012024

Foto: Dima Pechurin/Unsplash

Konzept

Lea Chilian

Eine (Schwangerschafts-)Konfliktberatung für die Gesellschaft.

Trauen wir uns mehr Diskurse zu?

Die etwas aus der Mode gekommene Redewendung „mit etwas schwanger gehen“ bedeutet, sich einige Zeit gedanklich intensiv mit einer anstehenden schwierigen Entscheidung zu beschäftigen, um zu einer möglichst abgewogenen Handlungsoption zu kommen. Es bedeutet eine Entscheidung, einen Plan, eine Frage, einen Zweifel mit sich herumzutragen, zu versuchen sich eine Meinung dazu zu bilden und eine Position zu beziehen. Dabei scheint der Gedanke, das eigene Denken und Handeln ununterbrochen zu begleiten und das Ergebnis nicht leicht erziel- und bewältigbar zu sein. Es muss und will in einem intensiven Prozess “ausgebrütet” werden – weshalb man „einige Zeit schwanger geht“. Im Alltag drängt sich diese Frage, dieser Gedanke immer wieder auf, drängt sich in den Vordergrund, ist präsent bei allem dabei und fordert einen Teil Gehirnleistung. Womöglich wirkt man auf andere unkonzentriert und abgelenkt. Das weist auf ein weiteres Merkmal dieses Zustands hin: Die Beschäftigung, Ablenkung und Strapazierung der gedanklichen Kräfte geschieht mitunter im Verborgenen. Der Gedanke wird erst laut mitgeteilt, wenn er schon eine kommunizierbare Form angenommen hat und diese Form der Verbalisierung ein diffuses Gefühl abgelöst hat.

Unsere Gesellschaft geht derzeit auch mit einigen Themen schwanger und die Beispiele der Themen medialer Dauerpräsenz sind zahlreich. Wie wirkt sich dies aber auf die Menschen auf der persönlichen Ebene und im gesellschaftlichen Zusammenleben aus? Die Reaktionen reichen von Verunsicherung und Zögerlichkeit bei Entscheidungen im privaten Bereich bis hin zur Klage über den Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Sicherlich sind die Gründe auch in den mitunter hitzig geführten Debatten zu den politischen und ökonomischen Herausforderungen auszumachen. Sie sind jedoch auch Abbilder eines (leisen?) Aushandlungsprozesses über Werte: Welche wir teilen, welche wir schützen und erhalten wollen und wie wir darüber kommunizieren können.

Unsere Gesellschaft geht derzeit … mit einigen Themen schwanger. … Sie sind … auch Abbilder eines (leisen?) Aushandlungsprozesses über Werte: Welche wir teilen, welche wir schützen und erhalten wollen und wie wir darüber kommunizieren können

Mit Werten bezeichnet die Ethik die Ziele unserer Handlungen. In ihnen lassen sich die Motivationen unserer Handlungen erkennen – und es ist inzwischen nahezu unstrittig, dass wir nicht davon ausgehen können, dass es allgemeingültige Werte aller Menschen oder einer Gesellschaft gibt.

Der deutsche Ethikrat hatte im April 2024 zu einer Veranstaltung zu „Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur“ eingeladen. Dabei wurde die normative Stellungnahme vermieden und stattdessen die Metaebene gesucht. Denn bei Fragen der Reproduktionsmedizin, bei Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Pränataldiagnostik, Leihmutterschaft und Eizellspende (u.v.m.) werden Werte verhandelt, und Debatten zu diesem Themen neigen dazu „in einer Art Kulturkampf debattiert zu werden, und sie werden dazu eingesetzt, sehr polarisiert zu debattieren“, so die Vorsitzende des deutschen Ethikrats Alena Buyx.1 „Im Kern spricht die Gesellschaft hier darüber, was ihr das Leben bedeutet“2 und verhandelt unter den abstrakten Begriffen „reproduktiver Autonomie“ und „relationaler Autonomie“ das Spannungsfeld von Selbstbestimmung und gegenseitiger Angewiesenheit. Dabei stellt der deutsche Ethikrat fest: „Die Diskurse werden zunehmend rauer.“3 Dies kann demokratiegefährdende Folgen haben, wenn das Vertrauen in diskursive, demokratische Meinungsbildung und Lösungsfindung abhandenkommt. Dabei kann es nicht darum gehen, den Diskurs für alles Sagbare und Unsägliche zu öffnen, sondern einen von Sachlichkeit und Offenheit geprägten Diskurs anzustreben, der allen Teilen einer Gesellschaft zutraut, daran konstruktiv mitzuwirken.

