012024

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Konzept

Maria Widl

Gesellschaftliche Transformationen – über den Nutzen des christlichen Erbes

Unsere Kulturen stecken in tiefgreifenden Wandlungsprozessen, die sich überlappen. Das ist nicht neu, aber immer aufs Neue fordernd. Manche davon werden gesellschaftlich wahr­genommen und kontrovers diskutiert: gegenwärtig z.B. der Klimawandel, der kriegerische Konflikt in der Ukraine, die Migrantenströme oder die Genderbewegung. Anderes bewegt fachbezogene Diskurse und wird zugleich in seinen Auswirkungen persönlich erfahren, wie das Waldsterben, der wachsende Einfluss von Social Media und KI oder die Debatten um Tierwohl, Fleischkonsum und Ernährungsstil. Die (katholische) Kirche bewegen die Missbrauchsskandale, die Synodalität und der Schwund an Gemeindemitgliedern und Kirchenbesuchern, sowie deren Überalterung. Unter all dem liegen langfristige Entwicklungen, die wissenschaftlich zum Teil schon lange beobachtet und reflektiert werden: von den Pflicht- und Akzeptanzwerten zu den Selbsterfahrungs- und -entfaltungswerten (Klages), von der bunten Pluralität der Moderne zur anstößigen Heterogenität der Postmoderne (Widl), von christentümlichen Kulturen zu unterschiedlichen Formen durchgesetzter Säkularität (Taylor), von der Volkskirche über die Gemeindekirche zu Frömmigkeits- und Lebensstilbewegungen, um nur Einiges zu nennen.

Wie kommen wir als Gesellschaft mit all dem zurecht? Wie können die nötigen Aushandlungsprozesse gedeihlich gestaltet werden? Wie schützen wir in all dem unsere Demokratie vor ihrer Zersetzung durch Populisten und Autokratie-Fantasten? Kann angesichts der Schwäche der Kirchen – wobei kulturell an sie nach wie vor beträchtliche Erwartungen bestehen (KMU 6) – das Christentum als Ressource bedeutsam oder zumindest hilfreich sein? 

Es gehört zum Wesen von Demokratien, dass sie eine Diskurskultur als zentrales Mittel ansehen, um mit Konflikten umzugehen, Aushandlungsprozesse voranzubringen und allgemein akzeptable Lösungen herbeizuführen

Zu den Schwierigkeiten der Diskurskultur

Es gehört zum Wesen von Demokratien, dass sie eine Diskurskultur als zentrales Mittel ansehen, um mit Konflikten umzugehen, Aushandlungsprozesse voranzubringen und allgemein akzeptable Lösungen herbeizuführen. Zugleich stellen wir fest, dass das immer weniger zu funktionieren scheint. Als zentrale Gründe dafür sind anzusehen:

  • Heterogenität: Es gehört zum Wesen der Postmoderne, dass sich Vielfalt nicht mehr primär plural, sondern primär heterogen zeigt. In der modernen Pluralität bestehen Differenzen, die auf unterschiedlichen Ansichten oder Wünschen beruhen, zwischen denen bei einigem guten Willen Kompromisse gefunden werden können. Die Postmoderne bringt den Widerstreit hervor: Die Werte, Prioritäten und Lebensstile zeigen sich als so heterogen, dass das, was die einen anstreben und wofür sie kämpfen wollten, bei den anderen überhaupt nicht als Wertekategorie aufscheint. (Lyotard) Während die einen für Tierwohl kämpfen streiten die anderen ab, dass Tiere überhaupt empfindungsfähig sind. Während katholische Frauen feststellen, dass sie zum Priestertum berufen sind, erklärt eine kirchliche Doktrin, dass das gar nicht möglich ist, weil aus metaphysischen Gründen das Priestertum dem Mann vorbehalten ist. Während die Ukraine für politische und gesellschaftliche Freiheit nach westlichem Muster kämpft, bestreitet Putin ihre Existenz als Nation, weil er mit der Wiederherstellung Russlands als Großmacht in die Geschichtsbücher eingehen will. Solche Konflikte werden über Machtverhältnisse entschieden und die Ohnmächtigen haben keine Instanz, vor der sie mit demokratischen Mitteln um ihr Recht kämpfen könnten.

