022013

Foto: Jan-Niklas Meier: IMG_3153_1 (CC BY-NC-SA 2.0), Bildausschnitt

Praxis

Barthel Schröder

Entscheidungsfindung in Großunternehmen: Was die Kirche daraus lernen könnte

Große Organisationen ohne hierarchische Strukturen sind undenkbar

Alle großen Wirtschaftsunternehmen weisen, wie andere große Organisationen auch, hierarchische Strukturen auf, d.h. die Verantwortlichkeiten sind als ein System von Funktionen organisiert, die einander über- bzw. untergeordnet sind, wobei die unterschiedlichen Stufen Wertigkeiten wiederspiegeln.

Unternehmen unterscheiden sich, was die Organisation angeht, nur in der Anzahl ihrer Hierarchie-Ebenen. Diejenigen, die mit wenigen Ebenen auskommen, werden dabei als „lean“ bezeichnet. Da die Anzahl der Hierarchie-Stufen von entscheidender Bedeutung für die Flexibilität bei der Entscheidungsfindung im Unternehmen und zudem Kosten treibend ist, besteht grundsätzlich das Ziel darin, die Struktur möglichst flach zu gestalten.

Bei weltweit tätigen Konzern, die Güter produzieren, sind es in der Regel sieben Ebenen je Geschäftsbereich (Produktion, Vertrieb, Entwicklung, etc.). Die Wertigkeit der Hierarchie-Stufen äußert sich nicht nur in der Dotierung sondern auch nach außen hin in bestimmten Zeichen: Dienstwagen mit oder ohne Chauffeur, Größe des Büros, Anzahl der Sekretärinnen und Assistenten, ein bestimmter Platz bei Sitzungen, und… und…

Die Kirche steht global agierenden Unternehmen, was die Hierarchie angeht, auf den ersten Blick in nichts nach. Äußere Zeichen sind auch mit den kirchlichen Hierarchie-Stufen verbunden, nur dass dort noch eine Differenzierung in Farben hinzukommt, während in Unternehmen der dunkle Business-Anzug und die dezente Krawatte alle Hierarchiestufen prägen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Kirche und Unternehmen besteht nur darin, dass bei Wirtschaftsunternehmen die Leiter der Hierarchie-Stufen leicht austauschbar sind, und bei unternehmerischem Misserfolg auch sehr schnell ausgetauscht werden, also Tod und Alter nicht wie in der Kirche die einzigen Gründe für einen Personalwechsel sind.

Eine Kirche ohne hierarchische Strukturen ist also eine Illusion. Nur deutlich weniger Hierarchie-Stufen, insbesondere in den Verwaltungen, sind sinnvoll.

Hierarchie-Stufen als Ausdruck definierter Entscheidungskompetenzen

Die einzelnen Hierarchie-Stufen werden in den Unternehmen über die Zuordnung bestimmter, genau definierter Entscheidungskompetenzen definiert.

Die Anzahl der Ebenen wird dadurch gering gehalten, dass die Kompetenz der höheren Ebene ausschließlich die Verantwortung für die Entscheidungen umfasst, die von den nächst unteren Ebene in keinem Fall wahrgenommen werden können. Letzteres ist immer dann der Fall, wenn andere organisatorische Einheiten oder Geschäftsbereiche mit betroffen sind. Es wird also gezielt Verantwortung von oben nach unten verlagert, um die dort vorhandenen Detailkenntnisse effektiv zu nutzen.

Unterstellt wird zudem, dass Abstimmungen zwischen organisatorischen Einheiten, die auf der gleichen Hierarchie-Ebene liegen, in der Regel dort einvernehmlich vorgenommen werden, ohne dass die nächsthöhere Hierarchie-Stufe sich damit als Entscheidungsinstanz zu befassen hat. Organisatorisch ist aber immer sichergestellt, dass zur Klärung von Streitfällen stets eine höhere Instanz angerufen werden kann. Auf Konzernebene ist dies z.B. der Aufsichtsrat.

Die Entscheidungskompetenzen sind in der Kirche hingegen, wenn überhaupt, nur sehr wage definiert. Eine ausgesprochen zentralistische Ausrichtung wehrt sich vehement gegen eine Verlagerung von Verantwortlichkeiten nach unten, erst recht in die Hand von Nicht-Klerikern. Muss wirklich der Personalchef einer Diözese ein Priester sein und nicht doch besser ein ausgewiesener, erfahrener Personalfachmann? Es besteht zudem wenig Hemmung darin, Entscheidungen unterer Hierarchie-Stufen ohne ausdrückliche und nachvollziehbare Begründungen zu „kassieren“.

