22018

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Konzept

Markus Menke

Spiritualität als Ressource in tiefgreifenden Veränderungsprozessen

“Such nur bei Verständigen Rat. Einen brauchbaren Ratschlag verachte nicht!” (Tobit 4,18)

Missbrauchsenthüllungen, Finanzskandal, Gemeindefusionen, Pastorale Räume und spürbar schwindende Ressourcen sind nur einige Aspekte (Ursachen, Symptome und Folgen) einer tiefgreifenden Veränderung der Kirche. Ob der tatsächlich bedrohlich erscheinenden Erschütterung geht es dabei nicht um oberflächliche Schönheitsreparaturen, sondern es geht um Gestalt und Kultur. Nach vielen Versuchen und Anläufen ist es offensichtlich, dass einfache Optimierung der pastoralen Arbeit, Umverteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen, gar Zentralisierung und Vereinheitlichung pastoraler Konzepte nicht zur gewünschten Neu-orientierung führen können. „Wer heute zur Kirche gehören will, muss sich mit Verlust und Entfremdung auseinander setzen. Wir selbst müssen uns verändern und dürfen dabei die Trauer und Ohnmacht auslösenden Seiten der Entwicklung nicht vergessen. Es ist aber auch ein aufregender Entdeckungsprozess, Wandel und Entwicklung anzugehen, neugierig zu werden für das, was auf uns zukommt.“1 Das der Veränderungsnotwendigkeit innewohnende Potential ist gerade für kirchliche Insider aber nur mühsam sichtbar, viel eher stehen Ratlosigkeit und Verunsicherung neben tiefen Verletzungen und Wut im Vordergrund.

Das der Veränderungsnotwendigkeit innewohnende Potential ist gerade für kirchliche Insider nur mühsam sichtbar, viel eher stehen Ratlosigkeit und Verunsicherung neben tiefen Verletzungen und Wut im Vordergrund.

An dieser Stelle setzt Kirchliche Organisationsberatung an und ist deutlicher herausgefordert als in den vergangenen Jahren. Was kann Sicherheit geben, wenn alles Bisherige offenbar keine Gültigkeit mehr hat? Es ist schon soviel ausprobiert worden, und doch geht es meistens um eine Vervielfachung dessen, was schon versucht wurde. Wie ist eine Organisation zu beraten, deren Selbstverständnis tief infrage gestellt erscheint?  

Kirche ist eine Sonderform von Organisation, deshalb braucht es womöglich eine Sonderform von Organisationsberatung. Kirche ist eine komplexe Wirklichkeit die sich in sehr unterschiedlichen Aspekten aktualisiert: „Kirche ist ein geistliches Geschehen, Kirche ist Gemeinschaft und Bewegung, Kirche ist aber auch Organisation.“2 Und sie hat ganz eigene Bilder des Selbstverständnisses und sieht sich selbst zum Beispiel als Leib Christi. 

Nun aber hat Gott jedes einzelne Glied so in den Leib eingefügt, wie es seiner Absicht entsprach. Wären alle zusammen nur ein Glied, wo bliebe dann der Leib? So aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib. … Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm. (1 Kor 12,18.19.27)

Schon im Selbstverständnis liegt eine (Christus-)Bezogenheit, die den gängigen Horizont der Betrachtung übersteigt und damit einen relevanten Bezugspunkt setzt. Zudem ist sie nicht Selbstzweck, sondern sie ist einem speziellen Sendungsauftrag verpflichtet. „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit (LG 1).“ Eine deutliche Außenorientierung sollte in Angeboten, Kommunikation und vor allem Zielsetzung deutlich werden. „Dass die Arbeit der Kirche, ja die Kirche an sich, auf das Handeln am Nächsten ausgerichtet ist, ist evident. Kirche, so sagt Dietrich Bonhoeffer, ist nur da Kirche, wo sie für andere ist. Von daher ist ihrem Wesen das Gemeinwohl inhärent und wirklich in diesem Sinne gemeint.“3 Die aus der Verunsicherung hervorgegangene verständliche Nabelschau der vergangenen Jahre hat diesen Auftrag zuweilen in den Hintergrund treten lassen, was die Problematik eher verstärkt haben mag.

Es geht um die Einbeziehung eines relevanten Akteurs im Veränderungsprozess, der ansonsten in gängigen (OE) Prozessen nur wenig bis keine Beachtung findet: Gott.