    Die Postmoderne bringt den Widerstreit hervor: Die Werte, Prioritäten und Lebensstile zeigen sich als so heterogen, dass das, was die einen anstreben und wofür sie kämpfen wollten, bei den anderen überhaupt nicht als Wertekategorie aufscheint

  • Überkomplexität und einfache Wahrheiten: Eine weitere Folge heterogener Verhältnisse ist die Überkomplexität von Sachverhalten. Als die Kirchen noch das Monopol auf die Wahrheit hatten, konnte jede Erfahrung und jeder Sachverhalt eindeutig gedeutet und bewertet werden – zumindest war das für den überwiegenden Großteil der Bevölkerung der Fall. Unter Bedingungen der Heterogenität gibt es zu jedem Thema, zu jedem Sachverhalt, zu jeder Entwicklung völlig unterschiedliche, oft sogar konträre Einschätzungen und Meinungen. Das ist darauf zurückzuführen, dass man aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Brillen die Dinge anders sieht. Dieser Umstand ist in wissenschaftlichen Diskursen selbstverständlich; daher liest man hier jede Studie mit der Frage nach Methode, Rahmenbedingungen, Reichweite und speziellem Interesse der Fachdisziplin und der Auftraggeber. Die nicht wissenschaftlich orientierte Allgemeinbevölkerung ist darin nicht geschult und damit überfordert. Von daher ist die Versuchung groß, lieber bei einfachen Wahrheiten zu bleiben, mit denen man gut leben kann.

    Unter Bedingungen der Heterogenität gibt es zu jedem Thema, zu jedem Sachverhalt, zu jeder Entwicklung völlig unterschiedliche, oft sogar konträre Einschätzungen und Meinungen.

  • Wahrnehmungsfilter: Es gehört zum Leben, immer wieder mit neuen Situationen fertig werden zu müssen; und seien es nur jene, die sich durch das Älterwerden biologisch ergeben. Von daher sind wir – auch unabhängig von der typisch modernen Logik permanenter Innovationen – lebenslang genötigt, dazu zu lernen. (vgl. Porzelt) Dieses Lernen geschieht im Spannungsfeld zwischen Assimilation und Akkommodation: Der gesunde Mensch bleibt immer er/sie selbst, obwohl sie/er sich laufend verändert und weiterentwickelt. Würde der Mensch sich an alles völlig anpassen, was von ihm verlangt wird, wäre er ein schwaches Blatt im Wind ohne Profil und Selbststand. Wird er durch Wechselfälle und Brüche des Lebens aus der Bahn geworfen, muss er sich in einem langen und mühsamen Prozess wieder selbst finden. Die Fähigkeit, mit all dem gedeihlich umzugehen wird unter dem Stichwort „Resilienz“ in letzter Zeit umfassend diskutiert. Eine dazu schwächere Strategie ist Ignoranz: wegschauen, keine Nachrichten mehr sehen wollen, sich in der eigenen Welt oder der sozialen Filterblase einigeln, egoistisch nur den eigenen Zielen folgen oder die eigene Bequemlichkeit anstreben. All dies ist ein oft auch notwendiger Schutz vor Überlastung und Überforderung. Und in dem Maß, als die Krisen vielfacher und umfassender werden, Zeithaben und Muße – nicht zuletzt durch den Zeitdieb soziale Netzwerke – zum selten gekannten Luxus werden, ist das nur zu verständlich. Dazu kommt, dass Menschen mit ihren fünf Grunddimensionen unterschiedlich aufstellt sind: Wer sich am Sozialen orientiert wird das denken und erfahren, was sein Umfeld wahrnimmt. Wer emotional ausgerichtet ist, wird die Wahrheit wählen, die sich gut anfühlt. Wer handlungsorientiert ist, entscheidet sich für jene Perspektive, die ihm praktische Handlungsoptionen eröffnet. Wer sich vorwiegend religiös versteht, wird sich mühen, alles im Lichte des Glaubens, des Reiches Gottes oder der Kirche zu beurteilen. Nur die vergleichsweise Wenigen, die vornehmlich intellektuell geprägt sind, werden Fakten suchen, vergleichen und gegeneinander abwägen. Nun hat jeder Mensch Zugang zu allen fünf Dimensionen, gewichtet diese aber verschieden, oft sogar situativ unterschiedlich. In Diskursen auf das vermeintlich bessere Argument zu bauen, scheint von daher ziemlich aussichtslos.

