Buchrezension: Valentin Dessoy/ Gundo Lames/ Martin Lätzel/ Christian Hennecke (Hrsg.): Kirchenentwicklung. Ansätze – Konzepte – Praxis – Perspektiven
Valentin Dessoy, Gundo Lames, Martin Lätzel, Christian Hennecke (Hrsg.): Kirchenentwicklung. Ansätze – Konzepte – Praxis – Perspektiven, Gesellschaft und Kirche – Wandel gestalten, Bd. 4, Trier: Paulinus Verlag 2015, Broschur, 683 S., 39,90 EUR, ISBN: 978-3790218251
Der vierte Band mit dem Titel „Kirchenentwicklung. Ansätze – Konzepte – Praxis – Perspektiven“ führt die 2010 begonnene Reihe „Gesellschaft und Kirche – Wandel gestalten“ kongenial weiter. Nicht weniger als „die Bandbreite von Kirchenentwicklung mit innovativen Konzepten, mit professionellen Methoden und mit Beispielen aus der Praxis darstellen!“, will der Band, wie im Vorwort der Herausgeber als ambitioniertes Ziel vermerkt ist (13). Nicht verwunderlich ist es daher, dass der Band mit einem stattlichen Umfang von nahezu 700 Seiten daherkommt. Schon der Satzspiegel, der dem Leser kaum einen Schreibrand für eigene Notizen belässt, deutet darauf hin, dass man hier alles daran gesetzt hat, dem vorgestellten inhaltlichen Anspruch gerecht zu werden, ohne den Band noch umfangreicher werden zu lassen.
Die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Perspektiven, aus denen das Thema Kirchenentwicklung in diesem Handbuch reflektiert und diskutiert wird, ist ebenso beeindruckend wie anregend. Unterschiedliche Zugangsweisen – theologische, soziologische, organisationspsychologische etc. – sind schon deshalb notwendig, weil Kirchen hochkomplexe Systeme darstellen. Als religiöse Vergemeinschaftungsformen sind sie „gesellschaftlich-normative Institution, administrativ-unternehmerische Organisation und spirituell-soziale Bewegung“ (655) zugleich. Allen Texten dieses Handbuches gemeinsam ist ein doppeltes Anliegen: Zum einen wird die Dringlichkeit, ja, Unausweichlichkeit mutiger und weit reichender Reformbemühungen in den Kirchen angesichts einer sich rasant wandelnden Welt herausgestellt, zum anderen werden – aus den jeweiligen verschiedenen Sichtweisen heraus – wegweisende Überlegungen für eine zukunftsfähige Kirche vorgestellt, die zum Aufbrechen (13; 665) ermutigen.
Im ersten Kapitel lässt der Band den Leser an Erfahrungen und Einsichten zur Kirchenentwicklung in verschiedenen Ländern Afrikas, Asiens, Latein- und Nordamerikas und Europas kapitelhaben. Deutlich wird hier, wie kontextabhängig kirchliches Leben stets bleibt und wie entscheidend es ist, sich als Kirchen auf das Wesentliche zu besinnen (65ff). Für den deutschsprachigen Kontext dürften die beiden europäischen Beiträge zur Kirchenentwicklung in England (81ff) und Frankreich (93ff) besonders erhellend sein, da in diesen beiden Ländern die Entkirchlichung der Gesellschaft um einiges weiter fortgeschrittener ist als im Mutterland der Reformation: Glaube kann nicht mehr kirchlich verordnet, sondern lediglich von Christen angeboten bzw. vorgeschlagen werden („proposer la foi dans la société actuelle“, 95).
Im zweiten Kapitel wird die Situation der beiden Großkirchen in Deutschland in den Blick genommen. Dass die Darstellung des „Mainstreams“ (100) im Bereich der Evangelischen Kirche (117ff) umfangreicher und differenzierter ausfällt als im Bereich der Römisch-katholischen Kirche (101ff), liegt in der dortigen größeren Bandbreite der Denkansätze und Leitmotive begründet. Aus der Sicht eines freikirchlichen Rezensenten sei als Desiderat angemerkt, dass hier oder an anderer Stelle des Bandes auch Perspektiven aus weiteren ACK-Kirchen hätten Erwähnung finden können, die ja vor vergleichbaren Herausforderungen stehen.
