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Konzept

Steffen Schramm

Der eigenen Sendung folgen – kybernetische Überlegungen zur Zukunft kirchlicher Leitung

1. Einleitung, Problemstellung

Die Zeit tiefen Umbruchs, die die wir erleben, bringt eine Situation hervor, die sich mit dem Kürzel VUCA charakterisieren lässt: Volatility (Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität), Ambiguity (Unklarheit). Es besteht weithin Konsens, dass angesichts dieser Situation Kirche sich verändern wird und muss. Unklar ist einstweilen, was VUCA für die Leitung von Landeskirchen (und Bistümern) bedeutet.

Kirche kann beschrieben werden als eine Realität in drei Dimensionen. Sie ist Glaubens-, Handlungs- und Rechtsgemeinschaft.

Die theologische Disziplin, die sich mit kirchlicher Leitung beschäftigt, ist die Kybernetik. Ihre Grundfrage lautet: wie muss Leitung gedacht und konzipiert werden, damit sie der Kirche jetzt und in der näheren Zukunft helfen kann, ihrer eigenen Sendung zu folgen?

Das Spezifikum der Kybernetik besteht darin, dass sie sich dezidiert als theologische Disziplin begreift und in einem theologischen Begriff von Kirche und kirchlicher Leitung wurzelt. In einem ersten Schritt wird ein dreifacher Kirchenbegriff entfaltet, der es erlaubt, kirchliche Organisation und Leitung theologisch näher zu bestimmen. Ein zweiter Schritt skizziert landeskirchliche Leitungsmodelle, der dritte einige Aspekte eines zukünftigen Leitungsmodells.

2. Kirchliche Leitung in theologischer Perspektive

Kirche kann beschrieben werden als eine Realität in drei Dimensionen. Sie ist Glaubens-, Handlungs- und Rechtsgemeinschaft.

Abb. 1: Dreifacher Kirchenbegriff: drei Dimensionen der einen Kirche

Als Glaubensgemeinschaft hat sie ihren Grund in Jesus Christus. Sie hat eine Gestalt, sie ist Leib Christi, ein Leib aus vielen Verschiedenen, die durch Christus miteinander versöhnt sind. Und sie hat einen Auftrag, der in ihrer Bestimmung liegt: Sie soll Zeichen des Reiches Gottes sein.

Wie kann Kirche dieser Bestimmung nachkommen? Indem sie als Handlungsgemeinschaft Gott feiert, also durch Verkündigung, Taufe und Abendmahl, und indem sie aus Glauben handelt und sich für Gerechtigkeit, Hilfe und Bildung einsetzt.

Um das zu können, muss sie sich organisieren: unterschiedliche Rollen ausbilden (z.B. Mitglied und Mitarbeiter/Amtsträger), Kompetenzen regeln und Strukturen schaffen, die sie in Rechtssätzen festhält.

Die Kirche als Handlungsgemeinschaft wird, um dauerhaft im Sinne ihrer Bestimmung handeln zu können, zu einer Rechtsgemeinschaft, die eine Organisation hat. Recht und Organisation haben in theologischer Perspektive die Funktion, es der Kirche als Handlungsgemeinschaft zu ermöglichen, im Sinne ihrer Bestimmung zu wirken.

Die eigentlichen Herausforderungen, vor denen Kirchen immer und überall stehen, ist die Frage, wie können wir so Kirche sein, dass wir unserem Grund, unserer Gestalt und unserer Bestimmung entsprechen?

Das bedeutet: Die eigentlichen Herausforderungen, vor denen Kirchen immer und überall stehen, sind nicht ihre Gebäude und Finanzen, die demographische Entwicklung oder wie sie ihre Veranstaltungen am Laufen hält, sondern ist die Frage, wie können wir so Kirche sein, dass wir unserem Grund, unserer Gestalt und unserer Bestimmung entsprechen? Wie leuchtet durch unser Handeln etwas von dem auf, was Gott an Frieden, Gerechtigkeit, Versöhnung mit der Welt vor hat?