    Wegschauen, keine Nachrichten mehr sehen wollen, sich in der eigenen Welt oder der sozialen Filterblase einigeln, egoistisch nur den eigenen Zielen folgen oder die eigene Bequemlichkeit anstreben … all dies ist ein oft auch notwendiger Schutz vor Überlastung und Überforderung

  • Zeit und Macht: Die Habermas’sche Diskursethik, an der sich mehr oder weniger alle modernen Diskurskonzepte orientieren, geht davon aus, dass man nur lang genug zusammensitzen und reden muss, um zu einer Einigung zu kommen. In gewissem Sinn ist das richtig; schon eine alte Volksweisheit sagt: „Beim Reden kommen die Leute zusammen.“ Zugleich steckt die Praxis voller Tücken. In den 1980er-Jahren gab es einen vieljährigen wissenschaftlichen Prozess zwischen Diskursethik und Befreiungsethik mit der Fragestellung, wie ein idealer Diskurs beschaffen sein muss, damit die Armen zu ihrem Recht kommen. Schließlich haben ihn die Befreiungsethiker abgebrochen: Für endlose Diskurse muss man unbegrenzt Zeit und Ressourcen haben. Während wohlbestallte Professoren (oder Politiker) wichtige Themen in gepflegter Atmosphäre ohne Zeitdruck verhandeln, sterben anderswo die Armen an Hunger und kriegerischen Konflikten. Wer mit ihrer Perspektive lebt, hat keine Zeit zu verschwenden. Ein anderes Problem solcher Diskurse zeigte sich schnell, als man die „Familienkonferenz“ propagierte: Alle Konflikte würde man leicht lösen können, wenn man gemeinsam um einen Tisch sitzt und redet. Was aber, wenn ein Kind schnell feststellt, dass es keine Lust auf Reden hat und beginnt Terror zu machen, um seinen Willen durchzusetzen? Was wenn ein Elternteil feststellt, dieser „Psychologenkram“ sei nicht sein Ding, und den Dialog abbricht oder zu Vorwürfigkeiten übergeht? Was wenn die beschränkte gemeinsame Freizeit dafür aufzugehen droht, zu besprechen, was man in ihr gemeinsam machen könnte, würde man sich einigen? Und dann gibt es noch die bekannten anderen Strategien, um Diskurse auszuhebeln: ablenken, das Thema wechseln, die Sach- und die Beziehungsebene permanent kreuzen, das Thema ins Lächerliche ziehen usw. In institutionellen Diskursen kommen noch andere Kategorien dazu: Vortrag von Reden, die andere geschrieben haben; Rednerlisten sodass man nicht direkt replizieren kann; Medien und Öffentlichkeit, die Aussagen filtern; ein Publikum, vor dem man sich profilieren will; persönliche Eitelkeiten, die verhindern, die Ideen anderer gut heißen zu können; die Parteiraison und die Wählerinteressen; die verbale Zustimmung, der keine Taten folgen usw.

    Die Habermas’sche Diskursethik, …, geht davon aus, dass man nur lang genug zusammensitzen und reden muss, um zu einer Einigung zu kommen … [aber] Für endlose Diskurse muss man unbegrenzt Zeit und Ressourcen haben

Die genannten Schwierigkeiten werden Demokraten nicht davon abhalten, immer und immer wieder Diskurse zu führen und zu Einigungen zu kommen. Ob auf diesem Weg die gegenwärtigen Krisen – Klimakrise und Artensterben, politische Radikalisierung und autokratische Fantasien, Glaubensverlust und Relevanzverlust der Kirchen, Digitalisierung und KI in ihren kulturellen Auswirkungen, gegenläufige internationale politische Interessen und die Ausbeutung der südlichen Armutskulturen speziell in Afrika und Lateinamerika, usw. – ob diese Krisen durch Diskurse handhabbar gemacht werden können, darf aufgrund aller bisherigen Beobachtungen bezweifelt werden. Müssen wir tatenlos oder auf verlorenem Posten stehend zusehen, wie alles den Bach runtergeht und die nächsten Generationen uns mit Vorwürfen überhäufen werden, welche Art von Welt wir ihnen hinterlassen?

