vgl. zum Folgenden auch Ulrich Engel, Ordensleben als prophetisches Zeichen? Eine systematisch-theologische Skizze, in: Ordenskorrespondenz 49 (2008), 446-450.
  3. Vgl. die deutsche Übersetzung: Kongregation für die Ordensleute und Säkularinstitute, Das Ordensleben und die Förderung des Menschen, in: Ordenskorrespondenz 22 (1981), 251-292, Einführung u. Nrn. 4, 24, 33 (= RPU). Seinen Ursprung hat das Dokument allerdings schon in der Vollversammlung der Kongregation von 1978.
  4. Die Kirche in der gegenwärtigen Umwandlung Lateinamerikas im Lichte des Konzils. Sämtliche Beschlüsse der II. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats, Medellín 24.8.-6.9.1968, in: Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín und Puebla, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Stimmen der Weltkirche Bd. 8), Bonn o.J., 22-133, Nr. 12,2 (= Medellín). Ähnliche Positionen finden sich bspw. auch bei Víctor Codina, El profetismo de la vida religiosa posconciliar latinoamericana, in: Testimonio 92 (1985), 44-51; ders. / Noé Zevallos, Ordensleben. Aus dem Spanischen von Horst Goldstein und Damian van Melis (Bibliothek Theologie der Befreiung: Die Kirche, Sakrament der Befreiung), Düsseldorf 1991, 155-160.
  5. Jean-Marie Roger Tillard, Frei sein in Gott. Zur Praxis des Ordenslebens heute. Aus dem Französischen von Mathilde Wieman, Freiburg/Br. 1979, 73.
  6. Vgl. z.B. ders., Devant Dieu et pour le monde. Le projet religieux (Cogitatio fidei vol. 75), Paris 1974, 304.
  7. Johann Baptist Metz: Zur Theologie der Welt. Mainz 1985, 127.
  8. Ders.: Zeit der Orden? Zur Mystik und Politik der Nachfolge. Freiburg/Br. 51982, 10.
  9. Ähnliche Ansätze vertreten auch Norbert Lohfink: Die Orden als Gottes Kirchentherapie. Biblische Überlegungen zur Not der Kirche und zur Not vieler Orden. In: Ordenskorrespondenz 27 (1986), 31-64; Paul M. Zulehner: Ordenschristen und ihr prophetischer Dienst. Menschliches im Dienst Gottes und der Menschen. In: Geist und Leben 58 (1985), 29-41. 
  10. Hans-Joachim Sander: Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes. In: Peter Hünermann / Bernd Joachim Hilberath (Hrsg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 4: Apostolicam actuositatem, Dignitas humanae, Ad gentes, Presbyterorum ordinis, Gaudium et spes, Freiburg/Br. 2005, 581-886, hier 701.
  11. Ulrich Engel: Ort und Auftrag der Orden in der Gesellschaft heute. In: Berufung und Sendung der Gemeinschaften des geweihten Lebens in der Kirche heute. Arbeitshilfen zum Wort der deutschen Bischöfe „Gemeinsam dem Evangelium dienen“, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen Bd. 211), Bonn 2007, 33-46, hier 42.
  12. Beschrieben werden können diese (seitens der Orden und der diözesan verfassten Kirche beidseitig gerne gesuchten) Einbindungen in finanzieller, ideologischer, kirchenrechtlicher und pastoraler Hinsicht als asymmetrische Machtkonstellationen; vgl. dazu ders.: Orden und Ortskirchen im Konflikt. Plädoyer für einen kritischen Dialog. In: Gerhard Kruip / Frano Prcela (Hrsg.), Die Zukunft der Orden. Mit einem Geleitwort von Karl Kardinal Lehmann, Würzburg 2016, 75-93.
  13. Annelise Herzig: „Ordens-Christen“. Theologie des Ordenslebens in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie Bd. 3). Würzburg 1991, 240.
  14. Jörg Splett: Art. Symbol. In: Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, hrsg. von Karl Rahner, Adolf Darlap, Gustav Weigel u.a., Bd. 4, Freiburg/Br. 1969, 784-789, hier 786. Zu dieser bleibenden Differenz vgl. auch Ulich Engel: „Nicht ohne“. Mikroskizze zu einer kenotisch resp. inkarnatorisch formatierten praktischen Spiritualität des Ordenslebens im Anschluss an Michel de Certeau SJ. In: Christian Bauer / Marco A. Sorace (Hrsg.), Gott, anderswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Ostfildern (im Erscheinen).
  15. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 5. rev. Aufl. 1985, 245 (= WG).
  16. Antje Gimmler: Institution und Individuum. Zur Institutionentheorie von Max Weber und Jürgen Habermas. Frankfurt/M. 1998, 92. 
  17. Ulrike Bechmann / Joachim Kügler: Biblische Prophetie. Exegetische Perspektiven auf ein heikles Phänomen. In: Rainer Bucher / Rainer Krockauer (Hrsg.): Prophetie in einer etablierten Kirche? Aktuelle Reflexionen über ein Prinzip kirchlicher Identität (Werkstatt Theologie. Praxisorientierte Studien und Diskurse Bd. 1). Münster 2004, 5-23, hier 13.

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