Kirche ist in einen doppelten Bezug gestellt: zur Welt, in die sie gewiesen ist – und zu Gott, der sie durch seinen Geist zusammenruft und erhält. Ändert sich das Umfeld, dann entwickeln Gemeinden, Kirchenkreise und Landeskirchen auch die Sozialformen ihres Handelns und alle Aspekte kirchlicher Organisation weiter, damit sie in gemeinschaftlichem Handeln ihrem Grund und ihrer Bestimmung treu bleiben.

Die entscheidende Frage im Blick auf kirchliche Organisation lautet: leistet sie es, dass die Kirche als Handlungsgemeinschaft ihrem Grund, ihrer Gestalt und ihrer Bestimmung entsprechen kann?

Die Aufgabe kirchlicher Leitung

Für die Gestaltung kirchlicher Organisation ist die kirchliche Leitung verantwortlich.

Abb. 2: der Ort kirchlicher Leitung

Kirchliche Leitung arbeitet nicht nur im, sondern auch am System. Es geht ihr nicht nur um die Koordination und Optimierung bestehender Programme und Aufgaben – als Leitung erster Ordnung -, sondern immer auch um das Überleben und, im Falle von Kirche, die auftragsgemäße Selbstgestaltung als Handlungsgemeinschaft und als Organisation – in ihren Umwelten. Sie ist auch Leitung zweiter Ordnung. Als solche ist sie auf der Schnittstelle von System und Umwelt angesiedelt. Da sie Teil kirchlicher Organisation ist, muss auch sie sich fragen, ob sie selbst der doppelten Beziehung zur Welt und zu Gott entspricht:

Kirchliche Leitung arbeitet nicht nur im, sondern auch am System.

  • Ist kirchliche Leitung den äußeren Herausforderungen gewachsen?
    • Ist sie technisch leistungsfähig genug?
    • Hat sie die notwendigen Informationen? Ist sie nach Innen und Außen wahrnehmungsstark genug?
    • Ist die Führungskultur zeitgemäß? Etc.
  • Gelingt es ihr, die für Kirche normativen Sinn- und Werthorizonte in den Prozess der Entscheidungsfindung einzuspielen? Leistet es kirchliche Leitung, kirchliche Organisation so zu gestalten, dass die Kirche als Handlungsgemeinschaft zeugnisstark Kirche sein kann, dass durch ihr Handeln ihr Grund Jesus Christus und ihre Bestimmung durchscheinen, dass Menschen spüren, dass Jesus Christus Herr der Kirche ist, dass es der Glaube an ihn ist, der in Worten und Taten Gestalt annimmt?

Diese Frage nach der spezifisch kirchlichen Funktionalität von Leitung stellt sich zu allen Zeiten. Wie ist sie aktuell zu beantworten?

3. Kirchliche Leitungsmodelle

3.1 WAR-Analyse: Leitung als Bürokratie / Verwaltung

Fast vier Jahrhunderte waren die Landeskirchen Staatskirchen. Ihre Leitung war eng mit der Entwicklung staatlicher Bürokratie verknüpft, die sie bis heute prägt.

Abb. 3: Pyramidale Grundstruktur bürokratischer Leitung

Die Grundform bürokratischer Leitung ist pyramidal: ein an der Spitze gebildeter Wille soll bis auf die untere Ebene durchgesetzt werden durch fachlich geschultes Personal, dessen Handeln durch Rechtsförmigkeit geprägt und legitimiert wird. Legitimität ist kameralistisch durch regelkonforme Mittelverwendung und politisch durch rückblickende Berichte nachzuweisen.

Zu den Stärken bürokratischer Leitung zählt ihr rationaler, Fachwissen zur Anwendung bringender Charakter. Die Einheitlichkeit der Leitung ermöglicht ein zusammenstimmendes Leitungshandeln.

Die Grundmotive der Genehmigung und Aufsicht verlangsamen die Prozesse und fördern ein regelgebundenes, eher reaktives Verhalten.

