Praxis

Für meine Enkelkinder

Ihr Lieben,

Euer Opa ist jetzt 77 Jahre alt. Vielleicht auch aus eurer Sicht schon uralt, wer weiß. Aber vielleicht interessiert es euch wenigstens ein bisschen, was der alte Mann euch sagen will.

Als ich geboren wurde, war der letzte große Krieg gerade drei Jahre vorbei. Ich erinnere mich an viele kaputte Häuser. Und wenn gerade mal kein Erwachsener in der Nähe war, machten wir die Trümmer zu unserem Spielplatz. Richtige Spielplätze, so wie Ihr sie kennt, gab’s nicht in der Nähe. Und dann? Dann fing ein Leben an, ohne große Sorgen. Opa und Oma hatten Zeit für uns Kinder, unsere Eltern gingen beide arbeiten. Nicht den ganzen Tag, aber ein paar Stunden waren sie weg. Wir hatten genug zu essen, Oma und Opa hatten einen wunderbaren Garten, wo wir uns austoben konnten. Hühner hatten sie auch, die durften wir füttern. Und dann kamen für mich und für viele, die in meinem Alter sind, viele Jahre ohne große Sorgen. Schöne Wohnung, Ferien meistens in Holland, Geburtstage mit tollen Geschenken, Freunde. Und so ging das weiter.

Irgendwann war ich erwachsen, hatte Arbeit und Familie. Und natürlich meine wunderbaren Kinder und später euch, die Enkelkinder. Nicht nur uns, vielen Menschen ging es gut. Wenn es auf der Erde Krieg gab, war das immer weit weg. Alles in allem eine schöne Zeit, für die ich sehr dankbar bin.

Was ist heute davon noch übrig? Wenig befürchte ich. Viele Menschen haben Not. Nicht genug Geld zum Leben, keinen Platz im Kindergarten, Wohnungen zu teuer, viele sind sauer und böse, dass Menschen aus ärmeren Ländern oder aus Kriegsgebieten zu uns kommen, wo sie in Sicherheit leben und überleben können. Das Vertrauen in die Politiker, die unser Land regieren, bröckelt heftig. Ratlosigkeit und Angst, dass es immer schlimmer kommen könnte, nehmen zu.

So werdet ihr starke Kinder. Und vielleicht Vorbild für die Erwachsenen. Die haben es dringend nötig

Was macht das mit uns? Und was kann man tun, damit es besser wird, damit ihr in einer friedlicheren, bunten, gesunden Welt ohne ständige Sorgen erwachsen werden könnt? Schön wär’s, wenn es dafür ein gutes Rezept gäbe. Gibt’s aber nicht. Kann man also nix tun? Und ihr als Kinder sowieso nicht? Ein bisschen schon, glaube ich, geht auch in eurer Kinderwelt.

In der KiTa und in der Schule nicht immer die ärgern, die schwächer sind oder nicht so schlau. Nach Freundinnen und Freunden suchen, mit denen gemeinsame Zeit Spaß macht. Die dürfen auch ’ne andere Hautfarbe haben. Nicht neidisch werden, wenn andere mit einem teureren Fahrrad unterwegs sind als Ihr. Nicht so viel meckern: Das Essen schmeckt nicht, die blöden Hausaufgaben, ich will aber jetzt fernsehen und nicht ins Bett, warum darf ich keine Süßigkeiten. Zuhören, wenn andere was erzählen wollen, auch den Eltern. Und sogar den LehrerInnen oder ErzieherInnen. So werdet ihr starke Kinder. Und vielleicht Vorbild für die Erwachsenen. Die haben es dringend nötig: In der Politik muss dafür gesorgt werden, dass alle eine Chance auf ein gutes, friedliches Leben haben: Arme und Reiche, Alte und Junge, Einheimische und Zugewanderte, Erwachsene und Kinder. Viele PolitikerInnen aus den verschiedensten Parteien versprechen das. Eure Eltern müssen genau hinschauen, wem sie vertrauen können und wollen. Denn es geht nicht nur um ihr Leben, sondern auch darum, dass ihr eine gute Zukunft habt.

Praxis

Allgemeine Dienstpflicht – ein Mittel gegen autoritäre Tendenzen?