In einer säkularen und religiös pluralen Gesellschaft koexistieren verschiedene moralische Vorstellungen davon, welche Werte gelten sollen und was ein gutes Leben ausmacht. Insofern ist es verständlich und logisch, dass an Fragen der Reproduktionsmedizin, Themen, mit denen eine Gesellschaft schwanger geht, deutlich hervortreten

In Bezug auf Fragen zur Regelung der Reproduktionsmedizin bedeutet „Lebensschutz […] versachlichen statt emotionalisieren“, sich über Lebens- und Familienvorstellungen als persönliche Werte-Artikulationen, nicht als normative Vorgaben auszutauschen und im Sinne einer diskursiv orientierten Ethik, Kompromisse gemeinsam zu erarbeiten. In einer säkularen und religiös pluralen Gesellschaft koexistieren verschiedene moralische Vorstellungen davon, welche Werte gelten sollen und was ein gutes Leben ausmacht.4 Denn Menschen können sich, nach Jürgen Habermas, zwar auf moralische Werte, die für alle, die sie betreffen, gelten, als handlungsbindend einigen, nicht aber auf Vorstellungen vom guten Leben an sich.5 Insofern ist es verständlich und logisch, dass an Fragen der Reproduktionsmedizin, Themen, mit denen eine Gesellschaft schwanger geht, deutlich hervortreten; und insofern verlangen diese Fragen umso mehr eine engagierte Bereitstellung von Austauschmöglichkeiten und Debattenpflege.

Die Konsequenz des Gegenteiligen hat einen Vertrauensverlust in Politik und demokratischen Strukturen zur Folge. Das Erstarken rechter bzw. rechtspopulistischer Parteien und Gruppierungen sowie wachsender EU-Skeptizismus und Nationalisierungen sind Ausdruck dieser Verarbeitung von Aushandlungsprozessen und gesellschaftlichen Veränderungen. Wähler:innen der Partei AfD bei der Europawahl 2024 fühlen sich laut einer infratest-Umfrage im Auftrag der ARD vor allem durch von ihnen so wahrgenommener Verfremdung, Bedrohung ihrer Sicherheit und ihres Lebensstandards verunsichert. Auf dem fünften Platz der höchsten Zustimmungswerte landet die Aussage „Ich mache mir Sorgen, dass man bei Meinungen zu bestimmten Themen ausgegrenzt wird.“6 Hat unsere Gesellschaft verlernt oder vergessen kommunikative Diskurse zu pflegen? Damit spiele ich auf etwas ganz anderes an als dieses trotzige „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, und ebenso distanziere ich mich von Gesellschaftsdiagnosen á la „dauererregt” oder “harmoniesüchtig“. Ich höre in die dieser Äußerung Sorge über das Unverständnis anderer und eine Ungeübtheit darin, miteinander Diskurse zu führen, die auf Sachlichkeit und Wertschätzung aufbauen; eine Ungeübtheit darin Diskurse zu führen, denen Polemik und Hetze fremd sind. Solche Diskurse bilden das Fundament und die Stärke einer freiheitlichen Demokratie. Wo sie vermieden oder schlichtweg nicht gefördert werden, gerät das in Gefahr, was auch AfD-Wählende oder -Sympathisierende schützen zu wollen vorgeben: Freiheit und Selbstbestimmung sowie eine gesellschaftliche Wertediskussion. „Nur dann, wenn alle Gehör finden und sämtliche Argumente ausgetauscht werden können, ist garantiert, dass die Ergebnisse, die die Gesellschaft in ihren Aushandlungsprozessen erzielt, qualitativ gut sind.“7 Denn gerade erst demokratische Strukturen ermöglichen, dass viele Meinungen gehört und gemeinsame Lösungen gefunden werden – wenn Vertrauen in die Meinungsbildung besteht.

Nur dann, wenn alle Gehör finden und sämtliche Argumente ausgetauscht werden können, ist garantiert, dass die Ergebnisse, die die Gesellschaft in ihren Aushandlungsprozessen erzielt, qualitativ gut sind

Meines Erachtens gibt es hier zwei Richtungen des Vertrauens zu beachten: das Vertrauen in demokratische Strukturen und Handlungsmöglichkeiten durch die Einzelnen und das Vertrauen der Gesellschaft in die einzelnen Diskursteilnehmenden und Handlungstragenden. Was also ist Vertrauen?

