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Foto: Jay Ruzesky/unsplash

Statements

Hilmar Gattwinkel

Beharren, Bewahren und Bewegen – über Zustände der Evangelischen Kirchen in Deutschland

Die Evangelischen Kirchen in Deutschland tragen das andauernde Veränderungsgen in sich. Die Forderung von “kontinuierlichen Veränderungsprozessen” (KPV) ist bereits viele Jahrhunderte früher als “semper reformanda” bezeichnet: Eine Herausforderung an die Evangelische Kirche, sich fortwährend weiterzuentwickeln und zu reformieren.

Evangelische Kirche hätte also biblisch-theologisch und kirchengeschichtlich das Potential, eine lernende Organisation zu sein. Diese Impulse wirken auf die gegenwärtige Evangelische Kirche in der Logik der Organisation nur sehr reduziert ein. Statt dessen scheint das etwas unentschiedene Beharren die vorrangige Handlungsoption zu sein.

Das etwas unentschiedene Beharren scheint die vorrangige Handlungsoption zu sein.

Zu dieser Handlungsoption fügen sich sechs persönliche Beobachtungen, die auch miteinander verschränkt wirksam werden.
  1. Alle Organisationen tragen – systemisch nachvollziehbar – eher die Bewahrung als die Bewegung in sich. Das ist aus der binnenperspektive energetisch sinnvoll: Nur bei unvermeidbaren Irritationen durch die Umwelt setzen sich Organisationen möglicherweise in Bewegung. Eine Form dieser Irritation von Organisation bilden impulsive Leitungspersonen, die steuern und bewegen wollen. Anschlussfähige Visionen, starke Energie und persönliche Glaubwürdigkeit wirken dann temporär auf die Organisation ein, so lange die Leitungsperson leitet. Scheidet sie aus, kommt es häufig zu einem erleichterten Roll-Back in der Organisation.
  2. Erste organisationale Bewegungen als Reaktionen auf Irritationen folgen häufig dem Muster “mehr vom selben”, wenn die Ressourcen es hergeben. Organisationen sperren sich gegen einen Wechsel der grundlegenden Paradigmen so lange es ihnen irgendwie möglich scheint. Das organisationale Verharren im Vertrauten, wie bedrückend und trostlos es sein mag, scheint weniger gefährlich als der Aufbruch in unvertrautes Neues.
  3. Im Zusammenspiel von Struktur und Person (im Sinn von System und Umwelt) haben sich innerhalb der Geschichte der Evangelischen Kirchen die Strukturen als außerordentlich mächtig erwiesen. Strukturen gehen – systemisch plausibel – den amtstragenden Personen voraus. Kommt es zu (internen oder externen) Konflikten, liegt ein erster Lösungsversuch fast immer auf der Ebene der Personen. Wenn diese sich nur angemessen verhalten würden (also etwas anders machen, mehr von etwas machen, weniger von etwas machen), dann wäre der Konflikt behoben. Damit wird ein Traditionselement aus der Evangelischen Bewegungs-Logik, dass es nämlich auf den/die Einzelne ankommt, in die Logik der Organisation transformiert.
  4. In den Kirchenleitungen der Evangelischen Kirchen sind gleichermaßen Theologie und Rechtswissenschaft vertreten, letztere auch in Gestalt der Kirchenrechts. Beide Wissenschaften tragen gemeinsam zur Steuerung der Organisation bei. Die Theologie als Bezugsgröße kirchlicher Organisationen ist unmittelbar einleuchtend, die Rechtswissenschaft weniger: Wovor glaubt sich die Kirche zu schützen, wenn sie der Rechtswissenschaft einen solchen Raum gibt? In der Steuerung wirken sich zwei Charakteristika der Rechtswissenschaft mittelbar aus: Sie neigt in Theorie und Praxis ganz überwiegend dem eindeutig Geregelten und dem Bewahrenden zu. Integriert in eine entsprechend geprägte Verwaltung löst diese Zuneigung ein selten formuliertes, aber häufig betriebenes Vermeiden von Reformationen aus. Dazu kommt, dass die Rechtswissenschaft in ihrer Praxis abweichendes Verhalten oder Fehler in der Regel mit Sanktionen belegt. Die angestrebte Vermeidung solcher Sanktionen, besser noch die Vermeidung solcher Abweichungen und Fehler, und die Sorge vor vermeindlich rechtsfreien Räumen und Taten wirken deshalb stark auf die Steuerung der Organisation Kirche ein.
  5. Wovor glaubt sich die Kirche zu schützen, wenn sie der Rechtswissenschaft einen solchen Raum gibt?