Die Menschenwürde ist das Fundament unserer freiheitlichen Ordnung. Nicht umsonst geht im Grundgesetz die Garantie dieser Würde den Freiheitsrechten voraus. Der unendliche Wert, der dem Menschen zukommt, zeigt sich demnach in seiner umfassenden Selbstbestimmtheit. Man könnte auch sagen: Nur ein selbstbestimmtes Leben ist eines, das dem Menschen würdig ist. Und weil das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit jedem Individuum zukommt, existieren in einer freiheitlichen Gesellschaft viele verschiedene Lebensentwürfe, Interessen und Überzeugungen. Oft genug widersprechen sie einander, was zu Konflikten und Streit führt. So wurzeln die Dissonanzen einer pluralistischen Gesellschaft in der Menschenwürde selbst. Zugleich werden sie jedoch von ihr begrenzt. Denn die freie Selbstentfaltung des Einzelnen bleibt Maßstab auch des Streits. Das bedeutet, dass dieser Streit immer auf den Kompromiss hin orientiert sein muss. Denn nur, wenn sich niemand vollkommen – und auf Kosten aller anderen – durchsetzt, bleibt jedem genug Raum, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Diese Kompromissbereitschaft hat jedoch eine wesentliche Voraussetzung: Der Einzelne muss die Positionen des Gegenübers als legitim anerkennen. Denn nur dann besteht überhaupt die Bereitschaft, in Austausch zu treten und sich auf eine tatsächliche Güterabwägung einzulassen, die ja immer eine Selbstbeschränkung bedeutet. Diese Toleranz fehlt dem autoritären Denken. Stattdessen brandmarkt es bestimmte Existenzformen und deren Artikulation als illegitim und entzieht sich so dem mühevollen politischen Streit. Darin gleichen sich alle autoritären Strömungen. Unterscheiden tun sie sich allein darin, welcher Gruppe sie die Legitimität absprechen. Bei der autoritären Rechten sind es deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund, derer man sich entledigen will, indem man sie „remigriert“. Die identitätspolitische Linke legt entlang von Kriterien wie Hautfarbe und Geschlecht fest, wer zum Kollektiv der Täter gehört. Da die ganze Daseinsweise eines solchen Täters auf der Unterdrückung aller anderen Gruppen beruht, verstetigt seine Meinungsäußerung nur die zu überwindenden Verhältnisse. Er darf daher keinesfalls gehört, sondern muss „gecancelt“ werden. Für den Islamismus schließlich ist eine Debatte mit den Ungläubigen schon deshalb überflüssig, weil deren eingeschränkte Rechte von vorneherein im Koran festgelegt und daher gar nicht verhandelbar sind.

Delegitimierung und Selbstdurchsetzung

Auffällig ist: Alle drei Strömungen wollen gerade jene Gruppen an der Artikulation ihrer Interessen hindern, auf deren Kosten der eigene Lebensentwurf durchgesetzt werden soll. Hier zeigt sich ein Kernaspekt autoritären Denkens, nämlich dessen Nullsummenlogik. Die Visionen der Autoritären – Ethnostaat, woke Gesellschaft und Kalifat – kann es nur ganz oder gar nicht geben. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich die eigene Identität nur dann verwirklichen lässt, wenn eine andere Identität an genau dieser Selbstverwirklichung gehindert wird. Oder anders herum formuliert: Die bloße Existenz einer anderen Lebensform ist eine latente Bedrohung der eigenen Existenz. Dann heißt es: sie oder wir. Jeder Ausgleich wird so zum Verrat an der eigenen Sache. Das wichtigste Forum dieses Ausgleichs, das Parlament, erscheint dann mindestens als Augenwischerei, wenn nicht gar als Machtinstrument des Gegners. Die Verachtung des Parlaments ist dem autoritären Denken geradezu eingeschrieben. Seine Sache ist eben nicht der Kompromiss. Seine Sache ist die uneingeschränkte Selbstdurchsetzung. Die Nullsummenlogik ist die Logik des Bürgerkrieges.

Diese Kompromissbereitschaft hat jedoch eine wesentliche Voraussetzung: Der Einzelne muss die Positionen des Gegenübers als legitim anerkennen.

