012017

Foto: Verne Ho

Konzept

Gesche Joost

Kirche in der digitalen Gesellschaft

Als das Internet in den 1990er Jahren Laufen lernte, schien es für  viele ein Raum der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein: neue Formen der Teilhabe und der Meinungsbildung erschienen am Horizont, die unser Verständnis von Gemeinschaft neu definieren sollten. Nicht nur die zunehmende Kommunikation über e-Mail, die zum dominanten Kommunikationsmedium wurde, sondern vielmehr die unbegrenzte Zahl der Foren, auf denen sich jeder mit seiner Meinung global vernetzt einbringen konnte oder der Cyberspace selbst als Raum, in dem sich jeder und jede – unabhängig von Geschlecht oder anderen sozialen Parametern – neu erfinden konnte, begeisterten viele. Die Möglichkeiten, online mit seinem Arzt eine Diagnose durchzugehen, oder gar die weltweite Analyse großer Datenmengen für den effizienten Einsatz von Ressourcen wie Wasser oder Energie waren damals noch kaum denkbar.

Dieser Raum gehorcht neuen Gesetzen: er ist  dezentral organisiert, unabhängig und offen. Keine übergeordnete Institution hat ihn konzipiert, sondern das Netz besteht aus seinen Netzwerkknoten. Es war schnell klar, dass diese Organisationsform auch neue Machtverhältnisse hervorbringen würde. Etablierte Institutionen würden in diesem Raum viel weniger eine Rolle spielen, da sich neue Akteure finden würden, die den Diskurs im Digitalen bestimmen: zunächst Hacker, Nerds und „Special Interest Groups“, mit dem Web 2.0 dann die breite Masse über die sozialen Netzwerke, heute auch die Großeltern, die sich mit ihren Enkeln über Facebook austauschen.

Die Euphorie der 1990er Jahre ist jedoch verflogen. Wir erleben heute immer mehr auch die Schattenseiten des Netzes – Hate-Speech, Radikalisierung im Netz und Cyber-Mobbing stehen auf der Tagesordnung. So entstehen Echo-Kammern, in denen ungehemmt Meinungen verbreitet werden, die sich gegenseitig verstärken und keine sozialen Filter mehr zu haben scheinen. Es gibt kein Halten mehr. Immer wieder sehen wir Tendenzen, die unserer offenen Gesellschaft entgegenstehen, die gegen Toleranz, Vielfalt und Miteinander stehen. Ich vermisse die Kirche im Netz, ich vermisse ihre Stimme in den turbulenten Diskussionen, ihre Leitfunktion für die christlichen Werte unserer Gesellschaft. Wir brauchen die Pastorinnen und Pastoren, die Gemeinden, die Organe der Kirche, die sich individuell wie auch kollektiv einmischen, wenn Menschen online Orientierung suchen, wenn es um die Aushandlung gesellschaftlicher Fragen geht, aber auch wenn es um technologische Diskussionen geht – um die Ethik von Algorithmen, um die Chancen und Grenzen der Künstlichen Intelligenz, um die Bedeutung und den Wert der eigenen Daten.

Ich vermisse die Kirche im Netz, ich vermisse ihre Stimme in den turbulenten Diskussionen, ihre Leitfunktion für die christlichen Werte unserer Gesellschaft.

Wenn wir solche Fragen gemeinsam unter der Perspektive der christlichen Werte diskutieren, ergibt sich ein Leitbild: die Würde des Menschen und seine Autarkie zu wahren, Nächstenliebe und Barmherzigkeit zu leben, die Teilhabe aller, auch der Schwachen und Verzagten, zu ermöglichen. Ängste und Orientierungslosigkeit sind häufig Ursachen für die Enthemmung im Netz – gerade hier kann die Kirche zuhören, zum Nachdenken anregen und Orientierung bieten. Wir müssen gemeinsam das positive Engagement im Netz stärken, Teilhabe fördern und Grenzen aufzeigen, wenn Hass und Gewalt propagiert werden. Gerade hier wünsche ich mir das Engagement der Kirche.

Die Kirche ist natürlich im Netz schon hier und da präsent. Die Nordkirche etwa wird in einem Pilotprojekt ein „Digitales Kirchenlaboratorium“  entwickeln.