Die Erfahrung zeigt, und die christliche Hoffnung baut im Sinne der Erlösung darauf, dass es, wenn Plan A scheitert, immer einen Plan B gibt. Dieser liegt jedoch nicht auf derselben Ebene, sondern erfordert einen fundamental anderen, i.d.R. grundsätzlicheren Zugang. Christliche Werte können dazu eine Grundlage sein, zumal sie „allen Menschen guten Willens“ auch jenseits expliziten Glaubens zugänglich sind. Das soll im Folgenden kurz skizziert werden.

Gerechtigkeit – das Liebesgebot als Basis von allem

Jedes Miteinander von Menschen, jedes Gemeinwesen lebt davon, dass die Beteiligten das Gefühl haben, es gehe gerecht zu. Dabei ist es nicht möglich einen verallgemeinerbaren Maßstab dafür anzugeben, wann es denn gerecht zugehe. Die katholische Soziallehre hat dazu eine Maxime gesetzt, die – obwohl durch das Dritte Reich missbraucht und daher in manchen Diskursen diskreditiert – dennoch der bestmögliche Maßstab zu sein scheint: „Jede*m das Seine“. Dabei ist „das Seine“ nie von außen her bestimmbar, sondern liegt im Ermessen der Person. Damit beginnen jedoch die Probleme, wenn jemand beansprucht, was andere ihm* nicht zugestehen wollen oder können. Es braucht also auch darüber wieder Aushandlungsprozesse, die eine Ethik der Gerechtigkeit als Basis haben. Darüber hinaus sind verschiedene Kategorien zu unterscheiden:

Jedes Miteinander von Menschen, jedes Gemeinwesen lebt davon, dass die Beteiligten das Gefühl haben, es gehe gerecht zu

  • Verteilungsgerechtigkeit: Das allen im Prinzip das Gleiche zusteht, wenn auch je nach den Verhältnissen verschieden, ist die Basis jeder Sozialgesetzgebung. Sie bezieht sich auf eine materielle Grundversorgung, auf den Zugang zu Recht und Bildung, sowie auf die Möglichkeiten sozialer Teilhabe.
  • Beteiligungsgerechtigkeit: Diese ist schon viel schwieriger zu realisieren. Selbst wenn kirchliche Schulen mit allen Mitteln eine Durchmischung der sozialen Schichten unter den Schülern* anstreben, zeigt sich das in der Praxis als fast unmöglich. Oft scheuen sich die Eltern aus prekären Milieus, sich auf einen Platz zu bewerben. Und selbst wenn das gelingt, fühlen sich dann die Kinder nicht wohl. Die alte Volksweisheit bewahrheitet sich auch hier: „Gleich und Gleich gesellt sich gern.“ Für Erwachsene bewahrheitet sich das im Wohnumfeld, am Arbeitsplatz, in der Freizeitgestaltung, bei der Partnerwahl: Unser alltägliches Verhalten ist sehr komplex, und nur ausreichend viel gemeinsame vertraute Selbstverständlichkeiten machen es möglich, auf ihrer Basis in Aushandlungsprozesse zu gehen. Der dauerhafte Umgang mit dem und den Fremden über als irgendwie exotisch wahrgenommene Kurzzeitkontakte hinaus, erscheint immer mühsam und letztlich unzumutbar. Das funktioniert bloß bei ausreichend großen privaten Freiräumen. Und diese sind wieder eine Frage der verfügbaren Ressourcen.
  • Belastungsgerechtigkeit: Diese Kategorie kommt bei Gerechtigkeitsdebatten kaum je in den Blick. Berücksichtigt werden ganz selbstverständlich die Belastungen durch Alter, Krankheit und Behinderungen, in Maßen auch durch die Versorgung kleiner Kinder. Zugleich wird der Aufwand für Care-Arbeit, der zum überwiegenden Teil bei den Frauen liegt, weitgehend unterschätzt. Wenn Männer sich an Haushalt und Kinderbetreuung beteiligen, verstehen sie dies meist als „Mithilfe“. Alles im Blick zu haben, alle nötigen Termine, Besorgungen und sozialen Notwendigkeiten zu koordinieren, ist ein gehöriger Aufwand, der in aller Regel bei den Frauen bleibt. Irgendwann ist dann der Kopf so voll, dass man für Weiteres „keinen Kopf mehr hat“. Und irgendetwas kommt dann zu kurz: die berufliche Profilierung, ein gedeihlicher Lebensstil, die eigene Freizeit sowieso. Wenn gerade junge Menschen den Anspruch erheben, im Sinne der „Work-Life-Balance“ weniger zu arbeiten, geht das menschlich und sozial in die richtige Richtung. Zugleich ist der Fachkräftemangel ein gehöriges Problem, das nicht nur die Wirtschaft trifft. Es schränkt die Lebensqualität deutlich ein, wenn Dienstleistungen nicht mehr zeitnah erbracht werden können, vom Zahnarzttermin bis zur Installation der Solaranlage. Viel mehr wird künftig wieder in Eigenarbeit und Nachbarschaftshilfe geleistet werden müssen, soweit dies von den Kompetenzen her überhaupt möglich ist. Eine hoch spezialisierte Kultur lebt von funktionierender Arbeitsteilung; wir werden auf Zukunft hin vieles wieder viel einfacher machen müssen – und das gilt nicht nur für die Bürokratie.

