Der Teufel steckt im Detail – und wo ist Gott
Versuch1 einer theologischen Sicht auf Algorithmen
Der folgende Beitrag geht nach ersten grundsätzlichen Überlegung zu einer Theologie der Digitalisierung (1.) zumindest zwei von drei Schritten des klassischen Prinzips Sehen (2.) – Urteilen (3.) – Handeln (Joseph Cardijn). Der letzte Schritt, die Folgerungen für eine pastorale Praxis, würde hier den Rahmen sprengen, und muss daher an anderer Stelle erörtert werden. Skizziert wird nur die Notwendigkeit einer an christlichen Prinzipien orientierten Praxis (4.).
1. Anlauf: Zur Notwendigkeit einer Theologie der Digitalisierung
Beginnen wir mit einer Antithese: Es kann sinnvollerweise keine „digitale Theologie“ geben! Die Analogie zum ebenfalls häufig genutzten Begriff der „digitalen Bildung“, der als publizistischer Hashtag enttarnt gelten darf, offenbart die Schwächen des scheinbar unverzichtbaren Adjektivs: was soll das logische Gegenstück sein? War alles Bisherige demnach – zwangsläufig – „analoge“ Theologie? Und warum gab es eigentlich keine „elektrische“ Theologie, wo doch die Elektrizität bzw. genauer die Elektrifizierung Ende des 19. Jahrhunderts zweifelsfrei auch revolutionäre Auswirkungen auf Leben und Arbeiten der Menschen hatte?
Sodann handelt es sich mit Blick auf unser Thema doch bei Algorithmen zunächst einmal um Werkzeuge, mit denen ein Problem gelöst werden kann. Eine theologische Reflexion auf Werkzeuge scheint zunächst auch wenig sinnvoll; zumindest ist bisher keine Theologie bekannt, die Hämmer, Zangen und andere Werkzeuge zum Gegenstand hätte.
Hier allerdings hinkt die Analogie bereits mächtig, denn ein Hammer ist ein Hammer und bleibt ein Hammer – digitale Systeme sind aber prinzipiell veränderbar und zeitlich gebunden: wenn ein System oder eine Software überholt ist, z.B. weil es „Besseres“ (Versionierung!) gibt oder die OS-Umgebung veraltet ist, wird es schnell obsolet und irgendwann vergessen oder zumindest praktisch nicht mehr nutzbar. Noch viel deutlicher wird das an Algorithmen wie z.B. von Google oder Facebook, die aus dem faktischen Überangebot von Informationen das jeweils situativ für den Nutzer „Wichtigste“ filtern: schon die zeitgleiche Suche durch zwei unterschiedliche Personen oder auf zwei verschiedenen Systemen wird bei gleichen Suchbegriffen sehr wahrscheinlich verschiedene Ergebnisse liefern.
Gerade diese Veränderlichkeit, „Lernfähigkeit“ und prinzipielle Offenheit unterscheidet Algorithmen und künstliche Intelligenz von klassischen Werkzeugen. Und die alltagspraktischen Anwendungen dieser revolutionären Werkzeuge, von kreativen Anwendungen über soziale Netzwerke bis hin zu komplexen Wissenssystemen, von E-Health über autonome Fahrzeuge bis hin zu digitalen Fabriken verändern unsere Gesellschaft, unser Leben und Arbeiten radikal und stellen uns aktuell vor spannende Fragen – auch theologische. Mit anderen Worten: Theologie ist durch Digitalisierung grundsätzlich herausgefordert!
Das wirft zunächst die Frage auf, inwiefern Digitalisierung an sich für Theologie und Kirche relevant ist. Ich sehe dabei Herausforderungen auf drei Ebenen, die ansatzweise in dieser Reihenfolge relevant wurden:
- Organisatorische Ebene: Digitalisierung bedeutet einen Wandel von Arbeitsabläufen, von der digitalen Datenverarbeitung im Pfarrbüro über die interne wie externe Kommunikation von Kirche über digitale Medien und mit digitalen Geräten bis hin zu digitalen Formen der Spiritualität und der religiösen Ästhetik.
- Didaktische Ebene: Digitalisierung bedeutet eine Veränderung der (religionspädagogischen und katechetischen) Didaktik, die idealerweise nicht nur analoge Inhalte in neue Formen überträgt, sondern sich die genuine Qualität digitaler Medien zu Nutze macht.
