22018

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Statements

Elisabeth Neuhaus

Kirchliche Dienste im Ambiguitätsspagat 

Die Welt, in der wir leben, zeigt in ihrer zunehmenden Komplexität durchgängig Phänomene wie Mehrdeutigkeit, Unentscheidbarkeit und Vagheit. Als Oberbegrifft hierfür bietet sich der Begriff „Ambiguität“ an. Überlegungen dazu entfaltet Thomas Bauer in seinem Büchlein „Die Vereindeutigung der Welt“1:

Die vordergründige Auflösung komplexer Wirklichkeiten führt nur zu einer Schein-Auf-Lösung.

Die meisten Menschen drängt es, die in der Bedeutungsvielfalt liegenden Spannungen in Richtung Eindeutigkeit aufzulösen. Sie greifen dazu u.a. auf Strategien wie Gleichgültigkeit, Trivialisierung oder Fundamentalismus zurück. Alle diese Varianten sind derzeit weltweit zu beobachten. Allerdings führt eine vordergründige Auflösung komplexer Wirklichkeiten nur zu einer Schein-Auf-Lösung. Faktisch werden Spannungslinien lediglich verschoben oder es entstehen neue Ambiguitäten. 

Kunst, Literatur, Musik und auch Religion können im besten Sinne Orte sein, die Realität der Ambiguität auszuhalten und in kreativer Weise mit ihr umzugehen. Sie nehmen die Wirklichkeit von Komplexität, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit auf und gestalten die ihnen innenliegende Spannung, ohne sie in eine Richtung hin aufzulösen oder alle Varianten und Facetten in unverbundenen und kleinteiligen Schubladen zu egalisieren.
Klassische Protagonistin mit zweitausendjähriger Erfahrung in der kreativen Gestaltung ambiger Verhältnisse ist die katholische Kirche, wenn auch in der jüngeren Kirchengeschichte z.B. die Unfehlbarkeitsentscheidung des I. Vatikanums, der Syllabus oder die Romzentralisierung unter den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. eher ambiguitätsintoleranten Linien folgen. (In dieser Linie gäbe es heute vermutlich nur eine Evangeliumsfassung.) Papst Franziskus ermutigt eher, in der Vieldeutigkeit des Lebens nach verantworteten Lösung zu suchen, die die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigen und mehrere Optionen zulassen. So gibt es auch in der europäischen Geschichte und gab es immer wieder einen Wechsel zwischen ambiguitätstoleranten und -intoleranten Epochen.2

Kunst, Literatur, Musik und auch Religion können im besten Sinne Orte sein, die Realität der Ambiguität auszuhalten und in kreativer Weise mit ihr umzugehen.

Ein beispielhafter Blick auf ein zentrales Element des Christentums, den biblische Kanon, zeigt, wie vielschichtig, ambivalent und mehrdeutig schon seit vorchristlicher Zeit Gott von Menschen wahrgenommen wird und wie facettenreich ihre Reaktionen auf diese Wahrnehmungen waren, sind und bleiben werden. Die Herausforderung, mit gleichzeitig bestehenden Gegensätzen, Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten umzugehen, ist nichts Neues. Neu ist vermutlich die Erweiterung der globalen Perspektive und Vernetzung, die Komplexität erhöht und in Verbindung mit immer schnellerem Tempo die Dynamik relevant steigen lässt. 

Vom Grundsatz her jedoch bringt insbesondere die katholische Kirche mit ihrem Ansatz des „et-et“ und des Diktums der Vielfalt in der Einheit und der Einheit in der Vielfalt hervorragende Voraussetzungen mit, Ambiguität im Sinne von Kontingenzgestaltung innerhalb der Spannung des eschatologischen Vorbehaltes auszuhalten und mit Zuversicht anzugehen. Sie kann dies tun im Vertrauen darauf, in allen Stürmen des „So geht es nicht mehr, aber wir wissen noch nicht, wie es anders geht“ getragen zu sein von der Aemuna, der Treue Gottes, die jede/r Gläubige am Ende eines jeden Gebetes mit dem eigenen Amen glaubend bejaht. 