Vertrauen ist ein komplexes interpersonelles Phänomen, das immer relational orientiert ist. Es verwandelt die unvermeidbare Unkenntnis über den anderen in ein akzeptiertes Risiko. Vertrauen ist eine unverzichtbare Haltung zur Reduzierung der Komplexität von lokalen Handlungen und globalen Auswirkungen in der Gesellschaft. Die Forschung konzentriert sich bisher überwiegend darauf, wie Menschen zum Vertrauen kommen, wie sie anderen vertrauen und warum sie vertrauen bzw. vertrauen müssen.8 Was selten erwähnt wird, ist die Erforschung der Implikationen, wenn jemand Vertrauen empfängt.9 Jemandem zu vertrauen und ihm oder ihr etwas zuzutrauen bedeutet, es für möglich zu halten, dass diese Person eine gestellte Aufgabe erfüllen kann, z.B. die der konstruktiven Diskursteilnahme und Meinungsäußerung. Mit anderen Worten: Es wird angenommen, dass die Person die Qualitäten und Fähigkeiten besitzt, die ihr anvertraute Aufgabe zu bewältigen. Hierbei ist es hilfreich zu beachten, dass (im Deutschen sprachlich klar identifizierbar) das Zutrauen in die Fähigkeiten von Menschen vom Vertrauen in eine Person selbst unterschieden werden kann. Dieses Zutrauen bezieht sich mehr auf Fähigkeiten als auf die Integrität der Person im Allgemeinen (wie es beim Vertrauen der Fall ist). Während Vertrauen mindestens ein Beziehungsangebot, wenn nicht sogar schon eine Realisierung von Beziehung darstellt, stellt Zutrauen eine Bedingung für Autonomie und Selbstaktualisierung dar. In dieser Hinsicht hat das Zutrauen einen starken Impuls auf den Empfänger – es impliziert Ermächtigung, Verantwortungsübernahme und Handlungsfähigkeit. Insofern lässt sich Vertrauens-Empfang am Beispiel des Zutrauens besonders gut thematisieren.

Vertrauen ist ein komplexes interpersonelles Phänomen, das immer relational orientiert ist. Es verwandelt die unvermeidbare Unkenntnis über den anderen in ein akzeptiertes Risiko. … Während Vertrauen … ein Beziehungsangebot … darstellt, stellt Zutrauen eine Bedingung für Autonomie und Selbstaktualisierung dar. In dieser Hinsicht hat das Zutrauen einen starken Impuls auf den Empfänger – es impliziert Ermächtigung, Verantwortungsübernahme und Handlungsfähigkeit

Durch die kritische Untersuchung der Dynamiken des Zutrauens im Bereich der medizinischen Ethik, insbesondere bei medizinischen Entscheidungsprozessen, kann gezeigt werden, wie der Zutrauensempfang das Verhalten, die Werte und die Selbstwahrnehmung von Individuen prägt.10 So wird Einzelpersonen oft die Verantwortung für Entscheidungen über medizinische Behandlungen oder über Leben und Tod, für sich selbst und ihre Angehörigen, anvertraut, beispielsweise bei der Frage nach der Fortsetzung von lebensverlängernden Maßnahmen. Menschen haben das Recht, eine medizinische Behandlung abzulehnen. Dies geht über den bloßen Akt hinaus, medizinischen Fachkräften die eigene Gesundheit anzuvertrauen; es beinhaltet, als Patient:in und Laie in der Lage zu sein, in komplexen ethischen Dilemmata zu navigieren und in kritischen Situationen fundierte Urteile zu fällen, aufgrund der Priorität von Autonomie und informierter Zustimmung im Gesundheitssystem.11 Selbstbestimmung als Menschenrecht und Fähigkeit, formuliert im bioethischen Prinzip des Respekts vor Autonomie, stellt somit eine bestimmte Form des Zutrauens in die Selbstbestimmung und Entscheidungsfähigkeit der Menschen dar.

