022015

Foto: Kevin Hackert: Grasbrookpark (CC BY-NC 2.0), Bildausschnitt

Praxis

Clemens Frenzel-Göth

KiTa – Leitstelle für soziale Prozesse und Kirchort auf Zeit

1. Man(n) stelle sich vor

Die Kirchengemeinde Maria Königin ist Trägerin einer katholischen Kindertageseinrichtung und sie ist voll belegt. Die Kinder fühlen sich wohl, die Eltern kommen gern und fühlen sich aufgehoben, sie haben sich selbst organisiert mit einem Elterncafe. Der pensionierte Förster lädt jeden ersten Samstag im Monat alle Familien zur Exkursion in den nahe gelegen Wald ein. Jeden Tag kommen zwischen fünf und zehn Eltern in die Kita, um mit ihren und anderen Kindern zu essen. Ach übrigens, zweimal pro Woche kommt auch der Seelsorger der Pfarrgemeinde dazu. Montags kommt die Konzertpianistin aus Lärchenwald in die Kita, um zu singen und den Kindern über den Gesang die Welt der Musik zu erschließen. Es bestehen Kooperationen mit dem Hospizverein, der auch schon mehrfach anlässlich des Todes von Großeltern, Eltern, aber auch von Mitarbeitenden und (Geschwister-)Kindern einfühlende Gespräche gesucht hat. Die Erziehungsberatungsstelle ist wöchentlich an zwei Vormittagen mit einer offenen Sprechstunde präsent. Im Flur sind Informationen ersichtlich für alle Lebenssituationen. Ein “Info-Board” gibt Eltern die Möglichkeit, Dinge untereinander zu verkaufen und wechselseitig zugänglich zu machen. Die Katholische Jugend (KJG) bietet Babysitterdienste an. Die katholische öffentliche Bücherei ist in die Kita verlagert und hat das Buchangebot auf die Bedarfe von Familien mit Kindern ausgerichtet. Ehrenamtliche Lesepatinnen, mehrere 70jährige Großeltern mit eigenen Enkelkindern, die weit weg wohnen, – natürlich alle mit erweitertem Führungszeugnis – kommen dreimal die Woche und kuscheln sich mit Kindern in den beiden Hängematten.

In der Kita trifft man auf eine Kultur der Achtsamkeit im Umgang miteinander, Menschen hören hin und sich genau zu, fragen nach, haben viel Geduld mit den Entwicklungsprozessen der Kinder – aber auch den eigenen.

In der Kita trifft man auf eine Kultur der Achtsamkeit im Umgang miteinander, Menschen hören hin und sich genau zu, fragen nach, haben viel Geduld mit den Entwicklungsprozessen der Kinder – aber auch den eigenen. In der Kita sind einige Rechte der Kinder nachzulesen: unter anderem das Recht auf Beteiligung und auf körperliche Unversehrtheit. Das veröffentlichte Leitbild spricht von der Achtung der Prinzipien der katholischen Soziallehre, von der Personalität, der Solidarität und der Subsidiarität. Die Menschen – und insbesondere die Fachkräfte – reden wirklich viel miteinander, und nicht (nur) übereinander.

In der Kita gibt es täglich oder wöchentlich – wenn auch nur kurze – Momente des Innehaltens, der Rückschau, der Vergewisserung, des Rückbindens an den einen, auf den wir vertrauen und an den wir glauben.

Die pädagogischen Fachkräfte sind theologisch begleitet in den – hoffentlich auch gestellten – Fragen nach dem, was sie in ihrem Leben trägt, nach ihrer – je nach Alter oft nicht mehr ganz so klassisch ausgeprägten – eigenen Spiritualität, nach ihren Hoffnungen, Wünschen und Sehnsüchten. Für elterliche Gespräche steht auch wöchentlich ein Seelsorger zur Verfügung, während natürlich die Katholische Jugend (KJG) – für kleines Geld und vorbereitet zur Vermeidung übergriffiger Situationen – die Babysitterdienste vollbringt.

Familienzentrum Haus der großen kleinen Leute Garten

Kann in etwa so eine „Leitstelle für soziale Prozesse und Kirchort auf Zeit“ in concreto beschrieben werden?

Ich meine ja, und auch nein.