- Thematische Ebene: die inhaltliche Auseinandersetzung mit Digitalisierung und ihren Implikationen, d.h. eine theologische Reflexion auf Phänomene und Kontexte der Digitalisierung.
Und während die ersten beiden Ebenen mittlerweile zum Teil seit Jahrzehnten – wer erinnert sich noch an die CredoBit in den frühen 1990er Jahren? – Relevanz und Praxis haben, steht die reflexive Ebene noch ganz am Anfang.
Statt von einer „digitalen Theologie“ schlage ich dazu vor, von einer Theologie der Digitalisierung zu sprechen, die vor allem auf der thematischen Ebene stattfinden muss. Diese muss deutlich über eine – naheliegende – medienethische Positionierung hinausgehen: „Religion wird in der Regel nur als bloße Lieferantin von ethischen Orientierungen verstanden. Das Phänomen ist aus anderen Gesellschaftsbereichen bekannt, wenn etwa auf schulischen Elternabenden christliche Werte bejubelt werden. Tragisch wird diese Verengung jedoch, wenn Theologie selbst sich auf diese gesellschaftliche Funktion reduziert. Was sich als „digitale Theologie“ [der Autor bezieht sich auf das gleichnamige Buch von Johanna Haberer; Anm. AB] vorstellt, ist eben doch vor allem Medienethik oder Medienpädagogik. Beides ist zweifellos wichtig und mag eine dringend notwendige Dienstleistung sein.“ (Beck 2017) Stattdessen muss es um eine theologische Reflexion der „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2016) gehen.
Der vorliegende Beitrag erhebt keinesfalls den Anspruch, dies zu leisten; vielmehr handelt es sich um eine Skizze von Überlegungen zu einem Teilbereich, der Algorithmizität.
2. Schritt: Bestandsaufnahme
Ein zentrales Merkmal der Digitalität ist die Algorithmizität (Stalder 2016, 164ff.): Algorithmen als Verfahrensanweisungen zur eindeutigen Lösung von (mathematisch bzw. informatorisch) modellierten Problemen gibt es seit der Antike; seit Turing und Von Neumann können sie auf universellen Rechenmaschinen – Computern – ausgeführt werden (ebd., 171). Aufgrund des exponentiellen Leistungszuwachses von Computern sind diese theoretischen Konzepte mittlerweile alltägliche Praxis. Diese „bloße“ Ausweitung von Erfassungs-, Bearbeitungs- und Speicherkapazitäten führt zu Veränderungen, die nicht bloß quantitativer Art, sondern qualitativ sind – ob jeweils evolutionär, revolutionär oder gar „disruptiv“ soll hier dahingestellt bleiben. Die Anwendungsbereiche dafür werden jedenfalls immer vielfältiger und dringen mittlerweile auch in Bereiche des kreativen Denkens vor.
Auch die mittlerweile offensichtliche Alltäglichkeit von Algorithmen, Big Data und Künstlicher Intelligenz (KI) suggeriert, dass es sich um neue Phänomene handelt. Dabei sind die Themen nicht wirklich neu; die Überlegungen aus der Mathematik zu dem, was heute als Algorithmizität und Künstliche Intelligenz in aller Munde ist, gehen zurück in die Mitte des letzten Jahrhunderts und waren in den 1970er Jahren bereits allgemeiner Lehrgegenstand in Mathematik und Informatik – allein: die Rechen- und Speicherkapazitäten waren vor 50 Jahren noch weit vom heutigen Stand entfernt, so dass Algorithmen tatsächlich heute in einem nie zuvor gekannten Ausmaß alltägliche Relevanz haben (vgl. Armbruster 2017).
Der Teilbereich Algorithmen kann dabei nicht losgelöst von Big Data und KI betrachtet werden, da große Mengen an Daten benötigt werden, um die algorithmisch zu behandelnden Probleme lösen zu können. Inwiefern dabei dann tatsächlich immer KI im Sinne eines lernenden Systems beteiligt ist, oder die bloße Rechenleistung selbst einfacher Mobilgeräte mittlerweile für die Bewältigung komplexer Algorithmen ausreicht, kann dahingestellt bleiben: „Der Übergang von klassischer, tiefer Datenanalyse hin zu künstlicher Intelligenz sei fließend.“ (Knop 2017)
Und so werden wir einerseits Zeuge davon, wie durchaus erstaunliche Entwicklungen möglich werden, die von den entsprechenden Anbietern bzw. deren Chief Evangelists (!) wie Heilsverheißungen vorgestellt werden. Und digitale Produkte, Marken und Firmen werden mit quasi-religiöser Verehrung belohnt.
