022016

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Statements

Benedikt Jürgens

Vielfalt zulassen und wertschätzen

Voraussetzungen für eine inklusive Gesellschaft

In der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft ist Inklusion in erster Linie eine Leistung der Organisationen. Am gesellschaftlichen Leben nimmt teil, wer eine konkrete Rolle in einer bestimmten Organisation wahrnimmt – unabhängig davon, ob er oder sie eine Leistungsrolle als Rechtsanwältin, Ingenieur oder Journalistin oder eine Publikumsrolle als Wählerin, Kundin oder Fußballfan wahrnimmt. Die gesellschaftlichen Rollen beziehen sich auf Organisationen, deren Mitglied man ist oder deren Leistungen man in Anspruch nimmt. Und über diese Rollen nimmt man in stärkerer oder schwächerer Ausprägung an der Kommunikation der Gesellschaft teil.

Diese Rollen beanspruchen jedoch nur einen bestimmten Teil der Persönlichkeit. Von einer Managerin wird nicht erwartet, dass sie musikalisch ist; der Arzt muss sich nicht für moderne Kunst interessieren; und um Professorin sein zu können, muss man nicht sportlich sein (außer möglicherweise im Bereich der Sportwissenschaften). Die nicht rollen-relevanten Fähigkeiten und Interessen sind der Organisation gleich-gültig. Zugleich ist es möglich, mehrere Rollen auszuüben: Die Richterin kann gleichzeitig Vorsitzende eines Vereins, Parteimitglied und Ehefrau sein. Auf diese Weise können Individuen über verschiedene Rollen in mehrere gesellschaftliche Teilsysteme gleichzeitig inkludiert sein.

Aus religiöser Perspektive ist Inklusion in die moderne, differenzierte Gesellschaft mit ihren Teilsystemen deshalb dann wahrscheinlich, wenn eine große Bandbreite religiöser Deutungsmöglichkeiten akzeptiert und eine differenzierte Kommunikationskultur gepflegt wird.

Das ist in der Religion anders. Religionen sehen im Menschen nicht den Rollenträger, sondern die Persönlichkeit. Sie sprechen die Instanzen im Menschen an, die die verschiedenen Rollen integrieren und ausrichten. Für religiöse Menschen sind die verschiedenen Rollen nicht gleich-gültig; vielmehr sind nur die Rollen kompatibel, die sich mit dem jeweiligen religiösen Konzept und seiner persönlichen Interpretation verbinden lassen.

Aus religiöser Perspektive ist Inklusion in die moderne, differenzierte Gesellschaft mit ihren Teilsystemen deshalb dann wahrscheinlich, wenn eine große Bandbreite religiöser Deutungsmöglichkeiten akzeptiert und eine differenzierte Kommunikationskultur gepflegt wird. Religionen sind anpassungs- und gestaltungsfähig, wenn sie innere Vielfalt nicht nur akzeptieren, sondern vielmehr pflegen und wenn die sich daraus ergebenden Differenzen zwischen den Angehörigen einer Religion nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung wahrgenommen wird. Die Wahrnehmung religiöser Vielfalt ermöglicht es dem Einzelnen, sein eigenes religiöses Profil zu entwickeln und es im Gespräch mit anderen zu artikulieren. Wer von seinem eigenen Glauben sprechen kann, kann dem Glauben der anderen mit Wertschätzung begegnen. Religionen, die Individualität und Kommunikationsfähigkeit ermöglichen, sichern sowohl die Anschlussfähigkeit an die eigenen religiösen Traditionen als auch an die umgebenden gesellschaftlichen Teilsysteme.

Religion wird hingegen zum Treiber von Exklusion, wenn interne Vielfalt und Differenzen zur gesellschaftlichen Umwelt verunsichernd und bedrohlich für die eigene Identität wahrgenommen werden. Verunsicherungen durch interne Differenzen können dann zu Konformität, autoritären Strukturen, Ausschlüssen und Abspaltungen führen, Bedrohungsgefühle durch Differenzen zur gesellschaftlichen Umwelt zu Abgrenzung, zur Verringerung der Außenkontakte und damit zu einem Rückzug in eine Sonderwelt. Glaube wird dann daran gemessen, ob vorgegebene Wahrheiten übernommen und Gehorsam geübt wird. Dadurch wird eine vermeintlich eindeutige und starke, in Wirklichkeit aber einseitige und schwache Identität ausgebildet, die ein Aggressionspotenzial sowohl nach innen als auch nach außen entwickeln kann. Auf der Seite der Religionen führen Unterdrückung und Verdrängung von Vielfalt und Differenzen zu interner Uniformität und gesellschaftlicher Exklusion.

Gelingt es der Gesellschaft nicht, Zugänge zur Bildung unabhängig von sozio-kultureller Herkunft zu ermöglichen, besteht die Gefahr, dass sich ganze Milieus abkoppeln und eigene Subsysteme bilden.

Aber auch die Gesellschaft kann für Exklusion verantwortlich sein, wenn es ihr nicht gelingt, die Zugänge zu den gesellschaftlich relevanten Rollen für alle offen zu halten. Gerade die Übernahme der Leistungsrollen ist enorm voraussetzungsreich und vor allem von einem hohen Bildungsniveau abhängig. Gelingt es der Gesellschaft nicht, Zugänge zur Bildung unabhängig von sozio-kultureller Herkunft zu ermöglichen, besteht die Gefahr, dass sich ganze Milieus abkoppeln und eigene Subsysteme bilden. Es ist jedenfalls nicht ausgemacht, ob archaische Familienstrukturen aus Anatolien die Ursache für die Isolation ganzer Stadtviertel sind oder ob die vermeintlich archaischen familiären Strukturen die nicht ausreichende gesellschaftliche Integrationskraft kompensieren und dadurch durchaus funktional werden – was in der dritten Generation dann verstärkt religiös gedeutet wird.

Deshalb darf Chancengerechtigkeit nicht nur ein Begriff in Sonntagsreden, sondern muss in der Breite der Gesellschaft erfahrbar sein. Dass Bildung und Qualifizierung nötig sind, um Leistungsrollen übernehmen zu können, ist ja nachvollziehbar. Aber auch in der vermeintlich rationalen modernen Gesellschaft können Persönlichkeitseigenschaften wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, ethnische und religiöse Herkunft, aber auch Kleidungsstücke wie das Kopftuch trotz vorhandener Qualifizierung immer noch auf mehr oder weniger subtile Weise exkludierend wirken. Eine inklusive Gesellschaft ist nur zusammen mit der persönlichen Vielfalt der Kompetenzträger möglich: Sie hat homosexuelle Außenminister, schwarze Fußballnationalspieler und Lehrerinnen mit Kopftüchern.

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