Ja: Es braucht Visionen von Beteiligung und Wertschätzung, von Achtsamkeit und Begrenzung, von Öffnung und Inspiration, von Standhaftigkeit und Entwicklung, von Nähe und Distanz.

Nein: Eine Angebotspalette, orientiert an den Bedarfen der Menschen – die bekanntlich quasi unbegrenzt sind -, diese erwartete ausgeprägte Haltung der Achtsamkeit, des Hinhörens und der umfassenden Beteiligung überfordert Menschen in den Betreuungseinrichtungen, die ohne zusätzliches Personal die neue Kundschaft Eltern als Gesamtsystem – und nicht mehr überwiegend in der Rolle als Erziehungs- und Bildungspartner – sozusagen auferlegt bekommen.

2. Unsere Kitas und Familienzentren im Bistum Mainz

2.1. Projekt „Kita als Familienzentrum“

Es braucht Visionen von Beteiligung und Wertschätzung, von Achtsamkeit und Begrenzung, von Öffnung und Inspiration, von Standhaftigkeit und Entwicklung, von Nähe und Distanz.

Wir haben seit dem Jahr 2007 zwei Staffeln „Kita als Familienzentrum“ mit insgesamt 50 von insgesamt 210 Kindertageseinrichtungen im Bistum Mainz durchgeführt. Die Fördersumme für beide Projekte wurde durch Kirchensteuermittel im hohen sechs-stelligen Bereich finanziert.

Unser Ansatz bestand in folgenden Entwicklungszielen:

  • Eltern und Erzieherinnen sind Partner in der jeweiligen und gemeinsamen Verantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder.
  • Kindertagesstätten entwickeln ihre Angebote mit und im Hinblick auf Familien.
  • Durch das gemeinsame Engagement von Kindern, Eltern, haupt- und ehrenamtlichen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickelt sich eine lebendige Gemeinschaft von und für Familien.
  • Kindertagesstätten verstehen sich als Teil ihres Sozial- und Pastoralraums und gestalten diesen mit.
  • Ein erkennbares Profil der Erziehung, Bildung und Betreuung der Kinder ist beschrieben, wird überprüft und weiterentwickelt.

Bedeutsam war in allen diözesanen Workshops, regionalen Projekt- und Steuerungsgruppen: Es ging uns nicht um das „Mehr“, sondern um das „Anders“, um Reflexion des Bestehenden und der behutsamen Weiterentwicklung von Angeboten.

2.2. Grundorientierungen für die Caritasarbeit

Als Verband haben wir parallel zu diesen – und vielen anderen Prozessen in allen drei Fachbereichen des Diözesanverbandes – vier Grundorientierungen für die Caritasarbeit im Bistum Mainz definiert, an dieser Stelle unterfüttert mit Beispielen aus den Kindertageseinrichtungen:

(1) Teilhabe und Teilgabe
Familienzentrum Mühlrad Nachbarschaftsfest

Wir wollen Kinder und Familien in ganz vielen Prozessen und Aktivitäten beteiligen. Dazu braucht es eine zugewandte Haltung und die eigene Sicherheit, dass der/die andere die eigene Arbeit bereichert.

Ich denke gerne an die eine Kita-Leitung, die ich begleitet hatte, die sich aus der Vorbereitung des Sommerfestes herausgezogen hatte und diese Aufgabe einer Mitarbeitenden und Eltern überließ. Es war ihr merklich „anzuspüren“, dass sie es kaum aushalten konnte, diese Aufgabe wirklich zu delegieren. Und das Ergebnis: Das Sommerfest gelang und,  oder aber: Es wurde anders.

(2) Sozialraum- und Pastoralraumorientierung

Unsere Einrichtungen (auch Beratungsdienste und stationäre Altenhilfeeinrichtungen) sind keine Inseln für sich. Der Sozial- und Patoralraum entfaltet sich auf mindestens zwei Ebenen: „Begegnungsraum Kindertagesstätte“ und der „Sozialraum der Kindertagesstätte“. Unsere Kindertagesstätten selbst verstehen sich als soziale Begegnungsräume – in erster Linie für Kinder und Eltern, die unsere Einrichtungen besuchen sowie für unsere Mitarbeitenden. Diese Erfahrung der Unterschiedlichkeit positiv zu begleiten und gegenseitigen Respekt und Achtung zu fördern, erachten wir als christlichen und gesellschaftspolitischen Auftrag. Zugleich sind unsere Kindertagesstätten Teil größerer sozialgeografischer Räume in der Kommune, im Stadtteil. Zudem sind sie Teil von  Pastoralräumen, die nicht mit den Sozialräumen identisch sein müssen.

