022015

Foto: krobbie: Kunsthal, Rotterdam (CC BY-SA 2.0), Bildausschnitt

Konzept

Ellen Ueberschär

„Gott als Stakeholder?“

Religion als Dimension von Leitung?1

Ich stelle mir also vor: Neben internen Anspruchsgruppen, Eigentümer, Management, Mitarbeiter, und externen: Fremdkapitalgeber, Lieferanten, Kunden, Konkurrenz, Staat und Gesellschaft, steht Gott herum – ist er intern? Ein Mitarbeiter, der stets eigensinnige Dinge tut, die man schwer beeinflussen kann? Ist Gott ein Eigentümer, der einem ständig über die Schulter guckt? Oder ist er ein Externer? Ein Kunde, der nie zufrieden ist, ein Fremdkapitalgeber vielleicht, der zwar nicht Geld, aber Werte beigesteuert hat, von dem aber unbekannt ist, wie seine Rendite-Erwartung aussieht? Muss man die Ansprüche dieses Kapitalgebers dann höher bewerten als andere? Wenn man mit Gott rechnen muss als Stakeholder, wie rechnet man dann? Oder spielt Gott als Stakeholder andere Stakeholder gegeneinander aus?

Ein verstörendes Gleichnis

Es gibt ein verstörendes Gleichnis in der Bibel von einem Latifundien-Verwalter mit einer anschließenden Empfehlung durch Jesus persönlich:

1 Jesus erzählte den Jüngerinnen und Jüngern: „Ein reicher Mensch hatte einen Geschäftsführer; dieser wurde verdächtigt, seinen Besitz zu verschleudern. 2 Er ließ ihn rufen: ‚Was höre ich da über dich? Lege deine Bilanz vor! Du kannst nicht weiter die Geschäfte führen‘. 3 Der Geschäftsführer sagte sich: ‚Was tun? Mein Herr entzieht mir die Verwaltung. Für Feldarbeit bin ich nicht kräftig genug, zu betteln schäme ich mich. 4 Jetzt weiß ich, was ich mache, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, sobald ich aus der Verwaltung entlassen bin.‘ 5 Er rief diejenigen, die seinem Herrn etwas schuldeten, einzeln zu sich. Den Ersten fragte er: ‚Wie viel schuldest du meinem Herrn?‘ 6 ‚Hundert Fass Olivenöl.‘ – ‚Hier, nimm deinen Schuldschein, setz dich, schreib schnell 50.‘ 7 ‚Und du? Was schuldest du?‘ –‚Hundert Fuhren Weizen.‘ – ‚Hier, nimm deinen Schuldschein, schreib 80.‘“ 8 Und Jesus, der Herr, lobte den Verwalter der Ungerechtigkeit, weil er klug gehandelt hatte. Im Blick auf ihre Generation sind die Kinder dieser Zeit klüger als die Kinder des Lichts. 9 Macht euch Freundinnen und Freunde mit dem Geld der Ungerechtigkeit, damit sie euch, wenn das Geld zu Ende geht, immer ein Zuhause geben.

Gott als Stakeholder ist unberechenbar, ja systemgefährdend

Der Text wurde bis hierhin nach dem Tod und der Auferstehung Jesu mündlich überliefert. Empörungspotenzial bei allen Eigentümern muss er schon damals gehabt haben, denn ihm folgen eine Reihe von Versen, die versuchen, den Text wieder in den Griff zu kriegen – aber es hilft nichts: Jesus lobt den Geschäftsführer, der das Eigentumsrecht missachtet, um sich selbst Vorteile zu verschaffen, der sich aber – vermutlich ohne es zu wissen – in eine biblische Tradition stellt: die des Schuldenerlasses. Alle sieben Jahre sollen die Schulden erlassen und die Sklaven freigelassen werden. Gott als Stakeholder ist unberechenbar, ja systemgefährdend – denn genau das tut der Verwalter: Er führt das System von Schuldnern und Gläubigern, von ungleicher Besitzverteilung ad absurdum und nutzt materielles Kapital, um moralisches Kapital zu schaffen – denn Dankbarkeit, die er zu Recht von denen zu erwarten hat, denen er die Schuldenlast erleichtert hat, ist eine moralische Größe.