Ihre Schwächen resultieren daraus, dass Legitimitäts- und Herrschaftsaspekte wichtiger sind als Effektivitäts- und Effizienzüberlegungen. Die Grundmotive der Genehmigung und Aufsicht verlangsamen die Prozesse und fördern ein regelgebundenes, eher reaktives Verhalten. Antizipation und Zukunftsorientierung sind nicht verboten, aber konzeptionell nicht angelegt. Planung, Koordination, Konzeption, Umweltbeobachtung, Instrumente zur Frühwarnung vor schwierigen Entwicklungen oder zur Anbahnung von Innovationen  sind nicht ausgeschlossen, aber im Konzept als solchem nicht vorgesehen. Dort haben vielmehr Regelgebundenheit, Kontrollieren/Beaufsichtigen und nachgängige Krisenintervention ihren Platz.

In einer dynamischen Umwelt besteht das entscheidende Defizit von Leitung als Verwaltung in der fehlenden Zukunftsperspektive und der Starrheit des Systems. Lokale Unterschiede, schnelle Veränderungen, die kurzfristige Reaktionen erfordern, können von regelgebundenem Verwaltungsdenken und stark zentralisierten Verwaltungen weniger gut bewältigt werden.

In einer dynamischen Umwelt besteht das entscheidende Defizit von Leitung als Verwaltung in der fehlenden Zukunftsperspektive und der Starrheit des Systems.

Und unter den Bedingungen von Heterogenität erweist es sich als Problem, dass bürokratische Leitung zu einheitlichen Regelungen und auch einheitlichen Konzepten neigt, die dann in einer ganzen Landeskirche einheitlich umgesetzt werden (sollen), auch wenn die Gemeinden und Dekanate jeweils an unterschiedlichen Punkten ihrer Entwicklung sind und in unterschiedlichen Kontexten agieren.

Schiebt sich die Abarbeitung bürokratischer Vorgänge in den Vordergrund, kann dies kirchliche Leitungsgremien von der Wahrnehmung ihrer zukunftsgestaltenden Aufgaben geradezu abhalten.

Steuerung über Recht und Finanzen

Bürokratien steuern über gesetztes Recht, das durch Verwaltungsakte zur Anwendung gebracht wird. Dies hat jedoch Grenzen: die notwendige Abstraktion von Einzelfällen mindert die Steuerungseffizienz. Es gibt Präventions- und Vollzugsdefizite. Ungeklärt ist häufig schon, wer für die Umsetzung von Recht verantwortlich ist. Hinzu kommt das time-lag-Problem. Neue Sachverhalte entziehen sich gesetzlichen Regelungen, Leitungen können aber oftmals nicht warten, bis rechtliche Regelungen vorhanden sind. So werden Fakten geschaffen.

Die Grenzen einer Steuerung über Finanzen zeigen sich spätestens, wenn geringere finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen.

Die Grenzen einer Steuerung über Finanzen zeigen sich spätestens, wenn geringere finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Finanz- oder Haushaltssteuerung ist ein übliches und nicht aufgebbares Mittel politischer Steuerung. Damit ist aber bereits gesagt, dass der Anwendung dieses Mittels eine politische Willensbildung vorausgehen muss.

3.2 IST-Analyse: Leitung funktional-differenziert

Seit den 1960er Jahren wurden kirchliche Verwaltungen stark ausgebaut. Der Grund liegt in der Art und Weise, wie Landeskirchen und Bistümer auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Differenzierung reagierten: mit dem Nachbau gesellschaftlicher Differenzierung durch zielgruppen- und themenspezifische „Angebote“.

Dabei griff das Additionsprinzip „neue Aufgabe / neues Thema – neue Stelle / neuer Dienst“.

Weil Koordination auf der mittleren Ebene nicht vorgesehen ist, kommt es zu sog. „Kamineffekten“: alle Probleme an der Basis wandern an die Spitze – und führen dort zur Überlastung. Stäbe und neue Abteilungen sollen Abhilfe schaffen und blähen die zentralen Behörden auf.

Die gestiegenen Anforderungen aus der zunehmenden Verrechtlichung, der höheren Zahl an Parochien, den immer zahlreicheren Kindertagesstätten und die Ausweitung funktionaler Handlungsfelder – durch die als Chance kirchlichen Handelns wahrgenommene subsidiäre Finanzierung – führte zu mehr Mitarbeitenden, mehr Baubestand – und mehr Verwaltung.