Diese Erfahrung der Unterschiedlichkeit positiv zu begleiten und gegenseitigen Respekt und Achtung zu fördern, erachten wir als christlichen und gesellschaftspolitischen Auftrag.

Die Kita hat eine Sozialraumanalyse erstellt, die Strukturen und Angebote sind bekannt, eine Mitwirkung von Vertreter/innen der Kindertageseinrichtung am örtlichen Runden Tisch ist klar. Dass die Leitung in ihrer Rolle an den Pfarrgemeinderatssitzungen teilnimmt, ihre Weiterentwicklung anlassbezogen präsentiert und auf offenen Ohren des pastoralen Leitungsgremiums trifft, ist gesetzt.

(3) Bedarfsorientierung

Um Kinder und Familien in qualifizierter Weise anzusprechen und auf ihre Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten einzugehen, ist es notwendig, sich an der Lebenswirklichkeit vor Ort zu orientieren und sich mit ihr auseinander zu setzen.

In der 2. Staffel des Projektes Kita als Familienzentrum wurden in 47 Kindertageseinrichtungen, unterstützt durch ein wissenschaftliches Institut, 2.500 Eltern nach ihren Bedarfen gefragt. Diese wurden einrichtungsbezogen ausgewertet und der örtlichen Ziel- und Maßnahmenplanung zu Grunde gelegt.

(4) Ehrenamtsorientierung

„Ehrenamtliches Engagement gehört schon immer zum Selbstverständnis in Caritas und Kirche. Ohne die Ideen und das Engagement der Eltern und Personensorgeberechtigten wäre eine Kita an Erfahrungen ärmer“, so der Generalvikar des Bistums Mainz in der Arbeitshilfe Nr. 4, Handlungsempfehlungen für ehrenamtliche Mitarbeit in Katholischen Tageseinrichtungen im Bistum Mainz.

Nichts ist kostenlos. Die Arbeit der Leitung ändert sich: Der ehrenamtlich tätige, pensionierte Schreiner, der die Holzwerkstatt betreut, geht vor Aufnahme seiner Tätigkeit erst einmal ins Büro der Leitung und sagt: „ Jetzt müssen Sie mir erst einmal zuhören, sonst kann ich nicht mit den Kindern arbeiten“… und wieder ist eine halbe Stunde Arbeitszeit der Leiterin in seelsorgliches  Handeln für Menschen im Sozialraum investiert.

 

2.3. Qualitätsentwicklung

Familienzentrum Haus der großen kleinen Leute Kochen

Wir haben vor 10 Jahren begonnen, Qualitätsentwicklungsprozesse aufzustellen, seit einigen Jahren auf der Grundlage des KTK-Gütesiegels, dem Bundessiegel des Verbandes Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK). 13 Kindertageseinrichtungen aus dem Bistum haben das Bundessiegel erhalten, weitere streben es an. Qualitätsmanagement ist für die Arbeit der Kindertageseinrichtungen im Bistum Mainz ein Instrument – und kein Ziel. Mit dem Qualitätsmanagement werden wichtige pädagogische und organisatorische Prozesse der eigenen Praxis reflektiert, beschrieben und überprüft. Die im Fachbereich angesiedelte Qualitätsstelle hat für die Kindertagesstätten im Bistum Mainz ein Rahmenhandbuch erarbeitet, welches bistums- und landesseitige Normen darlegt, worin zugleich Prozesse beschrieben sind, welche von der jeweiligen Kita übernommen oder überarbeitet werden können und desweiteren auch Raum lässt, die eigene weitergehende Praxis zu beschreiben.