Gott – ein Stakeholder, der alles durcheinanderbringt.

Nun kann man argumentieren, dass wir uns nicht mehr in der Antike befinden, sondern in einer sozialen Marktwirtschaft, die – wie Max Webers berühmte These vom Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus sagt, einen wesentlichen Impuls aus christlichen Werten erhält und nicht die Systemfrage stellt.

Eine Sackgasse

Gablers Wirtschaftslexikon empfiehlt einer erfolgreichen Unternehmensführung, „die Interessen aller Anspruchsgruppen bei ihren Entscheidungen berücksichtigen“.2

In unserer protestantischen Tradition berücksichtigt man Gott im bürgerlichen Leben in der Regel dadurch, dass man Gott in der Tat behandelt wie einen Fremdkapitalgeber, dessen Werte man internalisiert hat und so in bestem Sinne zu wahren meint.

Wohin allerdings die internalisierten, Gott so wohlgefälligen Lebenshaltungen führen können, hat Loriot in einem Sketch verarbeitet, den Sie alle kennen: Zwei Männer begegnen sich zufällig und nackt in einer Hotelbadewanne:

M.L: Herr Dr. Klöbner? Hören Sie? Wenn Sie nicht sofort auftauchen, verlasse ich die Wanne. Die Luft anhalten kann jeder.
Dr. K: (Luft schnappend) Was sagen Sie nun?
M.L: Sie langweilen mich.
Dr. K: Aber ich kann länger als Sie!
M.L: Es gibt Wichtigeres im Leben.
Dr. K: Was denn?
M.L: Ehrlichkeit, Toleranz…
Dr. K: Ja.
M.L: Mut, Anstand…
Dr. K: Ja.Ja.
M.L: Hilfsbereitschaft…
Dr. K: Ja.
M.L.: Tüchtigkeit, Zähigkeit…
Dr. K: Ja.
M.L: Sauberkeit.
Dr. K: Aber ich kann länger als Sie!

Gott ist aber nicht relativ, keine Größe, die wir einbauen müssten, keine nützliche Funktion in unserem Leben und in unserem Handeln

Das ist ein sehr protestantischer Sketch, der die Wertehaltungen zeigt, die über viele Jahrhunderte, gestützt durch klare obrigkeitliche Strukturen, in Geltung standen. Was Loriot uns vor Augen führt, ist eine ad absurdum geführte Internalisierung moralischer Werthaltungen, die nicht mehr im Stande sind, die Wirklichkeit wahrzunehmen – die Nacktheit des anderen, die Menschlichkeit des Anderen. Und plötzlich ist nicht mehr die Situation lächerlich, sondern diejenigen, die ihre Wertehaltungen auch dann wie Monstranzen vor sich hertragen, wenn etwas anderes gefordert wäre – in diesem Fall hätte wohl ein herzlichen Lachen die Situation entspannen können. Es ist lächerlich, auf Solidarität und Tüchtigkeit zu beharren, wenn es um kindliche Freude am Dasein gehen könnte.

Müller-Lüdenscheidt macht scheinbar alles richtig – er vertritt Gott als stakeholder, ein streng protestantisches Bewusstsein ist immer im Dienst. Was ihm fehlt, ist der Blick für das Menschliche, der aussteigt aus dem System, der das Naheliegende, das Menschliche tut.

Die Geschichte dieser Müller-Lüdenscheidtschen Gesinnungsethik, die anderen bestimmte Werte verordnete und damit andere Werte unterordnete, ist zu Ende. Gott sei Dank, sagen die einen. Untergang des Abendlandes!, rufen die anderen. Der große Bürgerrechtler und Theologe Wolfgang Ullman hat einmal darauf hingewiesen, dass der Begriff des Wertes aus der Mathematik entnommen ist und dort immer damit zu tun hat, dass etwas „relativ“ ist, so relativ, wie das Abwägen der Ansprüche unterschiedlicher Anteilsgruppen. Gott ist aber nicht relativ, keine Größe, die wir einbauen müssten, keine nützliche Funktion in unserem Leben und in unserem Handeln.