Die Grundsätze bürokratischer Leitung blieben dabei erhalten, erfuhren durch die Ausdifferenzierung der Handlungsfelder jedoch eine entscheidende Veränderung. Angesichts der Vielzahl der Aufgaben musste die Einheitlichkeit der Leitung aufgegeben werden.

Abb. 4: Funktional-differenzierte Landeskirche (idealtypisch)

Wurden bis dahin in den obersten Leitungsgremien sehr viele Entscheidungen kollegial gefällt, übertrug man sie nun aufgrund ihrer zunehmenden Anzahl, um der zeitlichen Beschleunigung und ebenso der Erfordernis spezialisierten Sachverstands willen auf Einzelne, so dass die Gremien in Grundsatzfragen entschieden, die Leiter der Abteilungen aber »Dezernatsentscheidungen« über die täglichen Sachfragen fällten. Die Abteilungen entfalten ein stärkeres Eigenleben, es kommt zu »Versäulungen«, die sich auf der mittleren Ebene fortsetzen, wo Gemeinden, Jugendzentralen, Sozialstationen, Kindertagesstätten etc. unverbunden nebeneinanderstehen.

Weil Koordination auf der mittleren Ebene nicht vorgesehen ist, kommt es zu sog. „Kamineffekten“: alle Probleme an der Basis wandern an die Spitze – und führen dort zur Überlastung. Stäbe und neue Abteilungen sollen Abhilfe schaffen und blähen die zentralen Behörden auf.

Während in den Kirchengemeinden bis in die 1970er Jahre hinein der Pfarrer als »Geistlicher Leiter der Gemeinde« die Entscheidungen traf, wird Leitung in der »additiven Gemeinde« (Christian Möller) von vielen ausgeübt: den Unterausschüssen des Presbyteriums wie auch den unverbunden nebeneinanderstehenden Funktionen und Gruppen mit ihren jeweiligen Leitungen.

Während im Kirchenbezirk der parochialen Phase Steuerung auf der Ebene des Teilsystems Parochie stattfand und der Dekan im Pfarrkonvent die Parochien im Gespräch mit deren Geschäftsführern koordinieren konnte – sofern es etwas zu koordinieren gab –, kommen nun nichtparochiale Dienste hinzu. Eine Koordinierung von Parochien und funktionalen Einrichtungen wird nicht systematisch angestrebt und ist nicht institutionalisiert. Selbst dort, wo diese Dienste in den Synoden vertreten sind, zeigen sich Versäulungstendenzen.

Eine Koordinierung von Parochien und funktionalen Einrichtungen wird nicht systematisch angestrebt und ist nicht institutionalisiert. Selbst dort, wo diese Dienste in den Synoden vertreten sind, zeigen sich Versäulungstendenzen.

 

Auf allen Ebenen kommt es zu einer Differenzierung der Leitung – erkennbar an einer sprunghaften Vermehrung von Gremien, Sitzungen und Abstimmungsverfahren – bei gleichzeitiger Ermangelung integrierender Leitungsstrukturen, die die verschiedenen Teilinteressen in eine Gesamtperspektive stellen und die Aktivitäten der Teilbereiche sinnvoll aufeinander beziehen würde.

Die Folgen sind mangelnde Abstimmung und Zusammenarbeit der einzelnen Einrichtungen untereinander und mit den Parochien, bis dahin, dass unterschiedliche Dienste ähnliche Angebote machen. Doppel- und Dreifachangebote erscheinen in dieser Perspektive als Folge differenzierter Leitung.

Steuerung über Berufsrollen

In der Differenzierungsphase erfolgt Steuerung über die Entwicklung von Strukturen – „Stellen“ werden eingerichtet – und die Spezialisierung von Mitarbeitenden.

Weil Ziele und Strategien fehlen, sind Personen Programme („Diese Stelle ist das, was Du aus ihr machst.“ „Unser neuer Pfarrer macht das jetzt anders.“). Dem korrespondiert eine unklare Aufgabenbeschreibung, die sich in der Formulierung »Mach mal« ausdrückt und persiflierend als »Management by Mach mal« bezeichnet wurde.

Die Anforderungen an das Kompetenzprofil der Mitarbeitenden tendieren ins Unendliche und sind von einer Person nicht mehr zu leisten (»eierlegende Wollmilchsau«).