Meine Schlussfolgerung aus Beobachtungen aus den medizinethischen Diskursen ist, dass Zutrauen die Anerkennung von Fähigkeiten zur Sicherung von Rechten beinhaltet; und somit einen zentralen Bestandteil zum Funktionieren einer Demokratie darstellt. Zutrauen gerät aber auch ins Wanken, zum Beispiel beim Zutrauen zu Personen, die reproduktionsmedizinische Fragen entscheiden müssen. Ich möchte das an einem prominenten Beispiel verdeutlichen: der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch. Hier geht es um Fragen des Lebensschutzes des Ungeborenen und des Schutzes der freiheitlichen Lebensführung von Schwangeren. Ethisch erregt die Gemüter, ab wieviel Zellen man von „Leben“, dem Lebensschutz zusteht, sprechen kann. Gleichzeitig geht es um soziale Fragen, wenn Elternschaft in Deutschland weiterhin das größte Armutsrisiko darstellt. Schwangere wehren sich gegen eine „Hermeneutik des Verdachts“, wenn ihnen unterstellt wird, den Schwangerschaftsabbruch als Verhütungsmethode zu gebrauchen. Denn das, so zumindest können es die wenigen Studien zeigen, die es in diesem Bereich gibt, ist mitnichten so.12 Ein Großteil der in Deutschland vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche geht auf das Versagen von Verhütungsmethoden zurück. Von Schwangerschaftsabbrüchen Betroffene sind durchschnittlich mittleren Alters, die oftmals bereits Verantwortung für ein oder mehrere Kinder tragen. Sie und ihre Sexualpartner haben sich auf die gewählte Verhütungsmethode (Pille, Spirale etc.) verlassen. Der „Hermeneutik des Verdachts“ steht also der legitime Wunsch nach einer Hermeneutik des Zutrauens gegenüber. Zutrauen in die schwangeren Paare und Personen, eine verantwortete Entscheidung in einer Situation zu treffen, in die sie geraten sind, und dabei das Wohl aller Beteiligten (das des ungeborenen und des eigenen Lebens, das der Geschwister und des direkten und weiteren gesellschaftlichen Umfelds) im Blick zu haben.

Meine Schlussfolgerung aus Beobachtungen aus den medizinethischen Diskursen ist, dass Zutrauen die Anerkennung von Fähigkeiten zur Sicherung von Rechten beinhaltet; und somit einen zentralen Bestandteil zum Funktionieren einer Demokratie darstellt

Auf einer Tagung zur gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland 2022 sprach bei der abschließenden Podiumsdiskussion Dr. Christina-Maria Bammel, Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, davon, dass es nötig sei „die Verantwortung der Frau zu verbinden mit einer ethischen Praxis und einer Hermeneutik des Zutrauens.“13 Bisher14 ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach §218 StGB als straffreie Straftat mit Fristenregelung und verpflichtendem Beratungsgespräch geregelt – doch dieser Kompromiss steht zur Debatte. Es gibt verschiedene Aspekte an §218 StGB, die diskutiert werden können. Von Seiten feministischer Kritiker:innen wird neben der Kriminalisierung des Abbruchs u.a. beanstandet, mit der Verpflichtung zum Beratungsgespräch werde Frauen eine folgenreiche Entscheidung nicht zugetraut. Die Rede von der reproduktiven Selbstbestimmung erfordere es jedoch, den Betroffenen eine selbstständige Entscheidung zuzutrauen und insofern Zutrauen in die Selbstbestimmung und Entscheidungsfähigkeit der schwangeren Frauen zu setzen – ohne sie in eine Sozialberatung zu zwingen. Eine evangelisch-ethische Untersuchung zum Schwangerschaftsabbruch weist darauf hin, dass „das uneingeschränkte Zutrauen in die Entscheidungsfähigkeit schwangerer Frauen [..] für eine die Schwangerschaft wertschätzende Haltung unverzichtbar“15 sei – auch wenn das einen Abbruch bedeuten könne. Zutrauen brauche es sowohl in die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen als auch in der Beratungspraxis als einem Zuspruch an die Betroffenen, sich eine Schwangerschaft zuzutrauen. Zutrauen kristallisiert sich hier nicht nur als Schlüsselbegriff heraus, sondern auch als spannungsreich zwischen Zuspruch, Befähigung und Übergriffigkeit bzw. Paternalismus.