Die Koordinaten: Freiheit zur Verantwortung

Aber, so werden Sie argumentieren, was ist mit den zehn Geboten, mit der Nächstenliebe? – das sollte doch im Alltag von Menschen, die Geschäfte führen, relevant sein.

Damit sind wir mitten in der Frage, wie wir protestantische Ethik auf das leitende Handeln eines Menschen beziehen. Ganz offensichtlich ist das recht knifflig – bei Jesus macht sich die Person das System zunutze, um materielles in moralisches Kapital umzuwandeln, bei Loriot wird die Person genutzt, um die menschlichen Untiefen einer Gesinnungsethik vorzuführen. Gott ist unberechenbar, kein stakeholder, kein shareholder, kein Schlussstein in Systemen, die wir uns zimmern. Aber: Gott schickt uns immer wieder auf den Weg, verantwortliches Handeln zu suchen, uns dafür zu entscheiden, möglicherweise zu scheitern und neu anzufangen mit der Suche nach dem, was wir verantworten können.

Damit sind wir nicht nur beim zentralen Begriff von Leitung – Leitung heißt, Verantwortung haben – sondern auch bei einem Schlüsselbegriff moderner protestantischer Ethik: Die von Loriot karikierte Gesinnungsethik hat ihre Brüche im 20. Jahrhundert erlebt, als die Werte nicht mehr ausreichten, Menschlichkeit zu bewahren. Die Diktaturen haben moralische Dilemma-Situationen erzeugt, in denen man nur noch scheitern konnte. Denken Sie an die Ofenbau-Firma Topf und Söhne, die kurz vor der Insolvenz stand und ab 1933 die Arbeitsplätze der etwa 500 Mitarbeitenden dadurch gesichert hat, dass sie in das Krematoriumsgeschäft in den Konzentrationslagern eingestiegen ist. Das waren keine gottlosen oder gar verantwortunglosen Unternehmer. Ganz normale Menschen, die versucht haben, ihrer Leitungsverantwortung gerecht zu werden. Oder denken Sie an Oskar Schindler, der als Schüler sein Zeugnis fälschte, als gottloser Geselle galt und der mit Hilfe einer Rüstungsfirma Hunderten von Juden das Leben rettete.

Freiheit zur Verantwortung: Das ist das Konzept einer protestantischen Ethik, die Freiheit zur Entscheidung lässt, aber zu verantwortlichem Handeln ermutigt.

Was bringt eine Person dazu, das zu tun, was vor Gott und den Menschen als „verantwortlich“, als „menschlich“ gilt? Kann man im falschen System die richtigen Entscheidungen treffen?

Eine starre Gesinnungsethik hilft nicht weiter. Sie birgt sogar Gefahren – wer sich an Dogmen klammert, steht in der Gefahr, fundamentalistisch zu werden und Realitätsverluste zu erleiden. Deshalb ist die protestantische Ethik der neueren Zeit eher der Güterabwägung als der Dogmatik verpflichtet, eher situativ als naturgesetzlich begründet.

Protestantische Ethik rechnet mit einem Raum verantworteter Freiheit, rechnet mit der Möglichkeit der Weltgestaltung in Verantwortung vor Gott. Damit haben wir den entscheidenden Bogen geschlagen – Freiheit zur Verantwortung: Das ist das Konzept einer protestantischen Ethik, die Freiheit zur Entscheidung lässt, aber zu verantwortlichem Handeln ermutigt.