Auch diese Art der Steuerung setzt eine relativ statische Situation voraus. Weil die eigentliche Steuerungsleistung über die Berufsrolle erfolgt, soll der eine Mitarbeiter mit allen Situationen umgehen können und widersprüchlichste Kompetenzen und Rollenerwartungen in sich vereinigen. Dennoch nötige Veränderungen und Anpassungen werden primär dem Einzelnen und seiner Berufsrollenentwicklung zugewiesen. Steigen Umweltdynamik und -komplexität, überlastet diese Art der Steuerung die Amtsinhaber, insbesondere wenn sie mit Ressourcenrückgängen verbunden ist. Die Anforderungen an das Kompetenzprofil der Mitarbeitenden tendieren ins Unendliche und sind von einer Person nicht mehr zu leisten (»eierlegende Wollmilchsau«).

Managementprobleme als Probleme der arbeitsteiligen Zusammenarbeit werden als solche nicht erkannt, was zu einer Personalisierung von Problemen wie auch Lösungen führt, die weder den Personen noch den Aufgaben gerecht wird.

Spätestens wenn aufgrund des Kaufkraft- und Personalrückgangs Stellen abgebaut werden müssen, zeigt sich, dass der binnenkirchliche Nachbau gesellschaftlicher Differenzierung als Handlungsmuster an seine Grenzen stößt und eine Steuerung kirchlicher Arbeit nicht mehr über Berufsrollen erfolgen kann.

Stärken und Schwächen

Die Stärke funktional-differenzierter Leitung besteht in ihrer hohen Sachkompetenz, die fachlich qualifizierte Entscheidungen ermöglicht. Und sie versetzt alle landeskirchlichen Ebenen in die Lage, die zahlreichen Innen- und Außenbeziehungen wahrzunehmen, etwa die Kommunikation mit anderen Organisationen und staatlichen Stellen.

Kohärente und integrierte zukunftsorientierte Strategien und Konzepte fehlen. Nichttheologische Sachkompetenzen sind deshalb auch nicht theologisch integriert. Leitung verfängt sich im Operativen, Theologie wird ortlos.

Als zentrale Schwäche funktional-differenzierter Leitung erweist sich ihre Desintegration. Die funktionale Differenzierung von Aufgaben und Leitung bei gleichzeitigem Fehlen von Integralfunktionen reduziert die Steuerbarkeit der Systeme und des Gesamtsystems. Die desintegrierte Leitung des Differenzierungsmodells denkt von der eigenen Funktion aus, nicht vom Ganzen, nicht vom lebensweltlichen Bedarf, nicht von zukünftigen Herausforderungen her. Kohärente und integrierte zukunftsorientierte Strategien und Konzepte fehlen. Nichttheologische Sachkompetenzen sind deshalb auch nicht theologisch integriert. Leitung verfängt sich im Operativen, Theologie wird ortlos.

Die Gefahr der Fremdbestimmung durch subsidiäre Fremdfinanzierung ist hoch. Funktional-differenzierte Leitung ist teuer. Für dynamische und komplexe Umwelten hat sie eine zu geringe Wahrnehmungs- und Steuerungskraft und agiert in zu kurzen Zeithorizonten.

Fazit

Das Bürokratiemodell und die funktional-differenzierte Leitung sind nicht mehr leistungsfähig genug für die aktuellen Probleme des multiplen Ressourcenrückgangs bei weitergehender gesellschaftlicher Differenzierung resp. gesteigerter Komplexität und Dynamik. Die weitergehende gesellschaftliche Differenzierung kann nicht mehr durch den Versuch ihres Nachbaus bewältigt werden. Staatsanaloge Kirchenbilder erweisen sich als obsolet.

3.3 SOLL-Konzept: Von der Verwaltung zur Gestaltung

Wie können die Landeskirchen – und Bistümer – zukünftig mit innerkirchlicher und gesellschaftlicher Differenzierung umgehen? Indem sie ihr Reaktionsmuster verändern und Eigen- und Umweltkomplexität durch Entwicklung, also Veränderung im Zeitlauf, verarbeiten („semper reformanda“). Entwicklung vollzieht sich durch Politik-, Strategie- und Konzeptentwicklung und ihre Umsetzung.