Dem in der Medizin etablierten Respekt vor der Autonomie der Patient:innen in diversen Behandlungsentscheidungen folgt ein Zutrauen in deren Fähigkeiten auf dem Fuße, über ihr Leben oder das ihrer Angehörigen entscheiden zu können. Zutrauen ist also mehr als nur das Anerkennen des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung. Vielmehr wird angenommen, die Entscheidungstragenden wisse am besten, was zu ihrem persönlichen Wertekanon und Vorstellung von einem guten Leben passe. Dieses Zutrauen endet dort, wo Grenzen der Urteilsfähigkeit erreicht sind. Im medizinethischen Kontext baut also das Zutrauen in Entscheidungsfähigkeit auf der Vorannahme von psychischer Gesundheit, Mündigkeit und Urteilsfähigkeit auf. Doch niemand würde ernsthaft behaupten wollen, eine Schwangerschaft trübe die Urteilsfähigkeit ein und man könne den Betroffenen eine solch weitreichende Entscheidung nicht zutrauen.16

Vertrauen als Beziehungsangebot und Zutrauen als Bedingung der Möglichkeit, Autonomie und Selbstaktualisierung zu realisieren, scheinen unabdingbar zu sein, um die Kommunikation und ein verstehendes, friedliches Miteinander in allen Umbrüchen der Gesellschaft zu gewährleisten. Insofern bilden beiden Haltungen Bausteine einer Art Meta-Ethik, die gesellschaftlich zu kommunizieren ist

Das spannungsreiche Verhältnis von Zutrauen und Paternalismus sind in vielen Kontexten zu entdecken – so auch in der christlichen Tradition. In einigen Berufungsgeschichten trauen sich die Berufenen ihren Auftrag oder das Bevorstehende nicht zu. Doch es wird berichtet, dass Gott es ihnen zutraut; Gott duldet keine Flucht und Ausrede. Die Geschichte von der Berufung Jonas kann hier als besonders bekanntes Beispiel benannt werden (Buch Jona Kap 1-2). Ist Zutrauen biblisch eher paternalistisch behaftet oder kann erst durch das Zutrauen Gottes der Mensch die geschenkten Gaben entfalten?

Wenn wir aktuell von einer „Vertrauenskrise“ der Demokratie oder wenigstens von einem Vertrauenswandel in der Gesellschaft sprechen, dann gilt es diese Vorgänge genau zu analysieren und zwischen Vertrauen und Zutrauen in Fähigkeiten, zwischen paternalistischen und befähigenden Tendenzen zu differenzieren. Zutrauen und Vertrauen stellen ein Paradigma dar, das vom Gewährenlassen bis hin zur Befähigung und Unterstützung reichen kann. Es scheint mir lohnend, Voraussetzungen und Auswirkungen von Vertrauens- und Zutrauensempfang herausarbeiten, um demokratiegefährdende Entwicklungen am Beispiel materialethischer Debatten zu verstehen. Vertrauen als Beziehungsangebot und Zutrauen als Bedingung der Möglichkeit, Autonomie und Selbstaktualisierung zu realisieren, scheinen unabdingbar zu sein, um die Kommunikation und ein verstehendes, friedliches Miteinander in allen Umbrüchen der Gesellschaft zu gewährleisten. Insofern bilden beiden Haltungen Bausteine einer Art Meta-Ethik, die gesellschaftlich zu kommunizieren ist.

Ein Beispiel für eine Überführung dieser Überlegungen in die Praxis, stellt die Initiative „wokidoki“ dar.17 Das Startup versteht sich als „gemeinnütziges Büro für bessere Kommunikation“ und hat eine Broschüre zur christlichen Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs entwickelt, um den Diskurs in Kirchengemeinden informationsbasiert zu ermöglichen und anzuregen. Wenn nun noch Vorschläge zur kreativen methodischen Umsetzung eines solchen Gemeindeabends folgen, dann ist dies die Form von Diskursförderung, die mir derzeit für viele gesellschaftliche Themen, in denen Wertebildung verhandelt wird, angezeigt scheint.