In diesem Konzept verantworteter Freiheit liegt ein Überschuss gegenüber dem Gedanken des stakeholder-Modells, das ja immerhin eine Breite von Anspruchsgruppen berücksichtigt. Aber es gibt keine Hinweise darauf, in welcher Weise die konfligierenden Ansprüche miteinander in Einklang gebracht werden sollen. Wir werden auf diesen Überschuss noch zurückkommen.

Wir leben Gott sei Dank nicht mehr in Diktaturen, aber die moralischen Dilemmata, in denen es gilt, Güter abzuwägen, sind nach wie vor vorhanden. Den Raum verantworteter Freiheit zu entdecken und auszuschreiten, ist nach wie vor ein täglicher Kampf, den Menschen in Leitungspositionen manchmal gewinnen, oft aber unter dem Druck der sogenannten Sachzwänge verlieren.

Verantwortung ist nichts Statisches, weshalb jede Person, die Verantwortung ohne Freiheit wahrnehmen möchte, unter der Last der Verantwortung zusammenbrechen wird: Die biblische Tradition ist voll von Befreiungserzählungen; die wirkungsmächtigste ist die Befreiung des Volkes Israel aus ägyptischer Sklaverei – ein ganzes Volk befreit sich aus Zwängen. Freiheit heißt eben auch und vor allem im biblischen Sinn: sich befreien aus Zwängen, sich bewegen auf Zukunft hin, ins Ungewisse vorstoßen. Im Vertrauen auf Gott neue Wege suchen. Das ist nicht die Freiheit der früheren Werbung für Camel-Zigaretten, die vermeintliche Ungebundenheit, die sich weder an Regeln noch an Prinzipien des Zusammenlebens hält und der jede Dimension von Verantwortung fehlt.

Den Raum verantworteter Freiheit zu nutzen, ist auch nicht damit getan, dass man eines der zahllosen, sündhaft teuren Seminare für spirituelle Managererholung besucht. Sicher – es kann gut tun, für einige Tage aus dem Hamsterrad auszusteigen, zu meditieren, die Gedanken zu sammeln, Draufsicht auf das eigene Leben zu gewinnen. Aber wenn es nur bei einer religiösen Wellnessmassage für das eigene Herz bleibt, ist das noch lange keine verantwortete Freiheit. Martin Luther hat bewusst und zu Recht die Mauer zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Berufsbegriff eingerissen: Jeder Beruf und jeder Stand ist der richtige Ort für den vernünftigen Gottesdienst. Der Alltag ist der Gottesdienst der Christen.

Christliche Grammatik: Grundorientierungen

Wie kann man nun aber diese verantwortete Freiheit tatsächlich leben? Woran kann man sich orientieren? Wenn es im Alltag nicht mit einer Gesinnungsethik funktioniert, gibt es dann Grundorientierungen?

Die gibt es durchaus – eine Grundorientierung geht auf die Entdeckung Martin Luthers zurück, dass wir unsere Verdienste nicht nur uns selbst verdanken – daraus ist später die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade geworden. Als dogmatische Theorie versteht das heute kaum jemand, aber so, wie Dietrich Bonhoeffer es einmal gesagt hat, versteht es jeder: „Im normalen Leben wird es einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch überhaupt unendlich viel mehr empfängt, als er gibt und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht. Man überschätzt wohl leicht das eigene Wirken und Tun in seiner Wichtigkeit gegenüber dem, was man nur durch Andere geworden ist.“ (Bonhoeffer, 157 f.) Rechtfertigung aus Gnade – das ist eine Warnung vor Selbsterlösungszwängen.

Gerade Menschen in Leitungsfunktionen stehen in der Gefahr, sich für unentbehrlich und unersetzlich zu halten.

