022017

Konzept

Ralf-Peter Reimann

Alan Turing und theologische Anthropologie

Digitalisierung ist in aller Munde, nicht nur in der Politik, auch in der Kirche. Nachdem die Chancen für einen Früheinstieg verpasst sind, reden nun alle von Digitalisierung. Wir nehmen den Umbruch wahr, ohne schon genau absehen zu können, wohin uns die Digitalisierung bringt. Seit Beginn des Jahres gibt es im Netz unter dem Hashtag #digitaleKirche eine breite Diskussion, auch wenn der Fokus stark auf die Nutzung von Social Media für kirchliche Arbeit gelegt ist, ein guter Überblick über die Diskussion findet sich bei evangelisch.de.

So wie die industrielle Revolution die Agrargesellschaft abgelöst hat, bringt die Digitale Revolution den Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. Wasser- und Dampfkraft charakterisierten in der (ersten) industriellen Revolution die Produktion, die Massenproduktion in der (zweiten) industriellen Revolution wurde durch die Nutzung der Elektrizität möglich, durch Information verändert die digitale Revolution die Dienstleistungen und Produktion fundamental. Aufgrund der Informatisierung der Gesellschaft und des Hinterlassens von Datenspuren durch Nutzerinnen und Nutzern der Dienstleistungen und Produkte entstehen immense Datenmengen. Die Analyse solcher „big data“ lässt genaue Rückschlüsse auf menschliches Verhalten in der Informationsgesellschaft zu.

Wie sollen Digital Natives am Gemeindeleben teilnehmen, wenn die Kirche strukturell (zumindest in Deutschland) am Parochialprinzip festhält und keine Online-Gemeinden anbietet?

Die industrielle Revolution hat die Kirche verschlafen, lange hat sie gebraucht, um theologische Antworten auf Marxismus und Kapitalismus zu finden, und gesellschaftlich hat sie die Arbeiterschaft in den neu entstandenen Großstädten verloren. Heute stehen wir vor einer ähnlichen Situation. Wie sollen Digital Natives am Gemeindeleben teilnehmen, wenn die Kirche strukturell (zumindest in Deutschland) am Parochialprinzip festhält und keine Online-Gemeinden anbietet? Aber auch theologisch bzw. medienethisch sind Schlüsselthemen der Digitalisierung nicht reflektiert. Was bedeutet Digitalisierung theologisch? Welche Positionen lassen sich zu Netzneutralität, Open Data, Open Knowledge, Free Software, Big Data Analytics und Privacy aus der Theologie heraus entwickeln, um nur einige Fragenkomplexe zu nennen.

Die durch die Digitalisierung entstehenden Fragen kommen in verschiedenen Kontexten immer wieder hoch. Da ich seitens der akademischen Theologie keine befriedigenden Antworten finde, greifen wir in Veranstaltungen zur Digitalisierung auf den Begriff der „Datensouveränität“ zurück. Allerdings der Rekurs auf die in diesem Begriff impliziten Werte wie Selbstbestimmung und Autonomie im Umgang mit Daten sind nicht spezifisch christlich oder theologisch – oder gibt es keine spezifischen theologischen Umgang in Bezug auf Digitalisierung? Zu wissen, es gibt keine spezifisch theologische Antwort (etwa weil diese Fragen innerhalb der lutherischen Zwei-Regimente-Lehre beim weltlichen Regiment verortet wären) wäre bereits ein Erkenntnisgewinn, dazu muss aber der Diskurs geführt sein.

Ich erlebe aber, wir stehen noch am Anfang. Ich bin Theologe und Informatiker von meiner Profession her, nehme aber keinen Dialog zwischen beiden Disziplinen wahr. Das Wirken des Heiligen Geistes mit Schwarmintelligenz zu identifizieren findet sich zwar bereits in einigen Pfingstpredigten (und ließe sich auch gut mit Schleiermacher theologisch unterfüttern, wenn man das kollektive Bewusstsein mit Manifestationen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühles identifiziert), aber mir geht es um grundlegende anthropologische Fragen: Was ist der Mensch und wie verhält sich das christliche Menschenbild zu Erkenntnissen aus der Informatik.

