12018

Konzept

Georg Plank

Mit dem Rebenprinzip zu Innovation

Warum es begründete Hoffnung für die Vitalisierung von Pfarreien und Gemeinden gibt

„Jetzt haben wir eh schon so viel zu tun, und nun sollen wir auch noch innovativ sein!“ Diesen Vorwurf handelte ich mir ein, als ich die Komfortzone einer kirchlichen Anstellung verließ und Pastoralinnovation gründete, eine Unternehmensberatung, die Innovation im kirchlichen Bereich stark machen und unterstützen will. Vor fünf Jahren war ich noch um eine Antwort verlegen. Jetzt wage ich zu behaupten: Wer innovativ ist, hat ein ruhigeres, zumindest ein fokussierteres Leben. Das gilt v.a. auch für Führungskräfte, die mit dramatischen Kennzahlen ringen.

In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf die „local church“, also das, was bei Katholiken Pfarre(i) und bei Evangelischen Gemeinde heißt. Denn dort scheint mir die  Frage „wie können wir Zukunft haben?“ am virulentesten zu sein, wie auch die Umfrage von Kairos unter kirchlichen Führungskräften und das mitgelieferte Datenmaterial zeigen. Wenn das territoriale Netzwerk der Kirche kränkelt, leidet der ganze Leib. So viel sei dennoch im Blick auf die wunderbare Vielfalt anderer kirchlicher Handlungsorte (Bildung, Soziales, Gesundheitswesen, Medien, Fresh X etc.) gesagt: Zum einen antworten diese mit ihrer  Pluralisierung, Professionalisierung und Entklerikalisierung auf moderne Trends der Gesellschaft und könnten in diesem Sinne Pfarreien und Gemeinden als Benchmark dienen, eine weitgehend unterschätzte Ressource zur Erneuerung. Zum anderen gilt auch für sie der systemische Grundsatz: Je größer die Vielfalt, umso entscheidender ist die Einheit. Würden sich die vielen Glieder tatsächlich als EIN Leib verstehen und danach handeln, wären die Kirchen insgesamt wesentlich stärker, lebendiger und einflussreicher als sie es zurzeit ist. So beobachte ich aber die Tendenz, die je eigene Marke (oder Person) stark zu machen, während alles Negative auf das große Ganze geschoben wird – die EU-Problematik in kirchlichem Gewand sozusagen. Katholischerseits betrifft diese Herausforderung in erster Linie das bischöfliche Amt.

Je größer die Vielfalt, umso entscheidender ist die Einheit.

Lassen Sie mich für diesen Beitrag in die fiktive Rolle eines Papstes von Deutschland schlüpfen, aus einem einfachen Grund: Die Vorstellung, über „suprema potestas“ zu verfügen, zwingt mich, meine Thesen praxistauglich zu formulieren.

Mögliche Bilder für Analyse, Denken und Handeln

Sehe ich die deutschsprachige Kirchenwelt als Titanic, riesengroß zwar, wohlhabend und einflussreich, aber hoffnungslos leckgeschlagen? Dann ginge es um Krisenmanagement, Überlebenskampf und Evakuierung.

Kommt mir das Bild eines wunderschönen, denkmalgeschützten, aber heruntergekommenen Gebäudes in den Sinn, eines Schlosses oder einer Kirche etwa, in dem  eine eigenartige Mischung aus anachronistischen und hypermodernen Elementen vorherrscht; ein Ensemble, das auf seltsame Weise zu groß wirkt, weil immer weniger Menschen es frequentieren und beleben? Wo die Erhaltung der Infrastruktur einen Großteil der Ressourcen frisst und so kaum Raum für Neues da ist?

Oder ist das Bild eines riesigen Waldes handlungsleitend, in dem ein tausendfaches Gemisch aus ehrwürdigen Bäumen, zarten Jungpflanzen, fruchtbaren Gewächsen und mikro- bis makrobiotischen Kulturen ein komplexes Biotop bilden, in dem Phasen des Wachsens und Sterbens, des Blühens und Welkens sowie des Sichtbaren und Unsichtbaren zugleich ungetrennt und unvermischt ineinander wirken?