    Ein zentraler Punkt für alle Gerechtigkeitsfragen liegt aus meiner Sicht in der Überwindung eines egoistischen Anspruchsdenkens … Christlich gesehen geht es um eine gute Balance von Nächstenliebe und Selbstliebe.

Ein zentraler Punkt für alle Gerechtigkeitsfragen liegt aus meiner Sicht in der Überwindung eines egoistischen Anspruchsdenkens. „Verzicht“ ist ein Wort, das man nicht gern hört und ja nicht zur Diskurskategorie machen darf. Vielleicht geht es besser mit „Großherzigkeit“, „Stärke die zur Nachgiebigkeit befähigt“, „Würde ohne Pochen auf herkömmlichen sozialen Status“. Christlich gesehen geht es um eine gute Balance von Nächstenliebe und Selbstliebe. Das Christentum hat dazu als unverzichtbare Ressource die Gottesliebe im Zentrum der Trias. Weil ich mich von Gott gesehen und getragen weiß, muss ich mich nicht dauernd profilieren. Weil ich mich von Gott berufen und gesendet erfahre, weiß ich um mein je Eigenes, das nichts und niemand mir streitig machen kann. Zugleich weiß ich, dass ich im Eigenen nur in dem Maß wachse, als ich es in den Dienst des Gemeinsamen stelle. Und weil Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde, aller Menschen und alles Lebendigen ist, muss ich und tut es mir gut, den Kreis dessen, was ich bei meinem Dienst im Blick habe, möglichst auszuweiten. Das geht nur, wenn ich zugleich im Blick habe, was an Dingen, Sorgen und Zeitdieben ich getrost loslassen darf. „Entrümpeln“, „neue Einfachheit“, „Aussteigen aus dem Alltagsstress“ – alles Kategorien, die gesellschaftlich schon gegenwärtig und für die Zukunft wichtig sind.