Die Entwicklungen in der Informatik stellen auch die anthropologische Fragen neu: Was ist der Mensch?

Der britische Mathematiker Alan Turing(1912 – 1954)1 war einer der Pioniere der Informatik, die Turing-Maschine, der Turing-Test und die Church-Turing-These sind nach ihm benannt. Der Turing-Test ist eine Möglichkeit, Menschen von Maschinen zu unterscheiden, es gibt heute Maschinen, die den Turing-Test bestehen, d.h. sie sind in ihren Interaktionen nicht mehr von realen Menschen zu unterscheiden.

Im Zuge des Turing-Tests2 führt ein menschlicher Fragesteller über eine Tastatur und einen Bildschirm ohne Sicht- und Hörkontakt mit zwei ihm unbekannten Gesprächspartnern eine Unterhaltung. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Beide versuchen, den Fragesteller davon zu überzeugen, dass sie denkende Menschen sind. Wenn der Fragesteller nach der intensiven Befragung nicht klar sagen kann, welcher von beiden die Maschine ist, hat die Maschine den Turing-Test bestanden, und es wird der Maschine ein dem Menschen ebenbürtiges Denkvermögen unterstellt. Diese ursprüngliche Version des Turing-Tests ist auf chatbasierten Dialog ausgerichtet, es gibt erweiterte Tests, die multimediale Inhalte statt Chats zugrunde legen. Auch wenn man beim konkreten Einzelfall streiten kann, ob der Turing-Test von einer Maschine erfüllt wurde wie im Falle des Chatbots Eugene3, so zeigen neueste Forschungsergebnisse der Künstlichen Intelligenz, dass mithilfe neuronaler Netze Maschinen eine Intelligenz in bestimmten Bereichen haben, die menschlicher Intelligenz weit überlegen ist.4

Diese Entwicklungen in der Informatik stellen auch die anthropologische Fragen neu: Was ist der Mensch?

Im 21. Jahrhundert werden vernetzte Systeme und Algorithmen Entscheidungen treffen, die unrevidierbare Entscheidungen für die gesamte Erde und Menschen treffen, und die menschlicher Kontrolle entzogen sind.

Theologisch zeichnet den Menschen seine Gottesebenbildlichkeit aus, er ist Gottes Gegenüber und kann mit Gott kommunizieren. In Psalm 85 wird der Mensch in Beziehung gesetzt zu Gott und zu den anderen Lebewesen der Schöpfung gesetzt, er ist wenig geringer als Gott und selbst Herrscher über die Schöpfung. Mathematische Begriffe wie diskret oder kontinuierlich finden sich natürlich nicht im Weltbild der Menschen im Altertum. Bei der Beschreibung der Natur und Umwelt stellt sich die Frage, ob diese Aufzählungen Abstufungen oder fließende Übergänge beschreiben, ganz zu schweigen davon, wie und wo durch Künstliche Intelligenz gesteuerte Maschinen in der Reihung Himmel, Mond, Sterne, Fische, Vögel, wilde Tiere, Schafe, Rinder, Mensch, Gott einzuordnen sind. Gegenüber der Schöpfung zeichnet sich der Mensch aus, dass er „Herr“ über sie ist. Die Herrschaft des Menschen war in der Vergangenheit immer auch örtlich begrenzt. Im  20. Jahrhundert erweiterte sich die Verfügungsgewalt soweit, dass der Mensch die Zerstörung der Erde in der Hand hatte. Aber es waren immer noch Menschen, die die Verfügungsgewalt ausübten. Im 21. Jahrhundert werden vernetzte Systeme und Algorithmen Entscheidungen treffen, die unrevidierbare Entscheidungen für die gesamte Erde und Menschen treffen, und die menschlicher Kontrolle entzogen sind. Das dominium terrae – den Auftrag die Erde zu bebauen und zu beherrschen aus dem ersten Schöpfungsbericht in Genesis 1 – werden Maschinen innehaben, die von Menschen gebaut wurden, aber von diesen nicht mehr verstanden werden. Während im Altertum Menschen Werkzeuge nutzen, um sich die Erde urbar zu machen, sind die Werkzeuge nun intelligenter geworden als die, die sie erschaffen haben. Sind durch künstliche Intelligenz gesteuerte Maschinen noch auf Seiten der Schöpfung einzuordnen, über die der Mensch Herrschaft ausübt, oder müssen diese Maschinen zwischen Mensch und Gott platziert werden, da ihre „Herrlichkeit“, die der Menschen übersteigt? Oder gehören sie gar nicht in diese Reihung, wohin dann aber? Was, wenn Maschinen nicht mehr von Menschen zu unterscheiden sind? Was heißt das für Chatbots, bei denen der menschliche Gesprächspartner nicht weiß und nicht wahrnehmen kann, ob er mit einem Bot oder einem Menschen redet?

