12018
Statements
Den Mond nicht aus den Augen verlieren
Lassen Sie mich einleiten mit einer Relativierung: Manche von Ihnen kennen vielleicht die „Hägar“-Cartoons. Sven Glückspilz erzählt Hägar, dem Wikinger-Häuptling, das Geheimnis vollkommener Glückseligkeit. „Iss sechsmal täglich Sauerkraut“. Hägar ist noch etwas ungläubig. „Wer hat dir DAS erzählt?“ Sven: „Ein Kohlbauer.“
Entsprechend bitte ich Sie alles was ich schreibe zu sehen. Ich bin der Kohlbauer, der eben das, was er selbst halbwegs kann und versteht, als Lösung für alles beschreibt, und ich vertraue darauf, dass in der Kombination der Einsichten verschiedener „Kohlbauern“ hilfreiche Ansätze entstehen.
Die zweite Relativierung: Ich bin grundsätzlich religiös sozialisiert und habe sogar einige Semester Theologie studiert. Und doch habe ich mich nie als „in der Mitte“ der Kirche empfunden. Vieles, was für andere Selbstverständlich scheint, muss ich „von außen“ betrachten, als wäre ich ein Ethnologe und würde einen anderen Kult untersuchen, mit Staunen und Wundern.
Und damit zu meinen Empfehlungen:
- Arbeit am Growth Mindset: We can do (even) better
- Stufen der Persönlichkeits-Entwicklung ernst nehmen
- systematisch am Wachstum arbeiten
- Wachsam sein gegenüber den eigenen Immunisierungen durch die Theologie
- Die Radikalität der Botschaft Jesu neu sehen
- Orientierung an dem, was die Menschen brauchen
- Den Mond sehen, nicht den Finger
1. Arbeit am Growth Mindset: We can do (even) better
Carol Dweck hat uns in ihrem Buch „Mindset“ mit einer wunderbaren Unterscheidung zur Verfügung gestellt: Haben wir ein „fixed mindset“ oder ein „growth mindset“.
Das „fixed mindset“ zeichnet sich dadurch aus, dass man glaubt, dass Erfolg von Talent kommt – man ist eben ein Genie. Und wenn man so gut ist, braucht man nicht zu trainieren, keine Energie in Lernen zu investieren. Und wenn man einen Misserfolg erlebt, dann sind entweder die anderen schuld oder es ist ein Beweis, dass man doch nicht gut ist – und man lässt es sein.
Das Wachstums-Mindset zeichnet sich dadurch aus, dass man grundsätzlich der Meinung aus, dass man fast alles lernen und erreichen kann. Ray Dalio sagt: Du kannst jedes, aber nicht alles erreichen. Er meint: Man kann eine Sache erreichen, wenn man sich mit Hingabe dieser einen Sache widmet, aber das ist eben auch eine Entscheidung gegen viele andere Dinge. Menschen mit dem Growth-Mindset sind durchaus interessiert an ihren Talenten, wissen aber, dass es Training braucht, um sie zu richtigen Stärken zu entwickeln. Niederlagen sind nie endgültig, wenn wir bereit sind, daraus zu lernen.
Der Papst mahnt zurecht, dass „wir haben es immer schon so gemacht“ kein Argument sein darf. Das gegenseitige, systematische, klare und dabei respektvolle Rückmelden von Problemen und Lernfeldern gehört dazu.
2. Stufen der Persönlichkeits-Entwicklung ernst nehmen
Seit etwa etwa hundert Jahren beschäftigen sich ForscherInnen mit der Frage, wie Persönlichkeiten „reifen“. Piaget ist wohl der bekannteste Vertreter dieser Gruppe. Während er sich stark auf die Entwicklung von Kindern konzentriert hat, haben andere wie z.B. Lawrence Kohlberg und Robert Kegan sich mit der Frage beschäftigt: Wie entwickeln sich Erwachsene weiter?
Der Papst mahnt zurecht, dass „wir haben es immer schon so gemacht“ kein Argument sein darf.