Vertrauen – an sich selbst und die anderen glauben

Vertrauen ist biologisch das erste, was Menschen als „Nesthocker“ mitbringen. Zugleich kann dieses Urvertrauen durch Kindheitserlebnisse bereits gründlich ge- oder sogar zerstört werden. Dabei ist es unverzichtbar sowohl für die eigene wie für die soziale Lebensqualität. Es kann durch Rechtsansprüche nicht ersetzt werden. In dem Maß, als Ausbeutung und Betrug zur normalen Geschäftsgrundlage werden, gegen die in manchen Fällen der Klageweg möglich ist, geht gesellschaftliches Vertrauen verloren – und das zerstört Demokratien weitaus nachhaltiger als jede Ideologie. Denn so kann jeder öffentlich bekannte Fall genutzt werden, um Misstrauen und Hass zu schüren; und Fake News, Verschwörungstheorien und Autokratiefantasien eine gewisse emotionale Plausibilität zu geben. In Einbeziehung auch implizit nachvollziehbarer christlicher Werte bedeutet das für Diskurse konkret:

  • Selbstvertrauen: Ich bin als Mensch zum Bild Gottes geschaffen, und habe daher meine eigene Würde. Damit habe ich das Recht auf eine eigene Meinung, auch wenn diese niemals perfekt sein wird; weder moralisch noch sachlich. Ich kann und darf immer dazulernen und auch Fehler machen.
  • Vertrauen in die anderen: Was für mich gilt, gilt auch für alle anderen. Wir begegnen einander mit Respekt und Rücksichtnahme. Jeder* will immer nur das Beste; und wir unterstützen einander darin, den Kreis derer, die wir im Hinblick auf das Beste im Blick haben, möglichst größer zu machen.

    Vertrauen ist … unverzichtbar sowohl für die eigene wie für die soziale Lebensqualität. Es kann durch Rechtsansprüche nicht ersetzt werden

  • Kritik: Wo Menschen einander vertrauend begegnen, können und sollen sie auch kritisch denken und Kritik üben. Dies geschieht immer um der Sache und der Wahrheit willen. Der Umgangston ist freundlich und führt nie zu persönlichen Angriffen. Wir helfen einander, sachliche Kritik nicht als persönliche Kritik auszusprechen und wahrzunehmen.

Diesem gegenseitigen Vertrauen (nicht nur) in Diskursen entspricht ein Zusammenspiel von demokratischen und autokratischen Mechanismen, von Leitung und Mitarbeit.

  • Leitung: Sie ist die autokratische Ebene des Miteinander. In demokratischen Zusammen­hängen basiert sie auf gegenseitigem Vertrauen und nicht auf gewaltförmiger Macht. Sie gebraucht Macht, die sie aus persönlichem Selbstvertrauen und der vertrauenden Bestärkung durch die Gruppe erhält. Diese Autorität kommt zum Einsatz, um das Zusammensein der Gruppe atmosphärisch angenehm und sachlich produktiv zu gestalten.
  • Mitarbeit: Sie ist die demokratische Ebene des Miteinander und basiert auf Vertrauen und Engagement. Dazu gehört die Bereitschaft beizutragen, was in der eigenen Kompetenz und den eigenen Kräften steht. Das beinhaltet die Bereitschaft vorzutreten, wenn die Leitung dazu einlädt oder die Gruppensituation es erfordert; und ebenso die Bereitschaft, im Dienst der Sache und der Gruppe zurückzutreten und sich einzufügen. Jedenfalls wird der Prozess wach und einsatzbereit mitgetragen; alle sind mitverantwortlich und tragen zum Gelingen bei.
  • Betroffene sind zu beteiligen: Wer durch Gemeinschaft und Sache betroffen ist, hat das Recht und die Pflicht zu einer angemessenen Anteilhabe. Das impliziert, in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Rollen einzunehmen und diese auch tatkräftig wahrzu­nehmen. Auch die Leitungsrolle wechselt häufig. Es liegt in der Verantwortung der jeweiligen Leitung, zur Annahme verschiedener Rollen einzuladen, zu ermutigen und diese auch zu schützen. Es liegt in der Verantwortung aller Beteiligten, die Übernahme von Rollen anzu­bieten, je nach eigener Leistungsfähigkeit und Kompetenz. Passivität und Bequemlichkeit sind ebenso kontraproduktiv, wie eine sich in allem zurücknehmende Vorsicht und Angst, oder eine jederzeit aufdringliche Einmischung. Ist etwas jedoch wichtig und dringlich, dann braucht es die Unterbrechung, wie sie sich in Einspruch, Protest und Demonstration zeigt: „Störungen haben Vorrang,“ (TZI)