In Dialogsituation werden auf Websites und Apps Chatbots eingesetzt, den interagierenden Nutzerinnen und Nutzern ist oft nicht bekannt oder bewusst, mit wem sie im Gespräch sind, es gibt auch hybride Systeme, in denen für die Gesprächspartnerinnen und –partner ohne deren Wissen zwischen Bots und Menschen gewechselt wird. Im Marketing und in der Kundenberatung werden Bots eingesetzt, weil sie billiger sind, als reale Menschen. Marketing-Fachleute berichten, dass es auf Kundenseite in der Wahrnehmung irrelevant ist, ob ein Bot oder ein Mensch den Dialog führt, wenn das Gespräch zum gewünschten Erfolg führt. Mit anderen Worten, den meisten Menschen ist es egal, mit wem sie ein Gespräch führen, solange das Gesprächsergebnis stimmt. Dies sind Erfahrungen aus dem Marketing- und Service-Bereich, wo Kommunikation bereits medial vermittelt –  via Telefon / Voice oder Chat und Email –erfolgt, das Gegenüber also nicht in seiner Leiblichkeit präsent ist. Fortschritte in VR bzw. AR (Virtual / Augmented Reality, virtuelle / erweiterte Realität) werden die Wahrnehmung entsprechend erweitern, dass der Unterschied  in der Empfindung, ob ein Gegenüber körperlich oder medial vermittelt präsent ist, immer geringer wird. Wenn die Wahrnehmung des Gegenübers aber weniger von dessen tatsächlicher körperlicher Gegenwart abhängt, wird die leibliche Präsenz nicht das entscheidende Kriterium sein, sondern das Wissen um die leibliche Präsenz des Gegenübers, mit anderen Worten, mein Gegenüber wird mir deshalb zum Menschen, weil ich weiß, dass er ein Menschen und kein Bot ist.

Für den Vergleich von Menschen und Maschinen folgt daraus, dass es nicht eine etwaige Unter- oder Überlegenheit entscheidend ist, sondern ihnen ihr Mensch- oder Maschinesein inhärent ist

Anthropologisch bedeutet dies, dass Menschsein nicht an bestimmten – wahrnehmbaren – Eigenschaften festzumachen ist, sondern als solches gegeben ist. In der Sprache des Psalmisten also:  der Mensch wird zum Menschen dadurch, dass Gott seiner gedenkt, er also in Gottes Gedanken (wenn man diese anthropomorphe Sprache bemühen kann) ein Mensch ist.

Für den Vergleich von Menschen und Maschinen folgt daraus, dass es nicht eine etwaige Unter- oder Überlegenheit entscheidend ist, sondern ihnen ihr Mensch- oder Maschinesein inhärent ist; man könnte in philosophischer Sprache sagen, es gibt einen ontologischen Unterschied zwischen Mensch und Maschine, auch wenn unter Umständen ihre Akzidenzien gleich sein. Dieser ontologische Unterschied ist allerdings theologisch definiert, er ergibt sich aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Der Mensch ist Mensch, weil ihm die Gottesebenbildlichkeit innewohnt. Und eben diese Gottesebenbildlichkeit macht ihn zum Menschen. Dies ist natürlich ein Zirkelschluss – Gott macht den Menschen zum Menschen. Was Menschsein ausmacht, ist dem Menschen entzogen.