Gerade Menschen in Leitungsfunktionen stehen in der Gefahr, sich für unentbehrlich und unersetzlich zu halten. In der deutschen Pfarrerschaft – ausgerechnet – gibt es ein interessantes Phänomen: Vor allem meine männlichen Kollegen wählen sehr gern das Bild des Hirten oder des Missionars für ihre Aufgabe – beides Bilder, die vor allem die Rolle dessen betonen, der sagt, wo es langgeht. Natürlich muss eine Leitungsperson führen, aber wer immer nur Hirt und gar kein bisschen Schaf sein will, gerät schnell in die Gefahr, sich selbst zu überschätzen, keine Fehler zugeben zu können und keine Ratlosigkeiten, die sich angesichts von Dilemma-Situationen einstellen.

Und genau deswegen gehört ein Bewusstsein, dass wir nicht alle Probleme der Welt lösen und die Welt nicht erlösen werden, zum grundlegenden christlichen Orientierungswissen – Thorsten Latzel hat das die „christliche Grammatik“ genannt. Das gefällt mir gut, weil die Regeln nicht Gegenstand des Leitungshandelns sind, sondern feststehen, aber zugleich flexibel auf jede Situation angewandt werden können – Grundvoraussetzung jeder verantwortungsethischen Haltung.

Zu dieser christlichen Grammatik gehören Führungseigenschaften, die möglicherweise gar nicht besonders christlich oder religiös konnotiert sind:3

  • Dass natürlich Leitungshandeln sinnvoll sein muss, nicht nur effizient und zielführend. Am Dilemma der Firmen im Nationalsozialismus war abzulesen, was das bedeuten kann – sinnvoll zu handeln und nicht nur effizient.

Ich beschreibe eine Situation in meinem Team – wir haben 2017 viel vor – in einer komplexen Struktur, die wir teilweise noch nie ausprobiert haben, mit drei unterschiedlich strukturierten Organisationsteilen, komplexen Anforderungen an Abstimmung, und wir arbeiten in der Regel mit Meilenstein-Klausuren. Und sind voller Tatendrang darangegangen, unsere Prozesse zu strukturieren, zu optimieren, bis irgendjemand plötzlich die Frage aufwarf: Wofür machen wir das eigentlich? Und dann haben wir innegehalten und haben eine Vision festgehalten, die ganz schnell den Titel hatte: Hoffnung, die uns trägt, die wir dann mit unseren ehrenamtlichen Vorständen, dem Präsidium des Kirchentages geteilt und geschliffen haben und die heute mehr ist als mission-statement. Selbst für uns, die wir mehr Sinn als Geld verdienen, war plötzlich an diesem Punkt deutlich, dass unsere Anstrengungen, das Umsetzen mit den jeweiligen Mitarbeitenden, ob haupt- oder ehrenamtlich, sinnvoll sein muss. Diesen Sinn haben wir mit der Vision neu entdeckt.

  • Dass Leitung glaubwürdig sein muss – in ihrer Haltung und in ihren Entscheidungen. Sie erinnern vielleicht den Fall des Geschäftsführers der Treberhilfe, der einen Ferrari fuhr.
  • Dass Leitung transparent und nachvollziehbar ist – das bedarf kaum der Erläuterung.
  • Dass Leitung vorläufig und veränderungsfähig ist, mit anderen Worten: fehlerfreundlich.

Übrigens trägt Fehlerfreundlichkeit zur Glaubwürdigkeit bei – und nicht umgekehrt: Ich persönlich halte von Festhalten an Fehlentscheidungen nichts. Ich passe Entscheidungen an eine veränderte Lage an, wenn die Argumente plausibel erscheinen. So kann es schon passieren, dass ein Rundschreiben mit Arbeitszeitregelungen am nächsten Tag noch einmal hinausgeht, weil die besondere Situation einer Kollegin darin nicht berücksichtigt war.

Das hat den Effekt, dass die Mitarbeiterinnen wissen, dass ihre Argumente gehört werden und zur Revision von Entscheidungen führen, dass der Sinn einer Regelung wichtiger ist als das Festhalten an Fehlentscheidungen.