Andererseits verwischt die Grenze zwischen „Produkt“ und „Geschöpf“ zunehmend: wenn Google mit seinem Produkt Translate eine KI in Form mehrerer miteinander verzahnte neuronaler Netzwerke konstruiert, die vermutlich eine eigene, universelle Zwischensprache generiert hat („Evidence for an interlingua“, vgl. Johnson e.a. 2016, 10f), bedeutet dies doch, dass es ein System gibt, für dessen Zustände die Programmierer bzw. Forscher (noch) keine geeigneten Werkzeuge (mehr) haben.
Ob es wirklich notwendig ist, dass ich unmittelbar aus einem sozialen Netzwerk heraus mein Essen bestellen kann oder dass mein Auto weiß, welchen Kaffee ich morgens auf dem Weg ins Büro bevorzuge, entsprechend bei der präferierten Kaffee-Kette ordert und, sobald ich vorgefahren bin, dort auch für mich bargeldlos abrechnet, sei dahingestellt – die Technologie ist vorhanden und einsatzbereit. Der Prozess der Digitalisierung ist unumkehrbar und wird weiter voranschreiten, sofern es nicht zu einer globalen Katastrophe kommt, die einen multinationalen Stromausfall und/oder des überwiegenden Teils der prinzipiell redundanten Rechen-, Speicher- und Leitungskapazität des globalen Netzes zur Folge hätte.2
3. Sprung: Urteilen
Entsprechend der skizzierten Suchbewegung stelle ich im Folgenden fünf Fragen, die Ansätze für eine theologische Beurteilung von Digitalisierung im Allgemeinen und von Algorithmen im Speziellen liefern können. Entsprechend dem in der Einleitung skizzierten „Praxisvorbehalt“ systematischer Theologie gebe ich abschließend einen Ausblick auf die Notwendigkeit einer theologisch fundierten Praxis
3.1. Digitalität – das neue Numinosum?
Gott ist für den Menschen unsichtbar; im Ersten Testament findet sich sogar aus der Überzeugung, dass Gott der ganz Andere, dem Menschen prinzipiell fremd bleibende (vgl. z.B. die Erzählung von Mose am Dornbusch, Ex 3,2-6) ist, das so genannte Bilderverbot (Ex 20, 4).
In einer ersten Analogie fällt auf, dass Algorithmen als zentrales Element der Digitalität ebenfalls „unsichtbar“ sind; wir sehen Hardware, Gadgets und Endgeräte sowie deren Anzeigen und User Interfaces als Symbole für „das Eigentliche“.
Dies ist auch ablesbar an einer typischen Ästhetik der Visualisierung, die den gegenwärtigen Touch-Interfaces nachgebildet ist: meistens halbtransparent in Layer-Technik mit App-Symbolen und Icons; Verbindungslinien deuten Vernetzungen an. Es gibt nichts Vermittelndes, keine Human-Device-Interfaces (Maus, Tastatur, Fernbedienung etc.) mehr zwischen uns und der Bedienoberfläche – aber was wir da bedienen, können wir per definitionem nicht sehen.
Selbst die Bedrohung durch Cyberangriffe ist unsichtbar und wird z.B. in Bewegtbild-Nachrichten meist mit blinkenden Netzwerkgeräte oder Code-Zeilen wie im Film Matrix visualisiert. Das Eigentlich ist und bleibt unsichtbar – und das bereitet den Boden für eine quasi-religiöse Beziehung zu den „verborgenen Kräften“, die vom Einzelnen nicht beeinflussbar sind. Vermutlich gedeihen deshalb auch digitale Verschwörungstheorien (Stichwort: Hoaxes) immer wieder gut.