Glaube und Theologie des Christentums bieten ein gutes Fundament, Ambiguität auszuhalten und zu gestalten. Sie bieten die Sicherheit, sich der Vielgestaltigkeit zu stellen und sich mutig in diese Welt hinein zu investieren.

Diese Grundlage ist im Blick auf die Pastoralen Dienste jeweils um eine adäquate und zeitgemäße Fachlichkeit zum Verständnis theologischer Grundlangen sowie der Gestaltung von komplexen Organisations- und Veränderungsprozessen auf den unterschiedlichen strukturellen Ebenen (Weltkirche, Ortskirche, Pfarrei) zu erweitern.

Nun kann man weiterführend die Frage stellen, wo sich die Potenziale und Ressourcen zur Ambiguitätsbewältigung z.B. unter den hauptamtlichen pastoralen Diensten wiederfinden. Dazu mag ein Blick in die von Baumann u.a. erstellten Studie zur Gesundheitssituation der Pastoralen Dienste3 helfen. 

Hier heißt es: „Der zentrale motivationale Faktor für das Engagement im Dienst ist die eigene Spiritualität. Es kommen hinzu ein gutes Gefühl der Selbstwirksamkeit, der Kohärenz und ein positives Teamklima. … Hingabe in der Seelsorge entsteht durch Motivation von innen und nicht durch Anreize von außen.“4 Besonders tragend wird unabhängig von Gebetsformen das persönliche Gebet erlebt. Es erweist sich als stärkend und Halt gebend. 

Zugleich heißt es, „dass ausgerechnet bei katholischen Seelsorger/-innen das Kohärenzgefühl (bzw. die Lebenssicherheit, die Orientierung der durchdringenden, ausdauernden und dynamischen Lebenszuversicht, die Gewissheit über den gestaltbaren Zusammenhalt der Welt und des Lebens, das „Gefühl des Verankertseins“) geringer ausgeprägt ist als bei Personen in Berufen mit vergleichbarer Verantwortung und mit vergleichbarem beruflichen Auftrag.“5

Diese Ergebnisse sind zum einen sicherlich höchst relevant für alle, die für die Ausbildung der Pastoralen Dienste verantwortlich sind. Eine Herausforderung besteht u.a. darin, einerseits sensibel zu sein für die Berufung, die Gott schenkt und die häufig gerade denen gilt, die nach den Maßstäben dieser Welt nicht als „die Starken“ gelte6 und andererseits das Ziel der Berufung nicht aus dem Auge zu verlieren, nämlich die Stärkung und Unterstützung derer, für die man berufen ist. Auch hier ist Ambiguitätssensibilität gefordert. 

Neben Sensibilität braucht es auch Willen, Kraft und Kompetenz, Ambiguität aktiv zu gestalten und nicht nur zu erleiden. Wo können nun Pastorale Dienste Energiequellen für eine solche Gestaltungsaufgabe finden? Laut der Studie von Baumann u.a. ist die Pflege der persönlichen Spiritualität eine relevante positive Quelle für den Dienst. Es scheint wichtig zu sein, die Räume dafür stabil zu halten. Das gilt in erster Linie für das individuelle Gebet. Im Gespräch z.B. mit High-Potential-Teams im kirchlichen Kontext zeigt sich ferner, dass eine gemeinschaftlich gepflegte Spiritualität die funktionale Vertrautheit erhöht und infolge dessen die Belastbarkeit sowie die Qualität und Quantität der Arbeitsergebnisse. In diesen Teams besteht auch eine Offenheit, sich der Zumutung jesuanischer Ungesichertheit zu stellen und sich aus den eigenen Sicherheiten herausrufen zu lassen. Es gehört zur Aufgabe der Leitung auf den diversen Ebenen, Arbeitssettings so zu gestalten, dass hierfür Raum zur Verfügung steht. 

Neben Sensibilität braucht es auch Willen, Kraft und Kompetenz, Ambiguität aktiv zu gestalten und nicht nur zu erleiden.

Eine Investition in die spirituelle Kultur der einzelnen Dienste sowie der Dienstgemeinschaft führen somit letztlich zu einer Stabilisierung und können so die Bereitschaft erhöhen, sich inneren und äußeren Unsicherheiten zu stellen, auch wenn dies frühe Bindungsmuster nicht grundsätzlich verändert. 