„Hier soll eine Gruppe von professionellen und engagierten Kreativen ein Experimentierfeld bekommen, exemplarisch Erfahrungen mit den sozialen Netzwerken zu sammeln und weiterzugeben.“1

Auch der Ansatz, regelmäßige Netzkongresse zu etablieren, in denen über Erfahrungen von Kirchen im digitalen Raum berichtet wird, ist ein guter Schritt,  um sich schnell und unbürokratisch auszutauschen. Social Media Guidelines, etwa die der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelischen Kirche von Westfalen oder der Lippischen Landeskirche2, unterstützen die Aktivitäten ihrer Mitglieder, indem sie Hilfestellungen, etwa im Datenschutz oder in der Ausrichtung eines Facebook-Profils, geben. Spielerische Ansätze, wie sie beispielsweise der Protestant-O-Mat3 verfolgt, zeigen, dass Religion auch abseits von Kirche gelebt und erfahren werden kann. Hier können evangelische Gläubige und die, die es werden wollen, durch 22 Fragen herausfinden, welcher protestantischen Persönlichkeit sie ähnlich sind.

Dieser Raum gehorcht neuen Gesetzen: er ist  dezentral organisiert, unabhängig und offen. Keine übergeordnete Institution hat ihn konzipiert, sondern das Netz besteht aus seinen Netzwerkknoten.

Gleichzeitig können Kirchen als Ort der Gemeinschaft durch das Netz ebenfalls wiederbelebt werden. Mit dem godspot4, dem freien WLAN der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, können Kirchgänger online gehen. Die Kirche zeigt sich  hier als Vernetzer auf ganz neuen Ebenen, als Hot-Spot, der attraktiv um die Gruppe der Digital Natives wirbt.

Betrachtet man diese Transformationsprozesse der Kirche in der digitalen Gesellschaft, so fällt vor allem ein neues Sendungsbewusstsein auf. Sowohl die Institution wie auch die Kirchenmitglieder treten interaktiver auf. Das einseitige Kommunikationsmodell von Sender und Empfänger wird aufgebrochen. Gottesdienste werden im Netz weiter besprochen und erfahren so einen neuen Charakter. Indem die Kirche sich der digitalen Realität stellt, kann Teilhabe eben nur dann gelingen, wenn der christliche Glaube auch dort gelebt wird – zumal eine „analoge“ von einer „digitalen“ Welt nicht mehr zu trennen ist, die Grenzen sind fließend geworden. Ilona Nord stellt zu Recht fest, dass sich

„die Kommunikation des Evangeliums stets in und durch kulturelle Praxen vollzieht, die ohne Medien nicht wahrnehmbar wären.“5

Kirche muss sich also aktiv im Netz einmischen, wenn sie Teil der digitalen Gesellschaft sein möchte. Sie sollte miteinbezogen werden, wenn wir über eine Charta der Digitalen Grundrechte sprechen, wenn wir über Selbstbestimmung und Datenschutz reden. Wie kann beispielsweise digitale Seelsorge gelingen, wenn niemand sicher ist, dass die Daten geschützt sind, dass die Kommunikation sicher ist? Wie stellen wir Teilhabe im Netz her, wenn viele sich ausgeschlossen fühlen von einer immer stärker vernetzten Welt? Wie sind die Fortschritte der Robotik und Künstlichen Intelligenz im Lichte des christlich geprägten Menschenbildes zu bewerten? Als dies sind genuin christliche Fragestellungen.  Es geht darum, die Werte unserer freien Gesellschaft im Netz zu verteidigen und zu leben. Das Netz kann für sie zu einem Ort werden, sich auch experimentell immer wieder neu zu erfinden und Menschen anzusprechen, deren Begegnung bisher unmöglich erschien. So wird das Netz zum Raum der Möglichkeiten.

[1] https://www.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/nordkirche/Synode_201611_TOP_2-4_Stellungnahme_Kammer_der_Dienste_und_Werke.pdf abgerufen am 21.03.2017

[2] http://www.smg-rwl.de/ abgerufen am 22.03.2017

[3] http://www.evangelisch.de/protestantomat

[4] https://godspot.de/

[5] http://www.velkd.de/downloads/141107_Impulsreferat_Ilona_Nord.pdf S. 9. Aufgerufen am 22.03.2017

  1. https://www.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/nordkirche/Synode_201611_TOP_2-4_Stellungnahme_Kammer_der_Dienste_und_Werke.pdf abgerufen am 21.03.2017
  2. http://www.smg-rwl.de/ abgerufen am 22.03.2017
  3. http://www.evangelisch.de/protestantomat
  4. https://godspot.de/
  5. http://www.velkd.de/downloads/141107_Impulsreferat_Ilona_Nord.pdf S. 9. Aufgerufen am 22.03.2017

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