Zwischen Mensch und intelligentem Bot gibt es in deren Verhalten notwendigerweise keinen Unterschied, künstliche Intelligenz ermöglicht die Übernahme menschlicher Verhaltensmuster. Forschungen zu künstlichem Bewusstsein sind relativ neu, es gibt verschiedene Forschungsansätze, denen auch unterschiedliche philosophische Annahmen zugrunde liegen. Selbst Bewusstsein scheint einigen Ansätzen zufolge notwendigerweise nicht nur dem Menschen vorbehalten. Forschungen zu Künstlichem Bewusstsein (auch: Maschinenbewusstsein oder synthetisches Bewusstsein; engl. artificial consciousness bzw. machine consciousness oder synthetic consciousness) verstehen Bewusstsein als Folge von Interaktionen verschiedener Teile des Gehirns. Solche neuronalen Korrelate des Bewusstseins können von entsprechend konstruierten Maschinen emuliert werden. Bewusstseins so definiert, ist dann nicht auf den Menschen beschränkt, sondern auch in einer Maschine vorfindbar, Bewusstsein eignet sich daher nicht zur Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine.

Bewusstseins so definiert, ist dann nicht auf den Menschen beschränkt, sondern auch in einer Maschine vorfindbar, Bewusstsein eignet sich daher nicht zur Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine.

Während die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ein theologischer Unterschied zur Maschine ist, liegt ein weiterer anthologischer Unterschied in der Sterblichkeit des Menschen. Der Mensch altert. Wenn ihn nicht ein unzeitiger Tod aus dem Leben reißt, stirbt er im Alter. Die Sterblichkeit des Menschen ist Folge der Vertreibung aus dem Paradies und so konstitutiv für den Menschen. So könnte gerade die Sterblichkeit des Menschen – und damit seine Begrenztheit und Endlichkeit – der anthropologische Unterschied zur Maschine sein6

Eine Turingmaschine ist ein Modell der theoretischen Informatik, mit dem man verschiedene Berechnungsmethoden und Computer auf besonders einfache und mathematisch gut zu analysierende Weise modellieren kann. Sie ist benannt nach dem Mathematiker Alan Turing, der sie 1936 einführte. Eine Turingmaschine hat ein Steuerwerk, in dem sich das Programm befindet, und besteht außerdem aus einem unendlich langen Speicherband mit unendlich vielen Feldern, auf denen genau ein Zeichen gespeichert werden kann. Mit jedem Schritt liest der Lese-Schreib-Kopf das aktuelle Zeichen, überschreibt dieses mit einem anderen (oder dem gleichen) Zeichen und bewegt sich dann ein Feld nach links oder rechts oder bleibt stehen. Welches Zeichen geschrieben wird und welche Bewegung ausgeführt wird, hängt von dem an der aktuellen Position vorgefundenen Zeichen sowie dem Zustand ab, in dem sich das Steuerwerk der Turingmaschine gerade befindet. Dies wird durch eine zu der Turingmaschine gehörende Überführungsfunktion definiert. Zu Beginn befindet sich die Turingmaschine in einem vorgegebenen Startzustand und liest das erste Zeichen des auf dem Speicherband vorgegebenen Eingangswortes. Eine Berechnung besteht dabei aus schrittweisen Veränderung von Zeichen auf dem Speicherband, bei jedem Berechnungsschritt geht dabei die Turingmaschine in einen anderen Zustand über, bis die Turingmaschine nach erfolgter Berechnung stoppt. Eine Funktion, die so anhand einer Turingmaschine berechnet werden kann, wird Turing-berechenbar oder auch einfach berechenbar genannt.

Mit anderen Worten, Computer werden immer mehr berechnen können, es wird jedoch Probleme geben, die aufgrund der beschränkten Speichergröße nicht berechenbar sind.