Unterschied zwischen Wirklichkeit und ihrer Definition

Christliche Grammatik definiere ich für mich persönlich auch noch weiter – bis zu einem gesunden Misstrauen gegenüber jeglicher Kultur der Alternativlosigkeit. Jede Behauptung, die und die Entscheidung sei alternativlos, definiert scheinbar die Wirklichkeit, ist in Wahrheit natürlich eine bestimmte Führungsstrategie. Egal, ob es stimmt oder nicht – die Anderen müssen sich damit auseinandersetzen. Das kann eine Statistik, ein Projektvorschlag oder, wie es so schön heißt, ein Agenda-setting sein.

Wer Führung übernimmt, muss proaktiv sein, Setzungen vornehmen, sonst wird er oder sie bald von der Wirklichkeit überrollt. Aber – und das ist die schwerer zu erkennende Seite der Sache – es ist auch Vorsicht geboten vor den Wirklichkeitsdefinierern. Manche, vor allem Frauen neigen gern dazu, wegen ihrer Hochschätzung der Sachkompetenz, die Definition für die Wirklichkeit zu halten. Ein Beispiel aus meinem Bereich: Kein Mensch kann seriös sagen, wie die Kirche, ihre personelle und finanzielle Ausstattung in 30 Jahren genau aussehen wird. Solche „Vorhersagen“ werden aber im Nachrichtenformat verbreitet. Da geht es nicht um die Zukunft, sondern darum, mit diesen Zahlen heute eine Wirklichkeit zu definieren, die so, aber auch anders gesehen und von der kirchlichen Führung bearbeitet werden könnte.

Jeder Mensch verfügt über Ressourcen, die er oder sie aktivieren kann, um jenen Raum verantworteter Freiheit selbstwirksam zu betreten und zu gestalten.

Gesundes Misstrauen ist ein Salz, das jede braucht, die eine Suppe voller Verantwortung löffelt. Ich hätte für diesen Satz gut und gern auf die Lektionen in der Diktatur verzichtet. Aber den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und ihrer Definition zu erkennen, war in der DDR eine Zwangslektion. Die definierte Wirklichkeit der kommunistischen Führung, das sah jeder, entsprach nicht den alltäglichen Erfahrungen. Also lernten wir, unsere Wirklichkeit selbst zu beschreiben und das manchmal auch laut zu sagen.

Dazu gehörte Mut, den ich aus der Gemeinschaft schöpfte, in der ich mich geborgen und getragen wusste – die Gemeinschaft der Gemeinde, die Gottesdienste, die evangelische Jugendarbeit. Mut, mit dem eigenen Kopf gegen den mainstream zu denken und noch mehr Mut, laut zu sagen, dass zum Beispiel das Evangelium nicht den Status eines Märchens hat. Es kostete Selbstüberwindung, immer die zu sein, die anders denkt, die anderes tut, es war mühsam, nicht dazuzugehören – zu den richtig guten Pionieren, zu den beliebten Schülern, zu den angesagten Mädchen, zur Klassengemeinschaft. Ich gehörte nicht dazu, ich war anders, alles an mir war komisch, nicht nur mein wöchentlicher Christenlehre-Besuch. Eine im wahren Sinne des Wortes – harte Schule, die nicht spurlos blieb. Abgestempelt in einem System, das mich am Ende der Schullaufbahn nicht das studieren ließ, was ich wollte. Es hat viele Jahre gedauert, diese Erfahrungen zu einem positiven Kapital umzubauen – Mut und Selbstwirksamkeit: Sich nicht einschüchtern lassen von den Wirklichkeitsdefinierern, lieber selbst die Koordinaten auf der mentalen Landkarte festzulegen – das ist im Abstand von über zwanzig Jahren die nützliche Lektion.

Diese Lektion hat viel mit christlichem Orientierungswissen zu tun. Es geht nicht um Dogmatik, sondern um christliche Grammatik, um Gewissheit und Gewissen, um Selbstwirksamkeit. Die Motivation zur Wahrnehmung meiner Leitungsaufgabe schöpfe ich zu einem nicht geringen Teil aus der Dankbarkeit dafür, dass der realexistierende Sozialismus langsam im Staub der Geschichte versinkt, dass meine christliche Grammatik über die Systeme und Definitionen von Wirklichkeit hinweg getragen hat und trägt. Jeder Mensch verfügt über Ressourcen, die er oder sie aktivieren kann, um jenen Raum verantworteter Freiheit selbstwirksam zu betreten und zu gestalten.