3.2. Digitale Evangelisation?
„Der ganze kalifornische Digitalkapitalismus, der nunmehr vielen gnadenlos erscheint, ist aus Erlösungshoffnungen der Hippiebewegung und der New-Age-Spiritualität hervorgegangen. Der kultische Charakter von Apple-Store-Eröffnungen entgeht inzwischen niemandem.“ (Schloemann 2016, 1) Nicht von ungefähr heißen die Menschen, die unentschlossene Kunden und Geschäftspartner von ihren Ideen überzeugen sollen, Chief Evangelists.
Und impliziert nicht jede neue Software-Version ab den ersten Alpha- und Beta-Releases die Idee einer Verbesserung – mithin das Versprechen, die Verheißung des digitalen Heils ein Stück besser erfüllen; zumindest besser als die vorherige Version und die Produkte des Mitbewerbers? Vermutlich ist das letztliche Motiv aller ProgrammiererInnen, die Welt zumindest ein Stück besser machen zu wollen, indem sie ein Problem einer Lösung durch einen passenden Algorithmus zuführen. Wenn das keine gute Nachricht (Euangelion) ist?!
Müßig zu erwähnen, dass solche immanente „Ersatz-Religionen“ nur mit einem funktionalen Religionsbegriff zu erfassen sind, in dem sich bestenfalls Versatzstücke – quasi als Design-Elemente – der (christlichen) Offenbarungs-Religion finden.
3.3. Ein neuer Golem?
Allerdings erschaffen Menschen damit bisweilen einen Golem3 (hebr: formlos, ungestaltet), ein Wesen aus unbeseelter Materie, das in der jüdischen Legende eine aus Lehm gestaltete Figur war, die durch Zauberworte zum Leben erweckt wurde und ihrem Schöpfer, dem Rabbi Loew von Prag, dienstbar war.
Die gedankliche Nähe zu Avataren, Androiden und Cyborgs ist auffällig: wir sind in der Lage, mit immer besseren Algorithmen immer perfektere dienstbare Wesen zu kreieren. Mittlerweile können Pflegeroboter bzw. die darin integrierten Algorithmen für Sprach- und Mimik-Erkennung Stimmungen von Patienten deuten und entsprechend reagieren.
Allerdings sind damit neben diversen ethischen Fragen – u.a.: wie ist sichergestellt, dass die Maschinen dem Menschen nicht schaden? Wie weit dürfen Algorithmen menschliche Entscheidungen ignorieren? – die gesellschaftlich diskutiert und bei der Programmierung implementiert werden müssen, auch theologische Fragen verknüpft: welchen Gestaltungsspielraum in der Schöpfung können Menschen verantwortlich ausnutzen? Ab wo geben wir die Kontrolle nicht mehr an Algorithmen ab, die Dinge einfach besser und schneller können als wir, sondern ab welchem Punkt verlieren wir die Kontrolle? Wo endet die Befreiung des Menschen und verkehrt sich die anthropozentrische Wende in eine neue Unterwerfung?
Das Thema des Verhältnisses von Mensch und Maschine bzw. KI ist Gegenstand etlicher futurologischer Bücher und Filme – tatsächlich sieht es in den meisten davon für den Menschen nicht wirklich gut aus. Ob die Sorge vor einer Übermacht von sich emanzipierenden technischen Geschöpfen berechtigt ist oder nicht: In der Legende konnte Rabbi Loew dem wütenden Golem den Zauberspruch entreißen, so dass er zu Staub zerfiel. Ist sichergestellt, dass Menschen bei sich selbst weiter entwickelnden und kontrollierenden Systemen zu allen Zeitpunkten die Kontrolle behalten? Wie kann eine gelingende „Symbiose von Mensch und Computer“ (Knop 2017) wirklich aussehen?
3.4. „Was ist Wahrheit?“
Die Frage des Pilatus (Joh 18,38) gewinnt durch die praktische Anwendung von Algorithmen eine neue Bedeutung: Wir haben es in digitaler Kommunikation immer mit Interaktionen zwischen Mensch und Maschinen bzw. deren Interfaces zu tun. Und wir durchschauen in den seltensten Fällen, in welchem Umfang Algorithmen dabei auf die Interaktion einwirken.