Die Church-Turing-These (benannt nach Alonzo Church und Alan Turing) trifft Aussagen über die Fähigkeiten einer Rechenmaschine: „Die Klasse der turing-berechenbaren Funktionen stimmt mit der Klasse der intuitiv berechenbaren Funktionen überein.“ D.h. alles was überhaupt berechenbar ist, lässt sich auch mit einer Turing-Maschine berechnen. Dabei ist es unerheblich, welche Berechungsmethoden man zugrunde legt, da es mathematisch beweisbare Äquivalenzen zwischen Turingmaschinen und anderen Kalkülen gibt. Allerdings hat die Turing-Maschine ein unbegrenzt langes Speicherband. Die Äquivalenz zu tatsächlichen Computern besteht unter der Einschränkung, dass jeder Computer nur einen Speicher endlicher Größe hat. Auch wenn die Speicherkapazität modernen Computer (und auch ihre Rechenleistung) immer weiter wächst und auch ihre Rechenleistung immer größer wird, so wird es aufgrund der Endlichkeit des Speichers aller zu bauenden Computer Funktionen oder Probleme geben, die durch sie nicht berechnet werden können – auch wenn sie intuitiv (theoretisch) berechenbar wären. Mit anderen Worten, Computer werden immer mehr berechnen können, es wird jedoch Probleme geben, die aufgrund der beschränkten Speichergröße noch nicht berechenbar sind. Es wird daher bei wachsendem Speicher mehr geben, was sich berechnen lässt, aber aufgrund der Endlichkeit realer Computer werden sie nie alles berechnen können, was theoretisch zu berechnen wäre.

Die Auslieferung eines Produktes kann schon vor dessen Bestellung beginnen, weil Big Data Analytics vorhersagen kann, aus welchem Wohngebiet Menschen eine entsprechende Bestellung aufgegeben werden wird.

Big Data Analytics wird immer besser. Je größer sowohl die Datensammlung als auch die Rechenleistung zu schnellen Auswertung der Daten ist, je besser die Algorithmen sind, desto genauer kann auch menschliches Verhalten vorhergesagt werden. Die Auslieferung eines Produktes kann schon vor dessen Bestellung beginnen, weil Big Data Analytics vorhersagen kann, aus welchem Wohngebiet Menschen eine entsprechende Bestellung aufgegeben werden wird. Die Präzision solcher Vorhersagen wird sich weiter verbessern, es stellt sich die Frage, inwieweit menschliches Verhalten durch Berechnung vorhersagbar wird.

Subjektiv – d.h. in der eigenen Wahrnehmung – mag jemand sich frei für etwas entschieden haben, aufgrund von Datenauswertung war die Entscheidung jedoch vorhersagbar. Was bedeutet dies für den freien Willen? Aufgrund von Big Data Analytics werden auch Konsequenzen komplexen menschlichen Handelns vorhersehbar. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse ist der Ausdruck eines freien Willens. Ist der Mensch frei in seiner Entscheidung oder ist diese vorhersagbar? Dabei gibt es unterschiedliche Perspektiven, die subjektive Wahrnehmung eines freien Entscheidung versus die objektive Gebundenheit an Fakten, die eine bestimmte Entscheidung vorwegnehmen? Kann der Mensch selber noch zwischen Gut und Böse entscheiden? Oder wird seine Entscheidungsfreiheit immer weiter eingeengt? Vor dem Hintergrund von Big Data Analytics kann die Erzählung vom Baum der Erkenntnis und der Vertreibung aus dem Paradies eine weitere Deutung erhalten. Im Bestreben des Menschen liegt es, sein zu wollen wie Gott, daher sein Streben nach Wissen und nach der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Das Wissen um Gut und Böse und die Möglichkeit, sich dazwischen zu entscheiden liegt aber eigentlich bei Gott: „Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“

Subjektiv – d.h. in der eigenen Wahrnehmung – mag jemand sich frei für etwas entschieden haben, aufgrund von Datenauswertung war die Entscheidung jedoch vorhersagbar. Was bedeutet dies für den freien Willen?