Ist Gott ein Stakeholder – das war die Ausgangsfrage. Wir hatten gesehen, dass Gott, wie er uns in der Bibel entgegenkommt, eher verunsichert, Unruhe stiftet und jedenfalls nicht mit der Logik einer Organisation zu verrechnen ist.

Wir hatten auch gesehen, dass Verantwortung und Freiheit die Koordinaten sind, die leitendes Handeln in einem christlichen Sinn bestimmen. Jede Führungsaufgabe bewegt sich in einem Raum verantworteter Freiheit. Selbstwirksamkeit und Mut sind gefragt, wenn es darum geht, Situationen einzuschätzen, Wirklichkeit zu definieren, nicht alles zu glauben, was um eine herum behauptet wird. Sie bewegt sich in der Freiheit, einen Weg in die Zukunft zu suchen. Das Wissen um die Rechtfertigung aus Gnade, die Warnung vor Selbsterlösungszwängen – das sind Elemente einer christlichen Führungskultur im 21. Jahrhundert.

Dann gilt es nur noch eine Frage zu klären: Welche Rolle spielt Gott beim wichtigsten Instrument von Führung – bei Entscheidungen?

Glaube und Vertrauen als Prämisse von Entscheidungen

Entscheidungen dienen der Unsicherheitsabsorption einer Organisation. „Wenn heute gehandelt werden muss und die Folgen erst in der Zukunft ihre Wirkung entfalten, so kann niemand wissen, wie richtig gehandelt wird. Das ist einer der Gründe, warum jede Rationalität nur „begrenzt“ sein kann. „Die Unsicherheit ist durch sie prinzipiell nicht zu beseitigen“ – so Fritz B. Simon, der Organisationsberater und Psychiater (Simon, 66). Er beschreibt drei verschiedene Handlungsprämissen, die für Entscheidungen von Bedeutung sind – Programme, Kommunikationswege und Personen. Je technischer und exakter eine Aufgabe zu definieren ist, umso geringer ist der Entscheidungsbedarf. Dann sind Programme, die einfach befolgt werden und in Handbüchern festgehalten werden, einfach abzuarbeiten.

Unsere Aufgabe liegt immer im Bereich des Vorletzten. Das kann eine Person von Allmachtsphantasien befreien, es kann aber auch erleichtern, in schwierigen Entscheidungssituationen über eine Gewissheit des Getragen-seins zu verfügen.

Bei etwas kniffligeren Aufgabenstellungen sind allerdings die Kommunikationswege wichtig für eine Entscheidung – beispielsweise, wenn eine höhere Summe verausgabt werden soll, ist der Entscheidungs- bzw. Kommunikationsweg festgelegt: über Mitarbeiter und Geschäftsführung bis zum Vorstand. Das Spannende hieran ist, dass der Kommunikationsweg formal festgelegt ist, aber in seiner Auswirkung stark von den Inhabern der jeweiligen Funktion abhängt: Ist der Geschäftsführer offenherzig und zugewandt oder zugeknöpft und launisch – ist er ein Mann oder eine Frau – das ist für die Qualität einer Entscheidung nicht unwichtig.

