Um Gottes und des Glaubens willen
Download | Sprecher: Uli Keip
„Fülle in der verordneten Leere“. Unter dieser Überschrift machte ein Text von zehn „Ordensfrauen für Menschenwürde“ im Juni 2020 die Runde1. Zehn Schwestern aus vier verschiedenen Gemeinschaften reflektierten darin ihre Ostererfahrungen, die sie während des Corona-Lockdowns gemacht hatten. Sie teilten der interessierten Öffentlichkeit mit, dass das verordnete eucharistische Fasten sie kreativ neue Wege suchen ließ. Ihr Sakramenten-, Eucharistie- und Amtsverständnis hatten sich innerhalb weniger Wochen grundlegend verändert.
„Wir hatten alles geplant. Wir hatten uns um einen Priester bemüht, weil das nach den Regeln der katholischen Kirche so zu sein hat. Doch dann kam ganz überraschend und sehr kurzfristig (…) die Absage und wir standen vor der Situation, nun selbst feiern zu müssen, sollen, dürfen, können…“2
Aus der Notlage wurde eine Quelle religiöser Ermächtigung
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Schwestern an die offiziellen Regeln gehalten. Der gottesdienstlichen Feier des Herrenmahles stand immer ein geweihter Amtsträger vor. In vielen Klöstern sogar täglich. Die Ausgangsbeschränkungen stellten die Konvente vor eine Probe: Sollten sie – wie es die kirchliche Hierarchie erlaubt hatte – sich einfach von der Sonntagspflicht entbunden fühlen und sich vor den Fernseh- und Computerbildschirmen einfinden? Sollten sie passiv zuhause Bischöfen und Priestern bei der Wandlung zuzusehen? Oder wäre es nicht angebracht, neue und bisher ungewohnte Wege zu suchen, um sich weiter um die einigende Mitte des Glaubens zu versammeln und die Gegenwart Jesu Christi erfahrbar werden zu lassen? Aus der Notlage wurde eine Quelle religiöser Ermächtigung.
Die selbst gestalteten Wort-Gottes- und Agape-Feiern entfalteten eine tiefe spirituelle Wirkung. Die Schwestern erfuhren die einigende Kraft des geteilten Wortes und Brotes. Darüber hinaus vermissten sie: nichts. Nach der Aufhebung der Beschränkungen wuchs die Überzeugung, nun nicht einfach zum religiösen „business as usual“ zurückzukehren, sondern die Praktiken fortzuführen. Wozu sollten sie einen Priester bitten, Hostien und Wein zu wandeln, wenn es auch normales Brot und Wein taten? Im Zuge der Covid-19-Pandemie vollzog sich der „Sprung aus der Box“ der streng regulierten Sakramente und Sakramentalien noch rasanter als vorher. Im Rückblick wird sich in wenigen Jahren gezeigt haben, dass sich institutionell vorgegebene Formen und Zeichen entmonopolisiert haben.
Darüber hinaus vermissten sie: nichts.
Je rigider die kirchliche Hierarchie an den einseitig für Männer offen stehenden Weiheämtern festhielt und Frauen kategorisch von diakonalen und priesterlichen Diensten auszuschließen versuchte, umso lebendiger und vielgestaltiger zeigte sich die Glaubenspraxis im Volk Gottes. Zunehmend entdeckten Getaufte, Gefirmte und Gesandte ihre Eigenverantwortung, ihren Glauben an Gott und Jesus Christus in Worten und Zeichen zu feiern. Je schwieriger es wurde, überhaupt noch die Feier der Sakramente als Quelle und Höhepunkt des gemeindlichen Lebens in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu erleben, umso wichtiger wurden die Eigeninitiativen von Gruppen, Familien und Gemeinden. Dabei ging es gar nicht so sehr darum, sich etwas zu bemächtigen, was qua Amt nur einigen wenigen Auserwählten zugesprochen wurde, sondern es ging vielmehr um den Glauben an sich. Um das Überleben des Christentums. Um die Weitergabe dessen, was den Menschen aus dem Geist Jesu Christi unerlässlich schien für ihre eigene Lebensgestaltung. Nicht weil sie männlichen Bischöfen, Priestern oder Diakonen etwas wegnehmen wollten, übernahmen sie Rituale, feierliche Gesten und Deuteworte, sondern weil sie um den Verlust ihres christlichen Glaubens fürchteten durch die Austrocknung und Vorenthaltung der für das eigene Leben existentiellen Symbole und Zeichenhandlungen.
Im Rückblick wird sich in wenigen Jahren gezeigt haben, dass sich institutionell vorgegebene Formen und Zeichen entmonopolisiert haben.