Der Mensch isst von der Frucht des Baumes der Erkenntnis und bemerkt dann seine Nacktheit. Gegenüber anderen gibt es keinen Schutzraum mehr, der Mensch ist transparent geworden. Damit nicht mehr alles über den Menschen offenbar ist, bedeckt Gott seine Nacktheit mit Fellen, die für den Menschen Kleider sind. Die Konsequenzen des menschlichen Handelns, so wie Gott sein zu wollen, wird durch das Tragen von Kleidung rückgängig gemacht. Es gibt einen Schutzraum, der den Blicken Dritter entzogen sein soll. Wer also über Datensammeln und Algorithmen den Menschen wieder quasi digital auszieht, versucht wieder so zu sein wie Gott – dies wäre ein erneuter Sündenfall. Vor Erfindung von Computern war das Datensammeln über Menschen sehr beschränkt, die jetzigen technologischen Entwicklungen lassen aber fragen, wieweit Grenzen verschoben werden. Werden Computer alles über einen Menschen wissen, was man über ihn wissen kann? Ist menschliches Verhalten dann determiniert und der Computer allwissend? Wäre das so, wäre der Computer allwissend und wird zu Gott. Aufgrund der Church-Turing-These lässt sich mit Turingmaschinen alles berechnen, was überhaupt berechenbar ist. Die Turingberechenbarkeit setzt allerdings einen unendlich langen Bandspeicher voraus. Auch wenn der Speicher moderner Computer immer größer wird, ist er und bleibt er endlich. Auch wenn er weiterhin größer wird, kann zwar immer mehr Verhalten vorausgesagt werden, aber nicht alles. Die Endlichkeit der Computer bedingt so die menschliche Freiheit.

Die Endlichkeit der Computer bedingt so die menschliche Freiheit.

Auch wenn Computer immer leistungsfähiger werden, erinnert die Geschichte vom Sündenfall und dem Baum der Erkenntnis daran, dass es nach christlichem Verständnis eine Begrenzung des Datensammelns geben sollte, auch wenn sich die diese Grenze technisch immer weiter verschiebt.

Der Wunsch, alles zu wissen und alles zu berechnen, würde einerseits den Menschen zu Gott machen, wenn er alles wüsste; gleichzeitig führte dies zum gläsernen Menschen, dessen Verhalten vorhersagbar wäre. Auch wenn sich die technischen Grenzen weiter verschieben, bleibt einerseits trotz allem eine Begrenzung dessen, was man berechnen kann aufgrund der Endlichkeit von Computern, andererseits mahnt die Geschichte vom Sündenfall, dass es zum Menschsein dazugehört, dass es einen Intimbereich gibt, der der Datensammlung entzogen sein muss, damit der Mensch Mensch bleibt.

  1. Zu Alan Turing, der Turing-Maschine, dem Turing-Test und der Church-Turig-These vgl. die entsprechenden Wikipedia-Artikel, die für die Darstellung teilweise zitiert werden.
  2. Turing, Alan (October 1950), “Computing Machinery and Intelligence”, Mind, LIX (236): 433–460, online: https://academic.oup.com/mind/article/LIX/236/433/986238
  3. Vgl. https://www.heise.de/newsticker/meldung/Eugene-und-der-angeblich-bestandene-Turing-Test-So-einfach-nun-dann-doch-nicht-2218151.html
  4. Vgl. David Silver et.al., Mastering the game of Go without human knowledge, Nature 550, 354–359 (19 October 2017)  https://www.nature.com/articles/nature24270, wonach das Programm AlphaGo Zero 100–0 gegen AlphaGo gewonnen hat, das bereits die besten menschlichen Go-Spieler besiegt hat.
  5. Psalm 8, zitiert nach Luther 2017:

    1.  Ein Psalm Davids, vorzusingen, auf der Gittit.
    2. HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel!
    3. Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge / hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.
    4. Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
    5. was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
    6. Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.
    7. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan:
    8. Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere,
    9. die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.
    10. HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!
    11. Selbst die Sterblichkeit des Menschen wird von Forschern in der Google-Firma Calico in Frage gestellt, Forscher bemühen sich, den Prozess des Alterns zu überwinden, vgl. Thomas Schulz, Was Google wirklich will, München 2015, S. 152ff.

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