Die eine (noch leichtere) Herausforderung ist, sich sprachlich und kognitiv auf andere und ihre Stufe einzustellen. Viele werden sagen: Das tu ich ohnehin, auch intuitiv, ohne dass ich diese Persönlichkeits-Stufen-Modelle kenne. Und das stimmt immer dann, wenn Sie selbst eine gewisse Stufe erreicht haben, die diese Fähigkeit beinhaltet. Immer dann aber, wenn wir auf Menschen treffen, die „über“ unserer Stufe denken und fühlen und zu uns kommen um Rat oder Beistand, wird es problematisch. Unweigerlich interpretieren wir ihre Aussagen falsch und unser Rat ist im besten Fall nicht hilfreich.
Besonders trifft das zu auf den Bereich der Spiritualität. James Fowler hat sich intensiv mit der Schnittstelle zwischen Entwicklungspsychologie und Spiritualität befasst. Seine „Stufen des Glaubens“ beschreiben, wie sich das Gottesbild und das Gotteserleben stufenweise weiter entwickelt. Wie kann es sein, dass praktisch keinE SeelsorgerIn diese Stufenmodelle kennt und in die Arbeit integriert?
Und gleichzeitig ist mir gut bewusst, dass diese Stufenmodelle immer die Gefahr der Schubladisierung haben. Das Rezept dagegen: Intensive Anwendung der Modelle zuerst auf sich selbst: Wo stehe ich, was ich mein nächster Lernschritt?
3. Systematisch am Wachstum arbeiten
Gemeint ist nicht das Wachstum in Zahlen, sondern das Wachstum nach „innen“: Wachsen wir als Menschen, arbeiten wir an unserem Schatten, integrieren wir Feedback und Einsichten aus Misserfolgen? Versuchen wir den Dialog mit Gott zu vertiefen? Und: Wachsen wir als Gemeinschaft jenseits der frommen Worte: Ernstnehmen von Unterschieden, Ansprechen von Problemen, Ringen um gute Lösungen, die für viele/alle passen.
Ich sage manchmal im Scherz, dass ich Zynismus für eine Todsünde halte. Damit meine ich, dass Zynismus oft bedeutet, dass man abgeschlossen hat, es aufgegeben hat etwas wirklich verändern zu wollen. Es ist eben so. Als Coach weiß ich, dass das ein notwendiger Schutz eines Systems sein kann, um nicht in der Spannung zwischen dem IST und dem eigenen Anspruch aufgerieben zu werden. Als Berater kann ich nur empfehlen: Hineinhören und nachfragen: Was ist das Bedürfnis hinter dem Zynismus? Und: Zutrauen, dass ich und andere sich weiter entwickeln können.
4. Wachsam sein gegenüber den eigenen Immunisierungen durch die Theologie
Anthony de Mello berichtet uns von einem „Meisterschützen“. Überall im Dorf waren auf verschiedenen Stellen Zielscheiben aufgemalt und der Meisterschütze hatte jeweils mitten ins Schwarze getroffen. Ein Besucher hat ihn dann ehrfürchtig gefragt, wo er seine Kunst gelernt hätte. Dieser antwortete lachend. „Aber das ist doch ganz leicht: Zuerst schießen Sie und dann malen Sie die Zielscheibe auf!“
In der Psychologie sind kognitive Verzerrungen als „Bias“ bekannt. Ein besonders starker ist, dass wir zuerst zu Meinungen kommen und dann unseren Verstand dazu benutzen, diese Meinung rechtzufertigen. Mit einem gewissen Außenblick komme ich nicht umhin, das oft auch in der Kirche wahrzunehmen. Das wäre soweit ja auch nicht problematisch, wenn man sich dieser inneren Dynamik bewusst wäre und die eigenen Positionen entsprechend relativieren würde (siehe meine Kohlbauer oben). Doch oft ist das Gegenteil der Fall: Mit dem Gewicht von theologischen Argumenten wird der eigene „Vogel“ zur Heiligen-Geist-Taube erklärt.