Spätestens, wenn Chatbots zum Einsatz kommen, erhält die Frage nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Kommunikation nochmals neue Dringlichkeit: was meine ich, mit wem ich da kommuniziere bzw. interagiere? Welche Annahmen habe ich zu meinem Gegenüber – und wie klar ist, ob bzw. dass diese (nicht) stimmen? Und wie sehr verlassen wir uns auf die Leistungsfähigkeit von Algorithmen, dass diese „das Richtige“ Ergebnis liefern werden, ohne dass wir über die Annahmen, die bei ihrer Erstellung eingeflossen sind, das geringste wissen?
Die schiere Lernfähigkeit von Algorithmen-basierten Systemen sorgt für eine ironische Volte dieses Aspekts: Ein Experiment von Facebook, in dem unterschiedlich wertvolle Gegenstände durch Aushandlung zwischen zwei Beteiligten aufgeteilt werden sollten, konnte zeigen, dass Bots tendenziell asozialer werden und weniger Verhandlungsergebnisse mit menschlichen Gegenübern schaffen (vgl. Mattke 2017). Und ein Twitter-Bot von Microsoft erwies sich als überaus lernfähig, aber so ganz anders als geplant: binnen 24 Stunden wurde aus der freundlichen und kommunikationsbegeisterten „jungen Frau“ eine Anti-Feministin und Nationalsozialistin, und zwar durch die bloße Interaktion mit anderen Nutzern von Twitter (vgl. Steiner 2016).
3.5. Homo deus?
Die Frage nach Gott und der Rede von Gott (Theo-Logie) ist wesentlich auch eine Frage nach dem Menschen und dem Menschenbild, dass wir als theologische Anthropologie entwickeln: im Kern geht es um die christliche Idee der Freiheit des Geschöpfes – gegen Verzweckung und Determinismus. Denn die zentrale Botschaft des Christentums ist die von der befreienden Liebe Gottes, die gegen Versklavung und Unterdrückung durch falsche Götter und Götzen steht und in der Überwindung des Todes ihren letzten unüberbietbaren Ausdruck gefunden hat.
Diese Überzeugung ist konstitutiv für eine wahre Humanität, die nicht rein immanent begründet werden kann, insofern dem Anderen nicht nur gleiche Würde zukommt, sondern er ebenso von Gott gewolltes und geliebtes Geschöpf und Abbild Gottes ist wie ich. Und diese zentrale theologische Begründung der Menschenwürde impliziert, dass der Mensch als in Freiheit entlassenes Geschöpf Subjekt und nicht Objekt ist! Damit ist zugleich der zentrale Ansatzpunkt jeglicher Ethik gegeben, die auf dem Prinzip Verantwortung beruht.
Daher ist Yuval Harari entschieden zu wiedersprechen, der in seiner „Geschichte von morgen“ nur Zufall und Determinismus als Erklärungen menschlichen Verhaltens gelten lässt, aber keinen freien Willen: „Das heilige Wort »Freiheit« erweist sich, genauso wie die »Seele«, als leerer Begriff, der keine erkennbare Bedeutung hat. Der freie Wille existiert nur in den imaginären Geschichten, die wir Menschen erfunden haben.“ (Harari 2017, 381)
Dieses radikal säkulare Konzept zu diskutieren, bleibt hier kein Raum, daher nur zwei zentrale Fragen: Wo bleibt dann die Kultur, mit der der Mensch sich über die Natur erhebt? Was ist mit der vernunftbegründeten Orientierung an Werten und sittlichen Normen? Wie soll z.B. die Idee des Gemeinwohls rekonstruiert und politisch-praktisch umgesetzt werden, wenn Algorithmen vor allem nach Effizienzkriterien und damit letztlich gnadenlos funktionieren? Bleiben uns Menschen am Ende nur „Drogen und Computerspiele“ (Harari 2017, 441) um eine sinnentleerte, dank Algorithmen von jeglicher Arbeit befreite Zeit totzuschlagen?
Und welche Antworten der Dataismus als neue „Datenreligion“ (ebd., S. 497ff) auf Fragen nach dem menschlichen Bewusstsein hat, wenn es doch nur um maximal effiziente Datenverarbeitung durch biologische Algorithmen geht, muss ebenfalls dahin gestellt bleiben.4
Die eigentümliche Spannung, dass Gott der ganz andere bleibt und sich uns zugleich liebend zuwendet, dass ein allmächtiger Schöpfer uns als Geschöpfe in Freiheit entlässt, so dass wir in Demut dennoch aufrecht vor der Größe Gottes stehen können – dieses mysterium fidei wird der Homo deus, der die Algorithmen zur Religion erhebt, weder verstehen noch erfahren können. Ihm bleibt nur eine letztlich unerlöste Technik-Gläubigkeit.