Entwicklung vollzieht sich durch Politik-, Strategie- und Konzeptentwicklung und ihre Umsetzung.

Geschieht Leitung in hohem Maße über Berufsrollen, steht die Führung der einzelnen Mitarbeitenden im Fokus des Leitungshandelns. Kirchliche Leitung kann sich aber nicht auf interpersonales Führungshandeln beschränken, wenn das gesamte kirchliche System an seine Grenzen stößt und sein Verhältnis zur internen und externen Umwelt prekär wird. Sie ist deshalb zu verstehen und zu konzipieren als Gestaltung, Entwicklung und Lenkung ganzer kirchlicher Organisationen und Organisationseinheiten – in ihrer Umwelt!

Steuerung durch Entwicklung einer Kirchenpolitik, strategischer Ziele und (auftrags- und lebensweltorientierter) Konzepte gewinnt nun erst ihre volle Bedeutung.

Steuerung durch Kirchenpolitik

Mit dem Begriff Kirchenpolitik war zunächst die die Kirchen betreffende Politik des Staates gemeint, zwischenzeitlich das Verhalten der Kirchenleitungen gegenüber dem Staat. Zukünftig wird Kirchenpolitik als eine elementare Funktion im Leben der Kirche verstanden, in der es primär um Selbstgestaltung geht, die sich als Innen- und Außengestaltung auch auf den Staat und die gesamte kirchliche Umwelt bezieht.

Der Begriff der Kirchenpolitik wird momentan fast ausschließlich auf die landeskirchliche Ebene bezogen. Von zentraler Bedeutung ist jedoch die Einsicht: kirchliche Leitung ist eine Systemfunktion, die an vielen Stellen im System wahrgenommen wird und werden muss. Deshalb kommen auch Gemeinden, regionale Einheiten und Dekanate nicht umhin, eine Kirchen- resp. Gemeinde- oder Dekanatspolitik zu entwickeln.

Jede Kirchenpolitik dient letztlich – wie auch die Theorie der Kirchenpolitik – der Ermöglichung zeugnisstarken christlichen Lebens in je unterschiedlichen sozialen Gestalten in je unterschiedlichen Kontexten.

Kirchenpolitik unterliegt spezifischen Bedingungen und steht in theologisch qualifizierten Bezügen. Kirchliche Leitung hat ihre Orientierung in Grund, Gestalt und Bestimmung der Kirche als einer nichtvariablen externen Vorgabe. Während die Willensbildung im nichtkirchlichen Bereich einer Zweck-Mittel-Relation verpflichtet ist, weiß kirchliche Willensbildung, dass sie bestenfalls in aller Vorläufigkeit zeugnishaft Gottes Heilswillen entspricht. Sie vollzieht sich deshalb als Frage nach Entscheiden, die der Richtung von Gottes Heilswillen entsprechen.

Jede Kirchenpolitik dient letztlich – wie auch die Theorie der Kirchenpolitik – der Ermöglichung zeugnisstarken christlichen Lebens in je unterschiedlichen sozialen Gestalten in je unterschiedlichen Kontexten.

Vier elementare Orientierungen der Kirchenpolitik

Kirchenpolitik steht im Spannungsfeld von Herkunft und Zukunft, von Innen und Außen. Jede kirchliche Aktivität und Lebensgestalt nimmt nolens volens Stellung zu diesen vier elementaren Orientierungsrichtungen kirchlichen Lebens.

Herkunftsbezug

Im Herkunftsbezug vergewissert sich eine Kirche ihrer Grundorientierung und Motivation, indem sie sich auf ihren Grund zurückbezieht: Das Handeln Gottes in Jesus Christus.

Sie lebt konstitutiv aus ihrem Bezug zu Person, Wort, Werk, Weg und Geschick Jesu von Nazareth, das nicht mit ihr identisch ist, sondern ihr kritisch gegenüber steht. Das innere Motiv kirchlichen Lebens ist deshalb keine Angelegenheit menschlichen Wollens. Es speist sich aus der Frage: Was sollen wir? Es lebt aus dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe, mit denen Christus die Seinen auf den Weg hinein in den Horizont des heilvoll anbrechenden Reiches Gottes schickt.