    Sich gut informiert fühlen und eingebunden in eine Gemeinschaft, die Informationen, Ansichten und Einsichten teilt, ist die beste Basis, um auch angemessen zum Handeln zu kommen

Vertrauen wird nicht nur durch die gegenseitige Anerkenntnis von Würde und durch Leitungs- und Beteiligungsverhalten gefördert. Dazu wesentlich sind ebenfalls Information und Transparenz:

  • Transparenz: Jede Zusammenarbeit, die auf Vertrauen basiert, hat auch eine Sachebene. Diese ist so umfassend zu kommunizieren, dass alle sich in angemessener Weise beteiligen können, ohne über- oder unterfordert zu sein. Das impliziert seitens der Leitung klug zu überlegen, was an die Teilnehmenden kommuniziert werden soll, damit sie informiert sind und sich sicher und frei fühlen können. Zugleich ist es der zentrale Dienst der Leitung, die Fäden in der Hand zu haben und dies nicht aus Bequemlichkeit wahllos an die Gruppe zu geben. Die Teilnehmenden haben jederzeit das Recht, weitere Informationen abzufragen und umfassend wahrheitsgemäß über alles informiert zu werden, was nicht zum Schutz Einzelner im forum internum bleiben muss.
  • Information: Jedes Thema hat Elemente, die die einzelnen Beteiligten schon kennen und mitbringen und andere, die im Laufe der gemeinsamen Arbeit bereitgestellt werden. Darüber hinaus sind alle Beteiligten gefordert, im Maß ihrer eigenen Möglichkeiten sich weitere Informationen anzueignen und weiterführende Gedanken zu pflegen. Daraus entsteht ein Reichtum an Sachwissen, Verständnis und Einsichten, der die unübertreffbare sachliche Stärke demokratischer Prozesse ausmacht.
  • Handlungsoptionen: Sich gut informiert fühlen und eingebunden in eine Gemeinschaft, die Informationen, Ansichten und Einsichten teilt, ist die beste Basis, um auch angemessen zum Handeln zu kommen. Allerdings schlägt praktisch hier der mind-behaviour-gap zu: Wir tun oft nicht, was wir wissen und sollten, obwohl wir es grundsätzlich wollten. Wesentliche Gründe dafür sind Gewohnheiten, Bequemlichkeit und Versagensangst. Unsere Gewohnheiten sichern und erleichtern das Leben; sie zu ändern, bedarf einer Extraportion Motivation und oft auch eines Projekts im Rahmen einer Auszeit vom Alltag. Unsere Bequemlichkeit könnte man christlich als Paradiesessehnsucht deuten: Eigentlich ist uns nichts lieber, als dass alles ohne Anstrengung einfach und glücklich läuft. Leider ist das auf Erden, von glücklichen Momenten geschenkter Leichtigkeit abgesehen, meist die Versuchung zum Schlaraffenland, was immer auf Kosten von anderen geschieht, im christlichen Sinn also Ausbeutung und daher Sünde ist. Versagensängste gehören zum Menschsein, wer sie nicht hätte, wäre über die Maßen präpotent und in einem Göttlichkeitswahn gefangen. Zugleich sind Versagensängste aber auch Ausdruck von mangelndem Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten – was auch einen Schutz darstellt – und in die Gruppe und Gott, die uns tragen.

    Wir werden lernen müssen, mit sehr viel weniger gut zu haushalten und Vieles vertrauensvoll miteinander zu teilen. Das impliziert ein hohes Maß an Achtsamkeit gegenüber der Natur, die wir nutzen, den Produkten, die wir teilen und den Menschen, mit denen wir teilen