„Wir erleben, dass das kirchliche Amtsverständnis sehr stark in der Gefahr ist, ungute Macht-verhältnisse zu zementieren – und das auf Kosten des Heilsgeschehens für alle Menschen. Dienen unsere sakramentalen Formen wirklich dem Leben oder hat sich das Leben nicht inzwischen den Formen unterzuordnen?“2
Was die Ordensfrauen als Frage formulierten, wird im Rückblick aus dem der deutschen Sprache eigenen Tempus des Futur2 eine Diagnose mit Ausrufezeichen sein. Der relativ ergebnislos verlaufene Synodale Weg der Kirche in Deutschland wird zu einem massiven Austritt der bis dahin noch konfessionell gebundenen Katholik*innen führen. Die Unfähigkeit einer von der Kurie in Rom gestützten Minderheit, die Glaubenserfahrungen des Volkes Gottes als Quelle göttlicher Offenbarung gelten zu lassen und anzuerkennen, wird zu einer Verselbständigung christlicher Praxis beitragen. Das starre Festhalten an einem Traditions- und Gehorsamsverständnis, das sich erst in der Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat, wird in der ersten Hälfte des 21. Jahrhundert zum existenziellen Ausverkauf der kirchlichen Deutungsmacht geführt haben.
Die Unfähigkeit einer von der Kurie in Rom gestützten Minderheit, die Glaubenserfahrungen des Volkes Gottes als Quelle göttlicher Offenbarung gelten zu lassen und anzuerkennen, wird zu einer Verselbständigung christlicher Praxis beitragen.
Freilich wird es einen doppelten Trend geben: Der Demokratisierung und Entklerikalisierung in den vier klassischen Grundvollzügen, der Verkündigung (Martyria), Liturgie (Liturgia), Nächstenliebe (Diakonia) und Gemeinschaft (Koinonia), werden weiterhin das Festhalten an traditionellen Formen gegenüberstehen. Doch die Mehrheit der (immer noch) Christgläubigen wird sich trotz Verbleib in der verfassten Kirche oder nach ihrem erklärten Austritt freikirchlich, locker in verflüssigten Formen neu organisieren. Punktuell werden sie womöglich weiterhin an den herkömmlichen Angeboten teilnehmen, gleichzeitig aber offensichtlich und selbstbewusst eigene Rituale an wichtigen Lebensstationen zelebrieren, dabei die Vielfalt und den Reichtum der Traditionen nutzend, aber frei von Bevormundung und verordneten Regeln. Letztlich werden sich die Charismen der Menschen durchsetzen. Diejenigen, die die Fähigkeit und Gabe haben, einfühlsame und tröstende Worte bei Beerdigungen zu finden, wird man bitten, die Liebsten zu bestatten. Denen, die die Liebe zwischen zwei Menschen in passende Gedichte und Texte kleiden und ihre Gäste zu animieren verstehen, ihre Wegbegleitung mit ermutigenden Worten und Gesten auszudrücken, werden beauftragt werden, beim Bund des Lebens zu assistieren. Daneben wird es Menschen geben, die andere aufsuchen, wenn sie spirituelle Hilfe wünschen, um eine Lebenskrise zu meistern, um Verzeihung und Aussöhnung mit Lebenswunden ringen oder nach dem Scheitern am Arbeitsplatz oder einer Beziehung Neuanfänge wagen möchten. Das alles wird in, mit, neben und außerhalb der offiziellen Kirche(n) stattfinden. Die Grenzen des Christlichen, Außerchristlichen, Säkularen und Profanen, Interreligiösen oder Atheistischen werden sich vermischen, auflösen oder neu formieren. Und das, was dann gilt, wird nicht mehr von oben entschieden, sondern von den Menschen, die ihr Leben im Licht des Glaubens führen möchten und sich dabei – mit Gottes Hilfe und dem Beistand anderer – Unterstützung und Wegbegleitung wünschen. Die Kirche im Futur2, gleicht der Vision von Kirche, die Andrea Voß-Frick für die Bewegung Maria 2.0 beschreibt:
Die Mehrheit der (immer noch) Christgläubigen wird sich trotz Verbleib in der verfassten Kirche oder nach ihrem erklärten Austritt freikirchlich, locker in verflüssigten Formen neu organisieren.
„In unserer Kirche, im Morgen,
wird das Wort Jesu nicht nur verkündet, sondern auch gelebt.
Wird der Mensch,
jeder so, wie er ist,
geliebt.
Wird getanzt und gelacht und gefeiert.
Wird das Brot geteilt und das Leid.
Wird der Wein geteilt und die Freude.
In dieser Kirche, im Morgen,
siegen Mut und Liebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl
über Angst und Machtgier, Ausgrenzung und Selbstmitleid.
In dieser Kirche, im Morgen,
sind
Frau und Mann
Kind und Greis
Homo und Hetero
arm und reich
gebunden und ungebunden
zusammen und allein.
Willkommen an jedem Ort und willkommen in jeder Berufung.
Willkommen als lebendiger Widerschein von Gottes liebendem Blick.“
- https://www.feinschwarz.net/fuelle-in-der-leere-was-die-ostererfahrungen-2020-uns-sagen/, Abruf 25.10.2020.
- Ebd.