Für kirchliche Leitungsarbeit ist der Herkunftsbezug bleibend konstitutiv und bildet zusammen mit dem Zukunftsbezug die innere, „theologische Achse“ (Alfred Jäger), von der her und auf die hin kirchliches Leben und Handeln je wieder seine Mitte, Orientierung und Identität findet. Dies ist eine permanente Aufgabe.

Zukunftsbezug

Kirchenpolitik ist zukunftsgerichtete menschliche Antwort auf Gottes Wort, in dem Gottes Heilswillen mit der Welt laut wird. Sie rechnet mit und hofft auf Gottes in die Zeit einbrechendes Handeln (kairos). Kirchenpolitik nimmt im Zukunftsbezug die Wirklichkeit von Kirche und Welt im Horizont des kommenden Reiches Gottes wahr, in ihren Risiken und ihren Chancen.

Kirchenpolitik nimmt im Zukunftsbezug die Wirklichkeit von Kirche und Welt im Horizont des kommenden Reiches Gottes wahr, in ihren Risiken und ihren Chancen.

Im Zukunftsbezug reflektiert Kirche, wie sie mit ihrem Verkündigungs-, Bildungs-, Hilfe- und Gerechtigkeitshandeln zum Zeugnis für Gottes Heilswillen werden kann. Sie bedenkt, wohin es gehen soll in kürzeren, mittleren und langen Zeithorizonten, welche nach Innen und Außen gerichteten Ziele und Programme jeweils angezeigt sind.

Innenbezug

Kirchenpolitik nach Innen ist Selbstgestaltung hinsichtlich der zentralen Handlungsfelder – Verkündigung, Bildung, Hilfe, Gerechtigkeit – auch durch die entsprechenden (Rahmen-) Strategien und Konzepte zu Finanzen, Leitung, Personal, Öffentlichkeitsarbeit.

Außenbezug

Um Chancen und Risiken einer kirchenpolitischen Rahmengestaltung und Umweltpolitik in den Blick zu bekommen, ist vor allem Handeln eine entsprechende Wahrnehmung der Umwelt nötig. Dabei können die ökologische, ökonomische, soziale, staatliche, kulturelle, religiöse und ökumenische Sphäre unterschieden werden.

Abb. 5: Vier elementare Orientierungen der Kirchenpolitik, drei Leitfragen

Leitbilder und strategische Konzepte als kirchenpolitische Instrumente

Ein Leitbild beantwortet die drei zentralen kirchenpolitischen Leitfragen:

  1. Wer sind wir? fragt nach der Corporate Identity. Wer ist unser Kirchenkreis? Verwaltungseinheit oder selbst Kirche? Ist unsere Kirchengemeinde »Versorgungseinheit« oder zivilgesellschaftliche Akteurin? Versteht sich die Region als große Parochie oder als Netzwerk der Kommunikation und Praxis des Evangeliums?
  2. Was sollen/wollen wir?
    „Sollen“ meint: Wie hören wir die Verheißungen Gottes in unserer konkreten Situation? Wie verstehen wir unsere Bestimmung, Zeichen des Reiches Gottes zu sein, am jeweiligen Ort? Was halten wir hier für unsere Sendung?
    „Wollen“ fragt: An welchen Zielen richten wir unser Handeln in den nächsten Jahren aus (Leitziele), um so kirchliches Leben im Sinne seiner Bestimmung zu ermöglichen und zu gestalten?
  3. Wohin soll es gehen? ist die eigentliche Leitbildfrage. Wo wollen »wir« in fünf, zehn, 15 Jahren mit unserer Gemeinde, unserer Region, unserem Kirchenbezirk sein und wie wollen wir dann sein? Was ist unsere Vision, die wir pragmatisch angehen?

Insbesondere die letzte Frage macht deutlich: die zentrale Aufgabe kirchlicher Leitung in dynamischen und komplexen Umwelten und in Zeiten epochalen Wandels ist das Vor-Denken. Die Qualität kirchlicher Leitung zeigt sich gerade darin, dass sie sich frühzeitig mit strategischem Weitblick den Zukunftsherausforderungen zum Zweck vorausschauender Erneuerung stellt.