Das Rebenprinzip

Welches Bild auch immer bestimmend ist, als Georg I. wäre mir bewusst, dass bei keinem alles gut noch alles schlecht ist. Daher will ich besser sehen lernen: Wo wachsen gute Früchte und woraus bestehen diese konkret? Dabei wären mir die konkreten Erfahrungen derer wichtig, die im täglichen Kontakt mit Menschen und der Welt von heute sind. Diese sollen erzählen, wo sie Früchte im jesuanischen Sinne wahrnehmen. Ist es das pastorale Trauerkonzept, das in einer Pfarre dazu führt, dass rund um die 80 – 100 Begräbnisse eines Jahres tatsächlich mehr Trost erlebbar ist, weil aus der bloßen Absicht ein realistischer Plan und aus dem Plan eine qualitätsvolle Umsetzung geworden ist? Oder ist es die Sonntagsgemeinde, die sich vom Buch „Rebuilt“ hat inspirieren lassen und wo nun messbar mehr Menschen sagen: Der Sonntag ist bei euch so schön und relevant, dass ich gerne öfter komme und das auch meinen Freunden empfehle? Die nicht sagten: Ach lass mich doch mit den Amerikanern in Ruhe, bei uns ist alles anders! Sondern die Schritt für Schritt begonnen haben, von denen her zu denken, die nur ab und zu kommen, und die von diesen Einsichten her handeln. Denn was helfen die Begeisterungsfaktoren Predigt und Musik, wenn es bei den Basisfaktoren hapert, die mittlerweile jede Tankstelle bietet: ein sauberes WC, kleine Snacks und freundliche Bedienung? Vielleicht ist es auch die Hochschulgemeinde, der es gelungen ist, Studierende und Lehrende aus unterschiedlichen Kulturen in lebendigen Kontakt zu bringen, über Kunst, Musik, Mahlhalten oder in der gemeinsamen Hinwendung zu den Benachteiligten im Uni-System?

Was helfen die Begeisterungsfaktoren Predigt und Musik, wenn es bei den Basisfaktoren hapert, die mittlerweile jede Tankstelle bietet: ein sauberes WC, kleine Snacks und freundliche Bedienung?

Kurzum, ich würde im Sinne von Joh 15,2 die Reben, die Frucht tragen, dabei unterstützen, mehr Früchte zu bringen, d.h. mehr Möglichkeiten für heutige Menschen, zu erleben, was Menschen aller Kulturen (nicht nur Glaubens- oder Volksgenossen) vor 2000 Jahren mit Jesus erlebten: Aufrichtung, Orientierung, Befreiung, Ermächtigung, Heilung, Gottesbeziehung und Sendung. Dieses „die fruchtbaren Reben reinigen“ korrespondiert mit dem Konzept inkrementeller Innovationen: Konzentriere dich auf das schon vorhandene Gute und investiere darin, es noch besser zu machen. Denn der Feind des Besseren ist oft nicht das Schlechte, sondern das Gute – eine bittere Erfahrung, die gerade große traditionelle Organisationen in Zeiten des Umbruchs machen.

Wir kennen aber auch den ersten Teil dieses Vorgangs: Der Weinstock muss von Reben befreit werden, die keine Frucht (mehr) bringen. Auch davor würde Georg I. nicht zurückscheuen, mit fachlicher Expertise und nach klaren Kriterien.

An den Früchten werdet ihr sie erkennen

Beim Rebenprinzip geht es um radikale Orientierung am Output oder Impact. Die massiven Relevanzverluste haben ja teilweise ihre Ursache darin, dass trotz großen Aufwandes negative oder kontraproduktive Wirkungen entstehen. Der Weinstock ist zwar groß, aber kaum fruchtbar. Eine junge Innovationskollegin sagte mir jüngst: „Ich bin in eine katholische Schule gegangen, und seitdem bringen mich keine zehn Pferde mehr in eine Kirche!“ Eine andere junge Akademikern erzählte mir: „Ich besuche nie einen Gottesdienst, ich wüsste gar nicht, wo es für eine Frau wie mich etwas Attraktives gäbe!“ Sie lebt in einer deutschen Großstadt. „Aber ich gehe oft in eine Kirche, um zu beten“, fügte sie hinzu.