Aus diesem Grund ist auch die Anforderung einer Veränderung der Prozessgestaltung von Beratungsprozessen stärker formuliert worden. „Veränderungsprozesse in den Bistümern und auf den Ebenen darunter sollen nicht nur und nicht vorrangig nach organisatorischen oder ökonomischen Aspekten gestaltet werden; verschiedene Bischöfe möchten die Prozesse, die den anstehenden Wandel strukturieren sollen, als „geistliche Prozesse“ gestalten und gestalten lassen.“4 „Geistliche Prozesse“ sind, so ist es offensichtlich intendiert, unterscheidbar von den gängigen Prozessen zur Organisationsentwicklung. Inwieweit diese Annahme stimmig ist, soll hier keine weitere Rolle spielen. Vielmehr ist von Bedeutung, was denn ein „Geistlicher Prozess“ sein könnte. „’Geistlich’ ist ein Prozess dann, wenn die Beteiligten den Willen Gottes suchen und finden wollen und dabei darauf vertrauen, dass Gott sie dabei führt (vgl. dazu den Vortrag von Franz Meures: Bistum Trier 2013).“5 Es geht also um den Willen Gottes und das Vertrauen auf seine Führung. Es geht um die Einbeziehung eines relevanten Akteurs im Veränderungsprozess, der ansonsten in gängigen (OE) Prozessen nur wenig bis keine Beachtung findet. An dieser Stelle liegt die Herausforderung für Kirchliche Organisationsberatung. Denn so sehr auch die Einbeziehung aller notwendigen Akteure in das Prozessgeschehen zum selbstverständlichen Handwerkszeug gehört, so wenig ist Gott doch direkt fassbar und damit auch einbeziehbar. Hier ist also zweierlei notwendig. Erstens braucht es von Beratenden und Beratungsnehmenden die Grundannahme, dass Gott ein relevanter Akteur ist und ein reales und aktives Interesse am Fortgang des Prozesses hat. Und zweitens braucht es dann geeignete Mittel zur Einbeziehung. Diese gehen über die gängigen Tools hinaus. Obwohl alle Beteiligten im System Kirche beheimatet sind, scheinen die notwendigen Mittel nicht automatisch zur Verfügung zu stehen. 

Beratung kann hier das eigentlich Bekannte als ‚fremd‘ einspielen: Spiritualität. Das bedeutet nicht frommes Gehabe oder religiöse, erbauliche Texte und Gedichte. „Spiritualität ist die Durchdringung des Alltäglichen mit übergeordneten Sichtweisen und Einsichten. Sie ist der Umgang mit dem Transzendenten, mit Gott.“6 Spiritualität ist die Grundannahme der Kraft des Geists Gottes in der Welt und die Art und Weise diese Kraft zu aktualisieren. Wenn also Spiritualität eine Zugangsmöglichkeit für eine gestaltende Kraft darstellt, dann dient sie auch der Suche von innovativen Lösungsansätzen in der gegenwärtigen Krise und Umbruchssituation. Unterschiedliche Möglichkeiten ergeben sich offensichtlich beim Verlassen der Eindimensionalität des Weltlichen im Vertrauen auf die Dimension des Göttlichen, des Heiligen Geistes. Spiritualität dient einem Perspektivwechsel, der notwendig ist, vertraute, aber auch verfestigte Standpunkte zu hinterfragen und ggf. zu korrigieren. Voraussetzung dafür ist allerdings die Vergewisserung der gemeinsamen Grundlage aller Akteure, um den Herausforderungen von Veränderung und den damit verbundenen Widerständen gewachsen zu sein. 

Wenn Spiritualität eine Zugangsmöglichkeit für eine gestaltende Kraft darstellt, dann dient sie auch der Suche von innovativen Lösungsansätzen in der gegenwärtigen Krise und Umbruchssituation.

Warum sollte Beratung eine dem Kundensystem eigentlich vertraute Kraft nicht nutzen, um im Sinne der Beratungsnehmenden zu guten Lösungen zu kommen? 

In besonderen Phasen der Verunsicherung mag Spiritualität, das gemeinsame Gehen eines geistlichen Weges, so etwas wie ein Anker von Sicherheit bieten. Die Besinnung auf ein verbindendes Fundament kann zum Ausgangspunkt der Bewältigung von großen Herausforderungen sein. Auf der anderen Seite braucht es ist zuweilen die Irritation eines erstarrtes Systems, um in eine neue Veränderungsdynamik zu kommen. Die geistliche Besinnung auf den eigentlichen Auftraggeber und Sinnstifter kann im Kontext Kirche helfen, vertraute, aber wenig hilfreiche Muster, zu durchbrechen. 

Spiritualität im Sinne von Geistdurchdringung ist aber keine planbare und verfügbare Methode bzw. Ressource, sondern eher Bedingung zur Möglichkeit einer anderen Dimension in einer speziellen Organisation. So wie sich der Geist dem menschlichen Zugriff entzieht, so entzieht sich auch spirituelle Erfahrung der Machbarkeit. „Spiritualität ist nicht ‚machbar’ – aber ohne Bereitschaft, ohne Offenheit für spirituelle Momente und Erfahrungen ist sie auch nicht erlebbar. Eine Passivität des Geschehenlassens ist ebenso erforderlich wie eine aktive Aneignung, die Übung, das Ritual.“7 Einbeziehung von Spiritualität bedeutet also eher das Ausleben einer Grundhaltung der Beteiligten wie auch das Öffnen von speziellen Räumen durch eingeübte Praktiken.  