Nur eine Strukturreform mit der Zielsetzung „so zentral wie nötig, so dezentral wie nur möglich“ mit klar definierten Verantwortlichkeiten kann, wie bei großen Wirtschaftsunternehmen, sicherstellen, dass die Kirche in Zukunft den stets wechselnden spezifischen Situationen vor Ort besser gerecht wird. Wie diese Reform konkret auszusehen hätte, kann nur gemeinsam von allen Beteiligten erarbeitet werden. Die Pastoralbriefe des NT und die Geschichte zeigen, dass bestehende Verwaltungsstrukturen, die sich außerhalb der Kirche bewährt hatten, in der Kirche zur Überwindung von Krisen genutzt wurden. Dies gilt gerade auch für das Machtzentrum der Kirche: „Die Struktur der römischen Kurie hat sich also mit der Zeit verändert. Päpste haben häufig Praktiken weltlicher Regierungen übernommen oder adaptiert“.1  Ein Lernen und ein angepasstes Übernehmen sollten also für die Kirche nichts Neues darstellen.

Hierarchie verlangt nach einer verbindlichen Unternehmensphilosophie

Eine Entscheidung ist nach Wikipedia „eine Wahl zwischen Alternativen oder zwischen mehreren unterschiedlichen Varianten von einem oder mehreren Entscheidungsträgern in Zusammenhang einer sofortigen oder späteren Umsetzung“2. Ausgehend von dieser Definition kommt der Erarbeitung der Alternativen oder Varianten eine besondere Bedeutung zu.

Entscheidungsfähige Alternativen können aber nur erarbeitet werden, wenn verbindlich eine Unternehmensphilosophie, ein Leitbild und klare Handlungsrichtlinien vorliegen, Elemente, die die Corporate Identity eines Unternehmens ausmachen, und die regelmäßig überprüft und fortgeschrieben werden müssen.

Die Unternehmensphilosophie gibt das Selbstverständnis des Unternehmens wieder und definiert den Grund seiner Existenz, also den Geschäftszweck. Sie informiert über Werte, Normen und Rollen, die für das Unternehmen von Bedeutung sind. Das Leitbild als konkrete Umsetzung der Unternehmensphilosophie legt fest, welche Regeln das Handeln im betrieblichen Alltag und den Umgang untereinander bestimmen. Aus dem Leitbild lassen sich schließlich klare Handlungsrichtlinien ableiten, die ein einheitliches Erscheinungsbild nach innen wie nach außen vermitteln.

Thomas Mitschke-Collande fasst dieses Vorgehen wie folgt zusammen: „Große, global agierende Unternehmen haben erkannt, dass die Steuerung ihrer dezentralen internationalen Einheiten erst dann richtig erfolgreich ist, wenn sie nicht auf Zentralismus und strikten Vorgaben beruht, sondern lediglich auf Rahmenrichtlinien und vor allem auf Zielen und Unternehmenswerten, die von allen geteilt werden, nach denen alle ihr Handeln, so unterschiedlich es sein mag, konsequent ausrichten“3.

Ist der „Unternehmenszweck“ als Philosophie des Unternehmens „Kirche“ heute noch sichtbar und für alle, auch für Außenstehende noch verständlich? Hat Verkündigung und Seelsorge in der Kirche, wie von Papst Franciskus gefordert, wirklich die absolute Priorität oder geht es in erster Linie um die Sicherung und Bewahrung bestehender Strukturen und Machtverhältnisse? Wurden die sich aus dem Festhalten an den Zulassungsbedingungen zum Priestertum ergebenden Auswirkungen auf Seelsorge und Verkündigung ernsthaft bedacht und analysiert?

Das Auftreten der Kirche nach außen zeigt zudem mit aller Deutlichkeit, dass kein klares Bild von Kirche als Leitbild vorliegt, aus dem Werte, Normen und Rollen, die für die Kirche von Bedeutung sind, abgeleitet werden könnten. Thomas Mitschke-Collande weist daher zu recht daraufhin, dass die Kirche zuallererst klären muss, von welchen Grundsätzen sie sich leiten lassen will: Kirche als Kirche der Barmherzigkeit oder als Kirche der Normvorschriften für private Lebensführung? Bewahrung der Einheit durch Sicherstellung der Einheitlichkeit oder Akzeptanz vieler unterschiedlicher Vorstellungen? Autoritäre Setzungen oder Schaffung einer angstfreien Dialog-, Debatten- und Streitkultur? Eine dienende, hörende und lernende Kirche oder eine mahnende, lehrende, Gehorsam einfordernde, herrschende Kirche?4

Ein nicht entschiedenes sowohl als auch hilft nicht weiter, weil eine Festlegung auf die Communio – Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums zum Beispiel eine Stärkung der synodalen Strukturelemente zur Folge haben würde, und den Laien wesentlich mehr Verantwortung zu übertragen wären, Dinge, die aber mit dem Kirchenbild der Vergangenheit nicht in Einklang zu bringen sind.