Katholische Kindertageseinrichtungen und Familienzentren sind für uns offene Häuser und pastorale Begegnungsorte von Familien. Alle Familien aus dem Sozial- und Pastoralraum sind willkommen. Als Erfahrungs- und Lernorte des gelebten Glaubens und der Begegnung mit Kirche lassen sie Familien eine Kultur liebevoller Gemeinschaft im Geiste Jesu Christi erleben und schaffen Raum und Angebot für die Lebens- und Glaubensfragen der Eltern. Als Familienzentren unterstützen, entlasten und stabilisieren sie Familien, insbesondere Familien in schwierigen Lebenslagen, durch konkrete, an ihren Bedürfnissen ausgerichtete Angebote der (religiösen) Familienbildung, -beratung und -hilfe, die in Familienzentren institutionell verankert sind. Die Weiterentwicklung der Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren ist konkreter Ausdruck einer im Wesen diakonisch und auf Gemeinschaft hin ausgerichteten Kirche. Daher trägt die Pfarrgemeinde bzw. die pastorale Einheit die Entwicklung zum Familienzentrum aktiv mit.

Katholische Kindertageseinrichtungen und Familienzentren sind für uns offene Häuser und pastorale Begegnungsorte von Familien.

Katholische Familienzentren im Bistum Mainz sind im Sozial- und Pastoralraum vernetzte Kindertageseinrichtungen, die sich als pastorale Orte der Begegnung, Beratung, Betreuung, Begleitung, Beteiligung und Bildung für die ganze Familie verstehen.

Als eine Konsequenz aus den beiden Prozessen wird es einen Ausbau der Unterstützung aller Kitas geben: Die Fachberatung des Caritasverbandes wurde personell aufgestockt, um in kleineren Regionen die interessierten Kindertageseinrichtungen auf dem Weg einer stärkeren Familien-, Qualitäts- und Sozialraumorientierung zu begleiten: durch Beratung vor Ort, Teilnahme an Workshops und das Angebot von internen Audits.

Strukturell werden die Kitas eine „AG Kita und Familie“ einrichten. Ziel und Auftrag der „AG Kita und Familie“ ist es, auf der Grundlage der diözesanen Pastoralen Richtlinie für Kindertagesstätten, das familienpastorale Angebot von Familienzentrum und Familienpastoral zu entwickeln, zu koordinieren zu beschreiben und umzusetzen. Mitglieder der AG sind Verantwortliche für die Pastoral (pastorale BegleiterIn aus dem Team der Hauptamtlichen und oder Pfarrer, mindestens ein/e Vertreter/in aus dem Pfarrgemeinderat bzw. Seelsorgerat), Leitung und beauftragte Mitarbeitende der Kita, Vertreter der Eltern sowie weitere Ehrenamtliche.

Die Pastoral braucht Kompetenzen und Zeiten für die Begleitung der Mitarbeitenden und der Eltern. Dann ist expliziter Kirchort möglich. Implizit ja sowieso schon.

3. Und nun?

Die Lehrerin der örtlichen polnischen Volkstanzgruppe  – sehr viele Kinder aus polnischen Familien wohnen im Stadtteil –  bietet seit kurzem zur Freude der Mädchen und ihrer Mütter Tänze aus der Heimat an, die syrischen Familien laden zum Falafelessen in die Flüchtlingsunterkunft ein, der Direktor der örtlichen Volksbank eröffnet die dritte Kunstausstellung der Kinder, diesmal zum Thema „Arme Kinder“, die jährliche Bedarfserhebung der Kindertageseinrichtung ergab bei 56,7% der Eltern den Wunsch nach einer um eine halbe Stunde verlängerte Öffnungszeit….

Ach, übrigens, das Konzert der Kinder-Eltern-Mitarbeitenden-Band des katholischen Familienzentrums in Goldischhausen für die katholische Schule des indischen Priesters der Pfarrgemeinde ergab eine Gesamtsumme von 467,34€ Reinerlös. Dieser wird ohne Abzug von Verwaltungsgebühren überwiesen… Und den nächsten Familiengottesdienst mit Kleinkindern feiern wir in der Kita. Da sind wir ziemlich sicher, dass die Kinder und ihre Familien auch kommen…

Ps: Wir haben über die Staffel 1 des Projektes „Kita als Familienzentrum“ einen Film gedreht. Die Kurzfassung ist online zu finden. Den vollständigen Film schicken wir Ihnen gerne zu: Caritasverband für die Diözese Mainz, Frau Olga Frank, Bahnstraße 32, 55128 Mainz oder Mail an olga[.]frank[at]caritas-bistum-mainz[.]de  (olga[.]frank[at]caritas-bistum-mainz[.]de)  .

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