Im dritten Kapitel geht es in zehn Textbeiträgen um verschiedene Methoden der Kirchenentwicklung und deren Hintergründe (z. B. strategisches Management, Prozess-, Innovations- und Qualitätsmanagement, Personalentwicklung etc.). Jeder dieser recht unterschiedlichen Beiträge lohnt die Lektüre; am weitreichendsten in die Gesellschaft hinein spricht der Artikel über Kirchenentwicklung als Gemeinwesenarbeit/StadtKapitelmanagement (241ff). Die Tendenz mancher Texte, eine ökonomisch geprägte Semantik und Logik auf die creatura verbi „Kirche“ anzuwenden, wird an einzelnen Stellen gesehen (170, 207 u.ö.).
Im vierten Kapitel werden neun verschiedene inhaltlich-programmatische Ansätze der Kirchenentwicklung vorgestellt, zumeist in Form von reflektierten Werkstattberichten aus der Praxis. Hier finden sich erhellende Beiträge zur lokalen Kirchenentwicklung (303ff), zur Kirche im Sozialraum (321ff), zur Kirche im Milieu (333ff) und zu anderem mehr.
Kapitel fünf führt diesen Ansatz weiter unter der Überschrift „Programm und Methode“; in den sechs Beiträgen, in denen unterschiedliche Zielperspektiven und Bilder von Kirche deutlich werden, lautet der gemeinsame Nenner: „Kirche im Werden – Auf die Haltung kommt es an“ (445ff).
Kapitel sechs wendet sich noch dezidierter konkreten Sozialgestalten von Kirche unter postmodernen Gegebenheiten zu (Kirche als Netzwerk multipler kirchlicher Orte, Fresh Expressions of church etc.). Es geht um vielgestaltige Kirchenentwicklung in der Praxis. Viele der neun dargestellten Ansätze und Projekte haben experimentellen Charakter und werden im Sinne von work in progress skizziert – mit offenem Ausgang. Gerade dies wirkt auf den Leser ansprechend und inspirierend.
Im siebten Kapitel werden aus religionssoziologischer, theologischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive konvergente „Anforderungen an eine fachlich fundierte Kirchenentwicklung“ (560ff) formuliert und schließlich in einem Resümee „Perspektiven nachhaltiger Kirchenentwicklung“ gleichermaßen herausfordernd wie ermutigend gebündelt (654ff). Die Kirche hat Zukunft, weil sie Gottes Kirche ist und weil sie sich verändern kann. Wer Kirchenentwicklung nach vorn bringen möchte, muss sich immer wieder neu einer Kontextanalyse stellen, sich nicht weniger als neu und wesentlich von der Botschaft des Evangeliums infrage stellen lassen, um aus beidem die hoffentlich richtigen Schlüsse für eine mittel- und längerfristige Zukunftsstrategie ziehen zu können. Dabei müssen die gegebenen personellen, finanziellen und organisatorischen Gegebenheiten in der Kirche ernst genommen – und doch zugleich durch eine veränderte Herangehensweise visionär aufgebrochen und verändert werden (21; 655). Wie dies – in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexten – gedacht, begründet, umgesetzt und evaluiert werden kann, dafür bietet der vorliegende Band vielfältige wertvolle Anregungen, für die den Beiträgern und Herausgebern nachdrücklich zu danken ist.
Ein Abkürzungs- (668ff) und ein Autorenverzeichnis (674ff) runden diesen gehaltvollen Band ab; lediglich ein Sachregister bleibt zu vermissen, das dem Leser in einem so umfänglichen Werk das Auffinden von thematischen Fundstellen erleichtert hätte.