Am interessantesten aber wird es, wenn die Entscheidungsprämisse Personen sind. Die Organisation kann viel gewinnen und viel verlieren. „Da nicht vorhersehbar ist, welche Fragen, Probleme, Herausforderungen auf die Organisation zukommen, kann auf Programme, die wenig flexibel sind, nicht dauerhaft gesetzt werden.“ „Kompensiert werden kann dieser Mangel durch das Vertrauen zu Personen.“ (74) Mit diesem Vertrauen in Personen erschließt sich die Organisation ein Potenzial an Intelligenz, Kompetenz, Kreativität und Urteilsfähigkeit.“

Meine Führungstätigkeit bezieht sich fast nicht auf Programme, sondern so gut wie ausschließlich auf Personen, die eine hohe Selbstwirksamkeit und viel Verantwortung haben. Ob wir eine bestimmte Themenstrecke qualifiziert einführen in den Kirchentag, hängt wesentlich davon ab, ob ich eine Person habe, die das Feld überblickt (Kultur) und davon, ob ich ihr für die Überwindung von Hindernissen Rückendeckung gebe und das Vertrauen habe, dass sie das packt.

Entscheidungen für Personen werden zu Entscheidungen für oder gegen das Überleben einer Organisation. „Wo immer Personen als Entscheidungsprämissen fungieren, wird Unvorhersehbarkeit eingeführt.“ (75) Vertrauen kann bestätigt oder enttäuscht werden. Und hier sind wir unversehens in einem Bereich, der von Organisationsberatung nicht erfasst werden kann. Vertrauen ist eine moralische Größe. Ob Vertrauen wirklich gewährt wird, ob Leitende in der Lage sind, anderen etwas zuzutrauen und ihnen zu vertrauen, hängt nicht von technischen Parametern ab, sondern von Persönlichkeiten, schöpft aus Quellen, die der Logik eines Unternehmens nicht zugänglich sind, aus denen es aber gleichzeitig lebt.

Und genau an diesem Punkt kommt eine Entscheidungsprämisse hinein, die Simon allenfalls indirekt benennt, indem er die Personen als sogenannte „autonome psychische Systeme“ (75) qualifiziert. Aber ich möchte die Entscheidungsprämisse doch benennen: Glauben und Vertrauen, oder ich kann es auch nennen: Bewusstsein für das Vorletzte. Das kann eine kindliche Herzensfrömmigkeit sein, die vor jeder großen Entscheidung betet, das kann ein robustes Gottvertrauen sein, das kann eine feste Gemeinschaft sein, eine gute Erfahrung mit Vertrauen aus der Jugendzeit – es gibt viele Möglichkeiten, diese Ressource zu erschließen, immer im Bewusstsein, dass wir die Welt mit keiner einzigen Entscheidung erlösen werden, weil das nicht bei uns, sondern bei Gott liegt. Unsere Aufgabe liegt immer im Bereich des Vorletzten. Das kann eine Person von Allmachtsphantasien befreien, es kann aber auch erleichtern, in schwierigen Entscheidungssituationen über eine Gewissheit des Getragen-seins zu verfügen. Jede Entscheidung kann sich als Fehlentscheidung entpuppen, kann im Misserfolg enden – aber: Es ist ein Misserfolg im Vorletzten, ein Scheitern, das meine Arbeit, aber nicht meine Person in Frage stellt.

Gott ist keine Funktion in unseren Systemen, aber vernünftiges Gottvertrauen kann Menschen stark machen, kann sie aufbrechen lassen, neue Wege zu suchen, durchzuhalten gegen Widerstände und resilient machen bei der Erfahrung des Scheiterns.

Gott ist keine Funktion in unseren Systemen, aber vernünftiges Gottvertrauen kann Menschen stark machen, kann sie aufbrechen lassen, neue Wege zu suchen, durchzuhalten gegen Widerstände und resilient machen bei der Erfahrung des Scheiterns.
  1. Vortrag 12. September 2015, Ev. Akademie Ffm./Arnoldshain
  2. Vgl. Artikel Social Responsiveness und Anspruchsgruppen
  3. Vgl. epd-Dokumentation 6/2012 Geistlich leiten

Literatur

  • Bonhoeffer, D., Werke, Band 8, 2. Auflage, Gütersloh 1998.
  • Simon, F. B., Einführung in die systemische Organisationstheorie, Heidelberg 2007.

Schlagworte

EthikFührungGesellschaftRelevanz

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