Effiziente Hierarchie-Stufen bedürfen einer offenen Diskussions- und Streitkultur

Unter strikter Beachtung der Corporate Identity des Unternehmens und auf Basis verabschiedeter Business-Pläne, die die Umsetzung der kurz-, mittel- und langfristigen wirtschaftlichen Ergebnisziele beschreiben, werden auf den unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen Alternativen erarbeitet, die dann offen und angstfrei diskutiert und entschieden werden. Um sicherzustellen, dass alle Betroffenen die Entscheidung mittragen und umsetzen, wird in der Regel Einvernehmen, zumindest aber eine breite Zustimmung angestrebt. Diktatorische Entscheidungen sind daher ein seltener Einzelfall. Eine Zuziehung von Fachleuten bei wichtigen Fragestellungen ist eine Selbstverständlichkeit.

Denkverbote existieren grundsätzlich nicht. Kreativität ist geradezu gefragt. Es wird Wert daraufgelegt, dass bei der Erarbeitung der Alternativen die Probleme aus allen möglichen Blickrichtungen analysiert und alle denkbaren Auswirkungen, seien sie positiv oder negativ, aufgeführt werden. Um die Neigung zum „Das haben wir immer so gemacht“ zu durchbrechen, und um den Aufbau „bewahrender“ persönlicher Netzwerke zu verhindern, werden gezielt geeignete Mitarbeiter aus anderen Bereichen oder Externe mit freigewordenen Führungsfunktionen betraut.

Die getroffenen Entscheidungen werden nach ihren Ergebnissen für das Unternehmen bewertet. Gravierende Fehlentscheidungen führen unweigerlich zu personellen Veränderungen. Dies gilt gerade dann, wenn Alternativen einseitig bevorzugt und nicht realistisch dargestellt sondern schön „gefärbt“ wurden.

Werden, aus welchem Grunde auch immer, die budgetierten finanziellen Ergebnisse nicht erreicht, so werden die Benefits der Führungskräfte deutlich reduziert.

Analysiert man unvoreingenommen die Protokolle bestehender Beratungsgremien, z.B. des Priesterrates, so ist von einer Diskussions- und Streitkultur nichts zu erkennen. Auch bei der Festlegung der jährlichen Budgets ist von einer wirklichen Abstimmung keine Rede, was darin zum Ausdruck kommt, dass nicht selten die Finanzwerte erst nach Ablauf des Fiskaljahres den Gemeinden vorliegen. Blinde Zustimmung und kein kritisches Infragestellen wird gelebt.

Eine drastische Änderung dieser Kultur ist zur Bewältigung der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen dringend erforderlich. Klare Handlungsrichtlinien wären zu erarbeiten, die die Verantwortlichkeiten der einzelnen Hierarchie-Ebenen, den Ablauf der Entscheidungsfindung, die Art und Weise der Erarbeitung von Alternativen und die verpflichtende Einbindung von Fachleuten beschreiben. Die damit verbundene Transparenz hätte auch die alleinige Basis für die Ermittlung der Notwendigkeit von Disziplinarmaßnahmen und ihrer Durchführung zu sein.

Markanteile als Maßstab für die Effizienz der Hierarchie-Stufen

Alle Alarmglocken läuten in Unternehmen, wenn Marktanteile verloren gehen, oder das Vertrauen der Kunden in das Unternehmen sinkt. Die Erfahrung zeigt, dass eine Rückgewinnung des Ansehens und eine Wiedereroberung von verloren gegangenen Marktanteilen ungleich schwieriger zu realisieren ist, als ein rechtzeitiges Gegensteuern.

Schrumpfende Mitgliederzahlen und schwindende gesellschaftliche Bedeutung lösen hingegen in der Kirche keine verstärkten Aktivitäten aus. Der Wechsel von jährlich 18 Millionen Katholiken in Brasilien zu den Pfingstkirchen, so die Zeitschrift „Stimmen der Zeit“, weil deren Gemeinden in der Nachbarschaft und ihre Seelsorger direkt erreichbar sind, bereitet erkennbar keine schlaflosen Nächte. Wird nicht der Mut der Pastoralbriefe aufgebracht, bewährte Verwaltungsstrukturen und Entscheidungsabläufe zur Bewältigung der aktuellen Kirchenkrise zu nutzen, und wird weiterhin mit Hilfe einer phantasielosen Bürokratie nur der Untergang verwaltet, werden die Gemeinden bei weiter sinkenden Mitgliederzahlen zu unbedeutenden Minderheiten in einer konfessionslosen, säkularen Gesellschaft werden und damit ihrer Aufgabe, Salz und Licht zu sein, nicht gerecht mehr werden können.

  1. Thomas J. Reese, „den Vatikan reformieren – was Kirche von anderen Institutionen lernen kann“, S. 631, in: Stimmer der Zeit 2008, S. 630-637
  2. Wikipedia, Stichwort “Entscheidung”, Version vom 1. Okotber 2013, 19:50 Uhr, abrufbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Entscheidung
  3. Thomas von Mitschke-Collande: Schafft sich die katholische Kirche ab?, München 2012, S. 161
  4. Vgl. Thomas von Mitschke-Collande: Schafft sich die katholische Kirche ab?, München 2012, S. 144f

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