Die zentrale Aufgabe kirchlicher Leitung in dynamischen und komplexen Umwelten und in Zeiten epochalen Wandels ist das Vor-Denken.

Grundlegende Veränderungen eines dynamischen Umfeldes und komplexe Probleme lassen sich mit kurzfristigen operativen Maßnahmen nicht bewältigen. Deshalb ist die Einübung eines längerfristigen Zeithorizonts unabdingbar.

Konkretion in Konzepten

Leitbilder bleiben unwirksam, wenn sie nicht in Konzepten konkretisiert werden. Konzepte verknüpfen Ziele mit Verfahren der Zielerreichung und den notwendigen Mitteln.

Im Zentrum der Konzeptionsentwicklung stehen die Handlungsfelder, die Kirche nicht vernachlässigen kann: Verkündigung, Bildung, Hilfe, Gerechtigkeit. Um auf diesen Feldern handeln zu können, braucht sie aber auch Finanzen, Mitarbeitende und Leitung – und dazu jeweils Konzepte. Die Umweltbeobachtung fasst sie in einem Umweltkonzept zusammen1.

Abb. 6: Leitungsinstrumente im kirchenpolitischen Bezugsnetz

Kirchliches Controlling

In dynamischen und komplexen Kontexten führt das eigene Handeln unvermeidlicherweise zu nicht erwünschten Folgen. Damit das Kirchenschiff zwischen seiner Herkunft Jesus Christus und seiner Zukunft im Reich Gottes seinem Auftrag treu bleibt, bedarf es nach der Kursbestimmung deshalb kontinuierlicher Steuerung, die auf Winde und Strömungen reagiert und das Schiff auf gutem Kurs hält: Controlling.

Im Zentrum stehen die Fragen: Haben wir uns dem Leitbild in Teilen und im Ganzen genähert, sind wir stehen geblieben oder sind wir gar hinter die eigenen Ziele zurückgefallen? Sind unsere Prämissen und die darauf beruhenden Ziele und Leitvorstellungen weiterhin tragfähig oder müssen sie angepasst werden?

Wichtiger aber ist die Fähigkeit, zu Veränderungen durch Strategien und Konzepte Stellung nehmen und sich positionieren zu können. Denn diese Fähigkeit gewährleistet, dass Kirche handlungsfähig im Sinne ihres Auftrages bleibt und ihrer eigenen Sendung folgen kann – auch und gerade, wenn sich die Bedingungen ändern.

Für Kirche spezifisch ist das normative Controlling, das die Rückbindung an Jesus Christus und die Vor-Bindung zum Reich Gottes herstellt: Entsprechen die Ergebnisse und Wirkungen unseres Handelns unserem Grund Jesus Christus und unserer Bestimmung, Zeichen des Reiches Gottes zu sein?

Nicht nur neue Konzepte, sondern die Fähigkeit zur Konzeptentwicklung

Warum ist diese neue Art der Selbstgestaltung durch Politik-, Strategie- und Konzeptentwicklung wichtig? Weil niemand die Zukunft kennt und sich unter der Bedingung hoher Komplexität die Verhältnisse sehr schnell ändern können. Und weil niemand weiß, wie sich Christinnen und Christen dann positionieren wollen und welche Gestalt sie als ihrem Auftrag gemäße ansehen, braucht es in den Kirchen eine gesteigerte Selbstgestaltungskompetenz.

Deshalb sind neue Konzepte zwar wichtig. Wichtiger aber ist die Fähigkeit, zu Veränderungen durch Strategien und Konzepte Stellung nehmen und sich positionieren zu können. Denn diese Fähigkeit gewährleistet, dass Kirche handlungsfähig im Sinne ihres Auftrages bleibt und ihrer eigenen Sendung folgen kann – auch und gerade, wenn sich die Bedingungen ändern.

  1. Nähere Erläuterungen zur Entwicklung neuer Konzepte kirchlichen Lebens in sieben Schritten und ein Beispiel in: Schramm, Steffen/Hoffmann, Lothar, Gemeinde geht weiter. Theorie- und Praxisimpulse für kirchliche Leitungskräfte, Stuttgart 2017, 85ff.

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