So hilfreich Spiritualität im Kontext von Kirchlicher Organisationsberatung auch sein kann, sie darf weder verzweckt werden, noch der Täuschung unterliegen, man könne den Willen Gottes oder gar den Heiligen Geist eins zu eins erkennen, um ihn dann einfach in organisationale Entscheidungen zu überführen. Kirche ist, wie oben beschrieben, eine komplexe Organisation mit erkennbaren und beschreibbaren Merkmalen, ein vielschichtiger Organismus. Um den in besonders schwieriger Situation zu entwickeln, braucht es tatsächlich verantwortet unterschiedliche Aspekte, auch die Betrachtung ‚harter Faktoren‘, die im Prozess aufeinander bezogen werden müssen.

„Von daher gelingt Kirchenentwicklung eher dann, wenn sie zugleich als geistlich-spiritueller, als fachlicher (pastoraler, organisatorischer, betriebswirtschaftlicher, rechtlicher …) und als politisch-kommunikativer Prozess angelegt ist. Auf allen Ebenen braucht es dabei eine hohe Professionalität. Spiritualität kann Fachexpertise und politische Kommunikation nicht ersetzen.“8

Aufgabe von Beratung ist es in jedem Fall die entsprechende Professionalität in den Prozess hinein zu organisieren.

Spiritualität kann Fachexpertise und politische Kommunikation nicht ersetzen.

Dass eine interne Beratung in der besonderen Gefahr von Verflechtung mit dem und Vereinnahmung durch den Auftraggeber steht, soll hier nicht ausgeklammert werden. Das für viele Beratende streitbare Thema der Spiritualität in der Beratung mag diese Verflechtung gefühlt noch verstärken und die für Beratung notwendige Distanz verringern, gerade weil Spiritualität etwas sehr Persönliches ist. Aber es liegen eben auch unübersehbar Chancen in dieser Art interner Beratung, die um besondere Kraftquellen und die sehr eigene Kultur der besonderen Organisation Kirche weiß. 

“Such nur bei Verständigen Rat; einen brauchbaren Ratschlag verachte nicht!” (Tobit 4,18) Der ‚Ratschlag des Verständigen‘ ist nicht unbedingt das, was Beratung will und vermag, und es geht schon gar nicht um die vorschnelle Präsentation von Lösungen durch Kompetenzvermischung. Ganz im Gegenteil: Geistlich-spirituelles Tun braucht Zeit und Geduld und die Bereitschaft des Hörens. Im Verständnis der Andersartigkeit der Organisation Kirche zeigen sich dadurch weiterführende Möglichkeiten, Räume der Kommunikation, des Hörens, der Vergewisserung, des Visionierens und der Zielorientierung zu öffnen.  

  1. Abel, Peter: Gemeinde im Aufbruch. Münsterschwarzach 2006, S.25.
  2. Dessoy, Valentin: Auf dem Weg zu einer visionären Praxis. Syntax nachhaltiger Kirchenentwicklung. In: Hundertmark, Peter, Schönemann, Hubertus (Hrsg.): Pastoral hinter dem Horizont Eine ökumenische Denkwerkstatt. Speyer 2017, S.83-100, hier S.98.
  3. Lätzel, Martin: Priorisierung, Profilierung und Qualifizierung pastoralen Handelns – Sechs Thesen. In: Dessoy, Valentin, Lames, Gundo (Hrsg.): „… und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ (Mt 28,20) Zukunft offen halten und Wandel gestalten. Strategisches Denken und Handeln in der Kirche. Trier 2012, S.166-175, hier S.167.
  4. Kügler, Hermann: Wie kommt ein geistlicher Prozess in Gang? Einige Voraussetzungen und Ideen auf der Basis der Ignatianischen Spiritualität. In: Hundertmark, Peter, Schönemann, Hubertus (Hrsg.): Pastoral hinter dem Horizont Eine ökumenische Denkwerkstatt. Speyer 2017, S.62-68, Hier S.62f.
  5. Kügler, Hermann, a.a.O., S.63.
  6. Dezenter, Marion: Spiritualität – (ungenutztes?) Potential für die Beratung. In: Förderverein für Organisationsentwicklung und Gemeindeberatung in der EKHN im Zentrum für Organisationsentwicklung und Supervision in der EKHN (Hrsg.): Zeitschrift für Organisationsentwicklung und Gemeindeberatung. Heft 8 / Mai 2006, Friedberg 2006, S.25-32, hier S.25.
  7. Frasch, Gerhild; Weiß, Kerstin: Begleitung im Labyrinth – Spiritualität und Supervision. In: Supervision – Mensch Arbeit Organisation. Heft 4/2005. Weinheim 2005, S.11-30, hier S.13.
  8. Dessoy, Valentin, a.a.O, S.98.

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