Ich würde im Sinne von Joh 15,2 die Reben, die Frucht tragen, dabei unterstützen, mehr Früchte zu bringen.

Nach meiner Erfahrung gibt es mehr gute Früchte als von Entscheidern wahrgenommen wird. Unabhängig davon, auf welche Weise Diözesen und Landeskirchen ihr lokales Netzwerk umstrukturieren, gibt es daher große Chancen für die Vitalisierung von Pfarren oder Gemeinden, wenn sie lernen, welche Qualitäten für Attraktivität und Wachstum relevant sind. „Unser Ziel ist, dass die Leute sagen: Es ist gut, dass hier Christen leben“, formulierte ein Mitglied einer neuen postmodernen Kirche das Prinzip: Lasst uns in  erster Linie den Menschen dienen, lasst uns die allgemeinen Probleme lösen helfen. Gläubige bauen mit an einer lebenswerten Gesellschaft, da, wo sie leben, statt krampfhaft zu fragen (oder zu klagen): Wie bekommen wir Leute in die Kirche? Wachstum einer Gemeinde beruht immer auf der Zunahme jesuanischer Qualitäten innen und außen, im ganz profanen und im kirchlichen Umfeld.

Wenn „local churches“ – lokale Gemeinden unabhängig welcher Denomination – sich fragen: Wer sind bei uns die „Armen“ und die Benachteiligten und beginnen, mit Betroffenen konkrete Verbesserungen zu wagen, begeben sie sich in die Spur von Papst Franziskus und seinem Missionsverständnis, das ich für eine radikale Abkehr vom lange dominanten Paternalismus halte.

Einige Beispiele zur Konkretisierung: Wer sind die Schwachen im Verkehr? Wer in den alten und neuen Medien? Wer im Wohnungsmarkt oder Gesundheitswesen? Wer angesichts unaufhaltbarer Digitalisierung? Wer zu Fuß, mit einem Kinderwagen oder Rollator seine Pfarre begeht, wird mit neuen Augen sehen lernen. Dasselbe gilt für andere Bereiche unserer Gesellschaft wie z.B. Medien oder Wirtschaft. Dort erlebe ich auch in meiner Arbeit, wie groß die Chancen für Kirche sind, wenn sie sich aus Selbstbezogenheit löst und als Zeichen und Werkzeug für ihre topaktuelle Botschaft positioniert. Wer solche Lernprozesse nicht nur als Einzelner, sondern gemeinschaftlich und systemisch organisiert, legt die Basis für konkrete innovative Prozesse.

Vom Behaupten zum Erleben

Der weit verbreiteten Kultur des Behauptens in Wort und Papier würde ich als Georg I. entgegentreten. Entscheidend ist, ob individuelle Menschen aller Milieus und die Gesellschaft als Ganzes erleben, was wir verkünden! Daher würde ich einen verantwortungsvollen, aber konsequenten Prozess in Gang setzen, um die „Potestas“ der Kirche zurückzubauen, damit ihre „Auctoritas“ wachsen kann. Ich würde komplementär zu den inkrementellen Formen von Innovation, wie ich sie im Rebenprinzip verdeutlicht habe, auch das Thema „disruptive Innovation“ proaktiv in Angriff nehmen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich vieles sowieso aufhört bzw. durch anziehendere Alternativen seine Grundlage verliert. Wir kennen Beispiele wie den Konzern Kodak, die nicht wahrhaben wollten, dass sich die digitale Fotografie durchsetzt, die verzweifelte Suche alter Medien nach neuen Geschäftsmodellen oder die Autoindustrie, die nicht mit „more of the same“ zukunftsfähig wird, sondern mit völlig neu durchdachten, ganzheitlichen und ökologischen Mobilitätsdienstleistungen.