    Wenn als Kennzeichen eines soziologisch bestimmten Organisationsbegriffes die binäre Codierung drinnen<>draußen, die funktionale Binnengliederung und zweckrationale Steuerung auf Ziele hin gelten, dann bildet die Kirche in organisationaler Logik einen Sonderfall: Die Arbeit mit regelgerecht formulierten Zielen ist in der Evangelischen Kirche eher die Ausnahme als die Regel. Das mag zum einen daran liegen, dass dieses Modell trotz seiner Verbreitung binnenkirchlich weithin unbekannt ist, zum anderen daran, dass es – in der regelgerechten Anwendung – zu Entscheidungen bezüglich der Adressaten und deren angestrebten Zuständen führt und diese Entscheidungen notwendig Prioritäten und Posteriotäten verdeutlichen.
  6. Evangelische Kirchen haben in ihren Leitungen immer die Mischung von Hauptamtlichen (aus Theologie und Rechtswissenschaft) und freiwillig Engagierten (aus unterschiedlichen Professionen). Kirchenvorstände, Synoden, Kirchenleitungen machen absichtsvoll das Element der gewählten gemeinsamen Leitung stark. Dieses Modell setzt bei allen Beteiligten grundlegende biblisch-theologische Kompetenzen voraus, damit die Wege der Entscheidungsfindung und die getroffenen Entscheidungen nicht nur vor dem Weltwissen, sondern auch vor dem Glauben ausweisbar sind. Fragmentierte religiöse Bildung, Traditionsabbrüche und Reflexionsschwächen unter den Beteiligten führen zuweilen dazu, dass der spezifisch kirchliche Grund und Rahmen der organisationalen Steuerung verblasst.

Diese sechs Beobachtungen des etwas unentschiedenen Beharrens der Evangelischen Kirchen in Deutschland müssten noch genauer entfaltet und überprüft werden. Sie würden – wenn sie Plausibilität gewinnen – jeweils unterschiedliche Interventionen nahelegen. Ob aber die Irritationen, die aktuell auf die Evangelische Kirche einwirken, diese als Organisation darin bestärkt, ihr reformatorisches Gen in eine lernende Organisation zu transformierten, bleibt eine noch nicht beantwortete Frage.

Ob die Irritationen die Evangelische Kirche darin bestärkt ihr reformatorisches Gen in eine lernende Organisation zu transformierten, bleibt eine noch nicht beantwortete Frage.

Drei Nachbemerkungen:
  • Die vorstehende Skizze nimmt die gegenwärtige Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und ihre Gliedkirchen in den Blick – andere Konfessionen und andere Länder bleiben unberücksichtigt.
  • Die vorstehende Skizze bildet die notwendig eingeschränkte Perspektive eines hochverbundenen und hochengagierten Ehrenamtlichen ab, der allerdings Theologie studiert hat, und ist in der Darstellung verkürzt und verknappt.
  • Die vorstehende Skizze stammt aus einer langjährigen Erfahrung der professionellen Bildungs- und Beratungsarbeit mit Haupt- und Ehrenamtlichen innerhalb unterschiedlicher Landeskirchen in der EKD, verzichtet aber auf Belege für die aufgestellten Thesen.

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