Die Sorge für die Almende – Basis der Hoffnung und Freude

Umfassende Lebensvoraussetzung, sowohl für das gegenwärtige wie das zukünftige Leben für uns ganz praktisch und für die Menschheit als Ganze ist die Almende. Sie wird in den gegenwärtigen Diskursen um Post-Wachstums-Konzepte des Wirtschaftens wieder vermehrt thematisiert. Es geht dabei um alles, was uns gemeinsam ist: Luft und Wasser, Wildtiere und -pflanzen, die Meere und die Polargebiete. Früher gehörte dazu auch der Dorfanger, wo jeder sein Vieh weiden konnte, die freien Wiesen und Wälder, die Bäche und Seen. Heute ist in Europa aller Grund und Boden in Besitzverhältnissen geregelt und entweder in privater oder öffentlicher Hand. Wieweit Weltmeere und Urwälder für wirtschaftliche Zwecke ausgebeutet werden dürfen, wie weit es ein Landrecht indigener Völker gibt, und wieweit Gebiete wirtschaftlich ausgebeutet und dabei ökologisch zerstört werden dürfen, darüber gibt es teilweise Debatten. Zum Großteil gilt die Macht des Stärkeren oder dessen, der schneller Fakten setzt.

Durch neue Technologien, und seien sie noch so klimafreundlich, werden neue Ressourcen gebraucht und damit neue Gebiete zu deren Ausbeutung ökologisch zerstört. Die Abkehr von fossilen Brennstoffen unter Beibehaltung oder Steigerung des Energieverbrauchs bedingt daher neuartige und zusätzliche Schädigungen der gemeinsamen Lebensgrundlagen der Menschheit. Dazu kommt das Problem, dass die chemische Industrie den Müll erfunden hat. Alle natürlichen Stoffe werden in der Natur problemlos in ihren Kreisläufen weiter verwertet. Müll dagegen ist unverwertbarer Ballast, der Ökosysteme überlagert oder zerstört, ohne in sie in absehbaren Zeitläufen integriert werden zu können. Es führt kein Weg daran vorbei, mit den natürlichen Ressourcen sehr sehr viel sparsamer umzugehen, möglichst wenig zu erzeugen, das bald Müll sein wird, möglichst darauf zu achten, dass Produkte recycelt werden können, sodass sie in gleichwertigen nützlichen Produkten weiter Verwendung finden. Dazu werden Second Hand-, Tausch- und Leihprodukte essentiell. Wir werden lernen müssen, mit sehr viel weniger gut zu haushalten und Vieles vertrauensvoll miteinander zu teilen. Das impliziert ein hohes Maß an Achtsamkeit gegenüber der Natur, die wir nutzen, den Produkten, die wir teilen und den Menschen, mit denen wir teilen.

Die Sorge um die Almende wird daher in einem weiteren Sinn sich auf das erstrecken, was wir gemeinsam haben und was man nicht kaufen kann: die biologische Sauberkeit von Wasser, Luft und Nahrungsmitteln; Ruhe, Muße und heiteres Miteinander in freundlicher menschlicher Atmosphäre; die Sorge umeinander angesichts der Herausforderungen und Wechselfälle des Lebens; die Freude daran zu schenken und sich beschenken zu lassen.

Reich-Gottes-Praxis

Was hier als Ansätze zu einem guten Leben jetzt und in Zukunft beschrieben wurde, ist im christlichen Sinn Reich-Gottes-Praxis. Glaube, Hoffnung und Liebe, die hier implizit erschlossen wurden, sind die „göttlichen Tugenden“ des Christentums. Die christliche Ethik und Spiritualität beschreiben, was zu ihrer Gestaltung förderlich und was hinderlich ist. Das Wissen darum und die Achtung davor sind auch in den Kirchen durch die modernen Lebenstraditionen rückläufig. Sie wieder zu kultivieren macht die Kirchen zumindest dann neu relevant, wenn die Bedrängnis durch die Lebensumstände groß wird. Zugleich sind das keine neuen Rezepte für die heutigen Zukunftsherausforderungen sondern das, was Menschen immer schon mit je kulturbedingt anderen Priorisierungen angehen mussten – und woran sie immer auch gescheitert sind. Die Zukunft im Jenseits unseres irdischen Lebens lag immer schon in Gottes Hand. Heute wird uns vielleicht erstmals bewusst, wie sehr das auch für das Diesseits der Weltgeschichte und ihre Zukunft gelten mag.

 

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