Also macht es Sinn, sich jetzt schon neu zu orientieren statt Ressourcen in sterbende Systeme zu stecken.

Beispiele für disruptive Innovationen

Es macht Sinn, sich jetzt schon neu zu orientieren statt Ressourcen in sterbende Systeme zu stecken.

Im Personalbereich steht eine radikale Entklerikalisierung an. Das tridentinische Modell des spezielles Priestertums ist in einer Sackgasse gelandet. Durch Fokussierung auf das Kirchenbild des II. Vatikanums könnte das Amtsverständnis so innoviert werden, dass es als integraler Teil des Volkes aller Gläubigen seinen spezifischen Beitrag zum „Aufbau des Leibes“ leisten kann.

Personalsuche und Personalentwicklung würde ich systemisch und strategisch anlegen: Wie kann ich bestehende Organisationen für die Richtigen attraktiveren? Welche Typen, Talente und Kompetenzen sind notwendig, um die jeweils richtigen und erwünschten Früchte bringen zu können? Ich würde sofort mindestens 10% aller Ressourcen für neue experimentelle Räume reservieren und sie in einem Wettbewerb der besten Ideen bespielen lassen, auch und gerade von Menschen wie den oben zitierten jungen Frauen.

Alle kirchlichen Organisationen würde ich herausfordern und sie darin fördern, lernende Organisationen zu werden. Vorbild könnte sein, was mit „deliberately developmental organizations“ oder einfach „neuen Organisationen“ gemeint ist: Systeme, in denen sich die je individuelle und die gemeinsame Entwicklung ergänzen, respektieren und inspirieren. Jeder Mensch, der aktiv in der Kirche wirkt, soll erleben, dass dadurch auch sein/ihr eigenes Menschsein aufblühen und wachsen kann. Strukturen sollen die Botschaft nicht verdunkeln, sondern erfahrbar machen. Jesajanisch formuliert: Sie sollen dem Herrn den Weg bereiten und die Steine beseitigen, die durch systemimmanente Regeln, Gewohnheiten und Kulturen entstanden sind.

Jegliche Form von Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Kultur, Religion oder sexueller Orientierung würde ich innerhalb der Kirche scharf bekämpfen.

Vorbildhafte Beispiele würde ich konsequent auf den Leuchter stellen, damit alle davon lernen können, nicht im Sinne plumpen Nachmachens, sondern als geistvolle Inspiration. Dabei hätte ich keine Berührungsängste, weder vor Evangelikalen noch vor profanen Bereichen, die geistvoll innovieren. Ich würde aktiv allen Widerständen begegnen, auch denen, die aus Neid, Stolz und Ressentiments resultieren.

Jeder Mensch, der aktiv in der Kirche wirkt, soll erleben, dass dadurch auch sein/ihr eigenes Menschsein aufblühen und wachsen kann.

Alle Innovationsstudien zeigen, dass „voneinander lernen“ am Beginn der meisten Innovationen stand. Wenn Menschen sich über die Erfolge und Früchte anderer freuen können und Formen des Teilens aufbauen, ist die Saat für die Skalierung von Besserem gelegt. Gerade das unvergleichliche lokale und globale Netzwerk von Kirche in all seinen Ausformungen bietet hervorragende Voraussetzungen dafür, dass in einer neuen Kultur der Freude und der Wertschätzung sich Gutes schneller verbreiten kann. Niemand kann alles, und keiner kann nichts. Das könnte die Grundlage für mehr Spirit in den aktuellen Herausforderungen sein. Die Ruach Gottes war und ist es, die Kirche als fortwährendes Sakrament für Gottes Liebe ermöglicht. Sie wird es auch weiterhin sein, gerade dann, wenn Stürme aufziehen und der Herr zu schlafen scheint.

Schlagworte

Innovation

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