4. Orthodoxie muss sich in der Orthopraxie beweisen
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (Pastoralkonstitution Gaudium et spes des II. Vat. Konzils, 1.)
Das heißt, Theologie muss sich im Wirken der Kirche zwingend auf das Leben der Menschen beziehen und die richtige theologische Lehre (Ortho-Doxie) muss sich in der richtigen Praxis (Ortho-Praxie) beweisen und bewähren.
Algorithmen sind Artefakte, von Menschen gemachte Werkzeuge zur Behandlung eines Problems – und der rechte Gebrauch solcher Werkzeuge ist in theologischer Perspektive Gegenstand der Katholischen Soziallehre. Ausgehend von deren zentralen Prinzipien – Personalität, Gemeinwohlorientierung, Solidarität und Subsidiarität – hat daher die Deutsche Bischofskonferenz in einem netzpolitischen Papier unter dem Titel „Medienbildung und Teilhabegerechtigkeit“ (2016) ausgewählte zentrale Themen adressiert, die sich mit der Digitalisierung bzw. dem digitalen Wandel stellen: „Themen wie Datenschutzsensibilität, Teilhabegerechtigkeit, Urheberrecht, Jugendmedienschutz und Hass und Verrohung der Kommunikation im Netz fordern uns als Kirche heraus, einen Wertediskurs anzustoßen und uns darin einzubringen. Die Netzpolitik benötigt Regelungen, die sowohl einem ganzheitlichen (wenn Sie mögen, transzendenten) Menschenbild als auch der Dynamik der Medienwelt Rechnung tragen.“ (ebd., S. 6)
Welche Schritte zu tun sind, um eine gemeinwohlorientierte Nutzung von Algorithmen zu fördern, die nicht letztlich ökonomischen Prinzipien folgt, sondern den Menschen als Subjekt mit seiner unveräußerlichen Würde als Maßstab der Beurteilung in den Mittelpunkt stellt, bedarf weiterer Überlegungen; wie eine Unterscheidung zwischen „guten“ und „schädlichen“ Algorithmen erfolgen soll muss ebenso diskutiert werden wie die ordnungspolitischen und rechtlichen Rahmungen für solche Prozesse.
Für den kirchlichen Bereich enthält das netzpolitische Papier eine Reihe konkreter Folgerungen und Forderungen. Das Selbstverständnis ist dabei klar: „Der Auftrag der Kirche angesichts der Digitalisierung bzw. des digitalen Wandels lautet daher, theologische, ethische, rechtliche, bildungs- und netzpolitische Anmerkungen zu machen, um in diesem enormen Umwälzungsprozess die Zeichen der Zeit zu sehen und zu deuten.“ (ebd., S. 9)
Prof. Andreas Büsch
- Die folgenden Überlegungen verstehen sich ausdrücklich als Momentaufnahme einer Suchbewegung, die beim Autor seit einigen Monaten andauert. Zahlreichen Kolleginnen und Kollegen ist daher vor allem für die Gespräche in dieser Zeit rund um das Thema „Digitalisierung und Theologie“ zu danken.
- Vgl. Böhme 1996, 239: der Autor entwirft einen „nur schwach futuristischen Vorschlag“, an Alan Turings 100. Geburtstag (23.06.2012) „die beiden Superrechner, die von Tokio und Californien aus gemeinsam den weltumspannenden Cyberspace organisieren“ abzuschalten und unterstellt dabei, dass die beiden Rechner „intelligent genug [sind], den weltweiten Daten-Kollaps nicht nur herbeizuführen, sondern auch aufzufangen: nach dem weltweiten Schock eines elektronischen Schwarzen Lochs schaffen beide Rechner das Datenniversum neu.“ (ebd.)
- Ironischerweise firmiert eine Website mit Nachrichten für IT-Professionals unter www.golem.de
- Der dabei von Harari genutzte sehr weite, funktionale Religionsbegriff bedürfte ebenfalls der Kritik.