Gesellschaften, die mit Wertefragen schwanger gehen, wünsche ich umfassende Beratungsangebote, vielerlei Möglichkeiten sich mit den eigenen und den Werten anderer auseinanderzusetzen, Verständigung zu erleben und so Erfahrungen eines meinungsbildenden Diskurses zu machen, die zum Schutz unserer demokratischen Strukturen beitragen und Kompromissbildungen ermöglichen

Eine gute Schwangerschaftskonfliktberatung umfasst die Konfliktklärung, Informationen über staatliche Leistungen und Unterstützungen, Aufklärung über (medizinische) Möglichkeiten und die Erläuterung des rechtlichen Rahmens. Sie soll ergebnisoffen geführt werden und den Beteiligten Raum und Zeit geben, sich ihrer eigenen Werte klar zu werden, konkurrierende Interessen abzuwägen und in einem geschützten Rahmen eine Entscheidung zu treffen. Solch eine umfassende Beratung und Aufklärung hinsichtlich möglicher Entscheidungsalternativen, Raum für Diskurs und Austausch ermöglicht im Endeffekt die Sicherstellung freiheitlich verantworteter Entscheidungen. Gesellschaften, die mit Wertefragen schwanger gehen, wünsche ich umfassende Beratungsangebote, vielerlei Möglichkeiten sich mit den eigenen und den Werten anderer auseinanderzusetzen, Verständigung zu erleben und so Erfahrungen eines meinungsbildenden Diskurses zu machen, die zum Schutz unserer demokratischen Strukturen beitragen und Kompromissbildungen ermöglichen.

  1. Alena Buyx, Deutscher Ethikrat: Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur. Forum Bioethik, 24.04.2024, Transkript, S. 2, abrufbar: https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/fb-2024-04-24-transkript.pdf.
  2. Frauke Rostalski, Deutscher Ethikrat: Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur. Forum Bioethik, 24.04.2024, Transkript, S. 3, abrufbar: https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/fb-2024-04-24-transkript.pdf.
  3. Frauke Rostalski, Deutscher Ethikrat: Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur. Forum Bioethik, 24.04.2024, Transkript, S. 4, abrufbar: https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/fb-2024-04-24-transkript.pdf.
  4. Vgl. Habermas, Jürgen (1991), Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M., 103–108.
  5. Vgl. Habermas, Jürgen (1983), Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M., 113.
  6. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-06-09-EP-DE/charts/umfrage-afd/chart_1519321.shtml, Stand 09.06.24, 16:24 Uhr.
  7. Frauke Rostalski, Deutscher Ethikrat: Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur. Forum Bioethik, 24.04.2024, Transkript, S. 3, abrufbar: https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/fb-2024-04-24-transkript.pdf.
  8. Vgl. Hartmann, Martin (2011) Die Praxis des Vertrauens. Berlin: Suhrkamp.
  9. Vgl. Lagerspetz, Olli (2015) Trust, Ethics and Human Reason. London: Bloomsbury Academic.
  10. Vgl. Hertzberg, Lars (2010), On being trusted, in: Arne Grøn, Claudia Welz (ed.), Trust, Society, Selfhood. Tübingen: Mohr Siebeck, 193-204.
  11. Vgl. Steinfath, Holmer, Wiesemann, Claudia (2016). Autonomie und Vertrauen. Schlüsselbegriffe der modernen Medizin. Wiesbaden: Springer.
  12. Vgl. für das Folgende: Prütz, Franziska, Hintzpeter, Birte, Krause, Laura (2022), Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland – Aktuelle Daten aus der Schwangerschaftsabbruchstatistik, Journal of Health Monitoring 7(2), 42-51, DOI 10.25646/9955, online: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JHealthMonit_2022_02_Schwangerschaftsabbrueche.pdf?__blob=publicationFile (letzter Zugriff: 27.06.24).
  13. EPD-Dokumentation 36/2022, 49f. Vgl. für das Folgende auch: Chilian, Lea (2023), «Donnerwetter, hätten Sie ihr das zugetraut?», in: feinschwarz. Theologisches Feuilleton: https://www.feinschwarz.net/donnerwetter/
  14. Zur Geschichte des §218 vgl. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/290795/kurze-geschichte-des-paragrafen-218-strafgesetzbuch/.
  15. Kohler-Weiß, Christiane (2003), Schutz der Menschwerdung. Schwangerschaft und Schwangerschaftskonflikt als Themen evangelischer Ethik (Öffentliche Theologie 17), Gütersloh, 371.
  16. Stattdessen wird Schwangeren in einer weiter fortgeschrittenen Schwangerschaft, bei der eine genetische Anomalie des Ungeborenen diagnostiziert wird, die Entscheidung zum Abbruch ohne externes Sozialberatungsgespräch zugetraut.
  17. Vgl. https://wokidoki.de/ (letzter Zugriff: 27.06.2024).

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