Eine Stärkung des Faktors Spiritualität dient somit nicht nur der gesundheitlichen Prophylaxe, sondern ermöglicht ferner, sich auf Lernerfahrungen einzulassen, um wiederum souveräner mit neuen verunsichernden Situationen und Anforderungen umzugehen. Nicht nur hier zeigt sich, dass emotionale Erlebensqualitäten einen nicht unerheblichen Einfluss darauf haben, ob sich im Lernprozess sukzessive dauerhafte kognitive und motivationale Dispositionen herausbilden, die zur fachlichen Qualifizierung und Weiterentwicklung der Persönlichkeit beitragen7.

Während eine lebendige persönliche Spiritualität stabilisierend wirkt, tragen diverse aktuelle Entwicklungen – von den Strukturveränderungen über die Forderung nach Partizipation bis zur Missbrauchsthematik – zu massiven Rollenverunsicherungen bei. Das betrifft insbesondere die Priester, da es sich hier in der eigenen Wahrnehmung um eine Veränderung der Berufsrolle handelt, die zugleich als Herausforderung, Zumutung oder Irritation erlebt wird. Dies? erfordert, die eigene Berufung unter veränderten Rahmenbedingungen neu zu buchstabieren. Die damit verbundene Verunsicherung betrifft die existenzielle Ebene der eigenen Identität in besonderer Weise. Aus dieser Perspektive heraus ist die Zugehörigkeit zur Berufsgruppe Priester für die Implementierung einer wirksamen Rollenarchitektur sehr wohl zu beachten. Hier wäre zu fragen, welche spezifischen Unterstützungsmaßnahmen notwendig sind, dass die Veränderungsanforderungen der Personal- und Pastoralabteilungen an die Aufgaben- und Kompetenzprofile in der Weise mit Unterstützungs- und Begleitmaßnahmen flankiert werden, dass sie von den Betroffenen in ihrer je spezifischen Situation auch angenommen und als alltagstauglich erfahren werden. Vermutlich bedarf es hier eines kontinuierlichen Diskurses, iterativ zumindest kleine Sicherheitsinseln bezüglich des eigenen Aufgabenprofils, bestenfalls im Kontext des Teams, zu kreieren. Dazu ist ein vertrauensvoller Austausch der verschiedenen Berufsgruppen untereinander als auch miteinander notwendig. Nur so können eigene Stärken und auch Schwächen erkannt und anerkannt werden. Häufig sind Grundlagenkompetenzen wie z.B. Feedbackkultur, aktivierende Moderation von Gesprächen unter Erwachsenen, differenzierte Gestaltung von Beratungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen nicht bekannt oder eingeübt. In diese Situation Qualifizierungen zum Trainer, Prozessmanager oder Geschäftsführer einzuspeisen dürfte wenig positive Wirkung aber viel Frust erzeugen. 

Das gilt umso mehr für die Diaspora, wo Pastorale Dienste bis vor nicht allzu langer Zeit als Einzelkämpfer unterwegs waren, deren Bezugs- und Beziehungsgröße die Pfarrfamilie war und ist – und nicht das Team, was auch jetzt z.T. nur aus zwei oder drei Personen besteht. Hier ist manchmal nicht mehr als eine Dienstbesprechung möglich und bestenfalls das Team als Arbeitsgruppe. Wie im Rahmen solcher Grenzen komplexe Rollenarchitekturen entwickelt und wirksam werden können ist definitiv eine dringende Entwicklungsaufgabe. 

Um Pastorale Dienste stark zu machen für kompetente Ambiguitätsgestaltung, gilt es, sie neben der aufgabenbezogenen Qualifizierung auf einer ganz basalen Ebene zu stärken ohne die Zumutung aufzugeben, an der vermutlich noch lange nicht (zumindest vorläufig) klarer zu erkennenden Zukunftsgestalt der Kirche mitzuwirken. Das wirkt sich relativ unmittelbar auf die Art und Weise des pastoralen Handelns aus. Hier kann bei aller Unsicherheit und aller Unzufriedenheit mit den Rahmenbedingungen Zuversicht wachsen. So können sich das Vertrauen, unbedingt von Gott gehalten zu sein, und die notwendige Unruhe des pilgernden Gottesvolkes gegenseitig befruchten, ohne das eine oder das andere auflösen zu müssen.