Das ist in einer vormodernen und modernen Zeit noch nicht aufgefallen. Spätestens seitdem sich die Postmoderne lautlos in unsere Denken und Sprechen schleicht, wirken solche apodiktischen nicht-dialogischen Aussagen überheblich und menschen-fremd.
5. Die Radikalität der Botschaft Jesu neu sehen
Ich durfte immer wieder Diskussion moderieren, in denen es (verkürzt) um die Frage ging, wie intensiv sich die Kirche mit jenen Menschen beschäftigen sollte, die
- der Kirche sehr nahe sind, regelmäßig den Gottesdienst besuchen etc.
- eher fern stehen, aber „noch“ Kirchenbeitrag bezahlen
- ausgetreten sind.
Die Diskussionen verlief ähnlich wie bei einem Mitgliederverein. Wir müssen schon auf die Gruppe A schauen, denn die „brechen uns sonst weg“. Die Gruppe B müssen wir servicieren, denn sonst haben die den Eindruck, sie bekommen nichts für ihr Geld. Und die Gruppe C: Ja die wäre auch irgendwie wichtig. Vielleicht tritt ja wieder jemand ein. Aber wir müssen natürlich zuerst auf die „unseren“ schauen.
Noch in keiner der Diskussionen hat jemand die Parallele zu Jesu Botschaft und Handeln gesehen. Auch damals gab es die „eigenen“ und die anderen: Die Samariter, die Zöllner, die Prostituierten, …
Als Organisationsberater sehe ich schon: Es ist das eine eine derartig radikale Botschaft zu predigen und auch als Individuum zu leben – gesinnungsethisch. Doch kann man mit solchen Grundsätzen eine Organisation aufbauen und führen, die Geld und Immobilien verwaltet, die Personal anstellt und professionell die eigene Marke pflegen muss? Mir ist bewusst, dass es hier viel mehr Pragmatik und Kompromisse braucht. Aber sollte uns nicht jeder dieser Kompromisse weh tun, ringend mit dem radikalen Anspruch Jesu?
6. Orientierung an dem, was die Menschen brauchen
Eine Zeitlang haben wir uns eingeredet, dass die vielen Menschen, die sich von der Kirche abgewendet haben, tief drinnen eine starke Sehnsucht nach Gott haben. Wenn man die Menschen selbst befragt, würde mittlerweile sehr viele widersprechen.
Wir werden wohl lernen müssen, die Bedürfnisse ernst zu nehmen, die die Menschen selbst formulieren ohne unsere Denkschemata darüber zu legen. Das schränkt unser Wahrnehmungsvermögen ein und es blockiert den Kontakt zu den Menschen.
Meine Einschätzung: Ganz oben auf der Liste ist die Einsamkeit gefolgt davon, niemand zu haben, der mir einfach zuhört und mich mit meinen Sorgen ernst nimmt – noch ohne Coaching und Lösungsvorschlag. Dann sehr bald: Teil einer Gemeinschaft zu sein, die mich so nimmt wie ich bin, für die ich mich nicht verstellen oder verbiegen muss. Und nicht zu vergessen, bei allem Wohlstand den wir in Mitteleuropa haben: Die Sorge, dass das was ich mache, nie genug ist. Hier gibt es wirklich eine Sehnsucht, nämlich die nach einer inneren Instanz die sagt: Du musst nichts leisten, um etwas wert zu sein. Du bist geliebt.Wir werden wohl lernen müssen, die Bedürfnisse ernst zu nehmen, die die Menschen selbst formulieren ohne unsere Denkschemata darüber zu legen.
7. Den Mond sehen, nicht den Finger
Aus dem Zen-Buddhismus gibt es den Hinweis, dass wenn jemand für uns auf den Mond zeigt, wir auch auf den Mond schauen sollten, und nicht auf den Finger. Der Finger selbst ist austauschbar und nicht so wichtig.
Wie gesagt, um Organisationen zu führen und zu organisieren, braucht es viele „Finger“, viele Mittel und Wege, Taktiken und Strategien. Aufgabe von Führung muss es sein, nicht nur auf Effizienz etc. zu achten, sondern dass wir darob den Mond nicht aus den Augen verlieren.