Schon seit vielen Jahren zeigt sich z.B. im Thema Missbrauch eine Spannung, die in jeder Hinsicht zu zerreißen droht und deren Botschaft Kirche noch lange nicht verstanden hat. Trotzdem und zugleich hat die Kirche eine lange Tradition in der Spiritualität der Ambiguität, weshalb sie zuversichtlich sein darf ohne sich einzulullen. Diese Spiritualität ist für in kirchlichen Kreisen stark vertretene harmoniebestrebte Persönlichkeiten sicherlich eine Herausforderung. Eine Kirche, die in verunsichernden Veränderungen Zuversicht zu leben vermag, kann in einer zunehmend verunsicherten Gesellschaft eine echte Alternative aufzeigen, Spannungen auszuhalten und in allem streitbaren Ringen um tragfähige Konzepte wertschätzend miteinander unterwegs zu bleiben. 

  1. Vgl. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Ditzingen 2018, S.13.
  2. Z.B. Renaissance, Humanismus und Barock auf der einen, die Religionskriege, Französische Revolution und die Ideologischen Systeme des 19. und 20. Jahrhunderts auf der anderen Seite, s. Bauer, a.a.O., S. 21.
  3. Klaus Baumann, Arndt Büssing, Eckhard Frick, Christoph Jacobs, Wolfgang Weig: Zwischen Spirit und Stress. Die Seelsorgenden in den deutschen Diözesen. Würzburg 2017.
  4. Frick u.a.: Erste Ergebnisse der Seelsorgestudie (Stand 30.04.2015). http://www.seelsorgestudie.de/downloads
  5. Klaus Baumann u.a., a..a.O. S 62: „Tatsächlich scheinen viele Priester und andere Seelsorgende einerseits von einem unsicher-distanzierten oder einem anderen problematischen bindungspsychologischen Hintergrund geprägt zu sein. Andererseits ist für viele der Kontext von Kirche, Pfarrgemeinde und prägenden Geistlichen ein ‘Hafen’, den sie mitten in der Unsicherheit aufsuchen konnten. Die dort geliehene und erarbeitete Sicherheit können sie, so diese Deutung, verunsicherten Menschen weitergeben, die sich an sie wenden. Die alt- und neutestamentlichen Aufbruchssituationen, das Herausgerufen-Sein (ek-klesia) und die jesuanische Ungesichertheit (vgl. Mt 8,20par) werden existentiell und faktisch weitgehend abgewehrt (wenn auch weiterhin theologisch-kognitiv ohne Folgen für sich selbst). Ein unsicherer Bindungsstil muss so lange keine Probleme bereiten, wie das Bindungssystem nicht aktiviert ist. Die charakteristische unsicher-distanzierte Abwehr, Beziehungen funktional-technisch zu gestalten, kann Teil der seelsorglichen Persona werden. Z.B. gleichbleibende, lächelnde Jovialität, korrekte Geschäftsführung in Sakramentenverwaltung und Gremienarbeit, Übernahme des spirituellen Jargons einer geistlichen Gemeinschaft. Eine derartige defensive Persona ist häufig in hohem Maße sozial erwünscht. Sie schützt vor Unsicherheit und unkontrollierbarer Infragestellung. Sie wehrt sich jedoch auch gegen Neues und zeigt wenig Bereitschaft, Neues und etwas möglicherweise Gefährliches (etwa an den Rändern) zu erkunden, um ihre Sicherheit (status quo) nicht in erschütternde Gefahr zu bringen. Denn diese Persona sagt aufgrund ihrer Unsicherheitserfahrung und zum Schutz davor: „Der alte Wein ist besser“ (Lk 5,39).“ Ebda, S. 130f.  
     
  6. Seht doch auf eure Berufung, Brüder und Schwestern! Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen.“ 1 Kor 1,26f.
  7. S.z.B. Zeitschrift für Pädagogik, Jahrgang 51, Heft 5, September/Oktober 2005, Thementeil Emotionen und Lernen, S. 603-672.

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