Drückt sich im Autoritarismus die mangelnde Bereitschaft zum Kompromiss aus, dann steht zu befürchten, dass er dort an Zuspruch gewinnt, wo ein intensiverer Kontakt zwischen Angehörigen verschiedener gesellschaftlicher Milieus nicht mehr stattfindet. Unter solchen Umständen werden die lebensweltlichen Interessen und Probleme des Gegenübers schlicht nicht wahrgenommen. Dadurch kann es – je nach Verteilung der politischen Macht – zu Ausschlüssen und Marginalisierungen kommen, die wiederum trotzige Gegenreaktionen hervorrufen. Die Fronten verhärten sich zunehmend, das Gegenüber wird mehr und mehr zum Zerrbild, seine Positionen verlieren an Legitimität. Spätestens hier haben autoritäre Denkmuster leichtes Spiel.

Entkoppelung der Lebenswelten

Tatsächlich deuten Studien darauf hin, dass der Zusammenhalt in Deutschland unter der Zunahme entkoppelter Lebenswelten leidet. Als besonders segregiert erweisen sich dabei die Netzwerke von Hoch- und Geringgebildeten, Ostdeutschen, Muslimen, Wohlhabenden und Bewohnern ländlicher Räume. Am stärksten ist die Tendenz zur Segregation jedoch im politischen Bereich: Die Hälfte der AfD-Wähler gibt an, dass sich ihr Bekanntenkreis überwiegend aus Gleichgesinnten zusammensetzt. Bei den Grünen sind es sogar 62 Prozent.1

Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass Räume des milieuübergreifenden Austausches zunehmend in die Krise geraten. Die Kirchen unterliegen gleichermaßen einem Mitglieder- und Glaubwürdigkeitsverlust und gehen ihrer integrativen Funktion verlustig. Auch die Zahl der Vereinsneugründungen ist rückläufig. Langfristig ist sogar damit zu rechnen, dass das Vereinswesen in Deutschland schrumpft.2 Besorgniserregend ist das schon deshalb, weil gerade in Vereinen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund gemeinsame Zwecke verfolgen. Sie bauen Vertrauen auf und lernen im direkten Gespräch die Sorgen und Nöte fremder Lebenswelten kennen.

Studien deuten darauf hin, dass der Zusammenhalt in Deutschland unter der Zunahme entkoppelter Lebenswelten leidet.Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass Räume des milieuübergreifenden Austausches zunehmend in die Krise geraten.

Will man die Gesellschaft gegen autoritäre Tendenzen wappnen, so liegt es nahe, bei der Abgrenzung der Lebenswelten anzusetzen. Eine konkrete Antwort auf diese Entwicklung könnte die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Erwachsene sein. Aufgrund der zunehmend komplexen Bedrohungslage, in der wir uns befinden, wurde sie bereits von mehreren Seiten in die Debatte eingebracht – etwa vom Bundespräsidenten oder den Unionsparteien. Auf zweierlei Weise hat sie die Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz zum Ziel. Zum einen soll sie die physische Bewältigung konkreter Bedrohungs- und Notlagen ermöglichen, indem sie entsprechende Kompetenzen vermittelt. Zum anderen – und darauf kommt es in unserem Zusammenhang an – will eine Dienstpflicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, indem sie Menschen aus unterschiedlichen Milieus miteinander in Kontakt bringt.3 Viele Einsatzstellen, die im Rahmen eines Wahlpflichtmodells ausgewählt werden können, sind dabei denkbar: die Bundeswehr ebenso wie Blaulicht- oder zivilgesellschaftliche Organisationen.

Dienstpflicht als Chance

Ob ein solcher Dienst tatsächlich eine Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bewirken könnte, lässt sich mit einem Blick auf die Erkenntnisse der Sozialpsychologie bewerten. Die empirisch gut belegte Kontakthypothese macht deutlich: Damit der Kontakt zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen (= Intergruppenkontakt) zum Abbau von Vorurteilen beitragen kann, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein.4 Diesen Bedingungen entspricht das Konzept einer allgemeinen Dienstpflicht geradezu idealtypisch:

  1. Hohe Intensität. Intergruppenkontakte müssen so häufig, lang andauernd und eng sein, dass daraus echte Bekanntschaften entstehen können. Die Dienstpflicht ist auf ein Jahr angelegt und verlangt eine tägliche Mitarbeit in Organisationen, die in der Regel auf Teamwork angewiesen sind. Statt oberflächlichen Begegnungen sind daher intensive Arbeitsbeziehungen zu erwarten.
  2. Gleicher Status. Innerhalb der Kontaktsituation muss den Beteiligten der gleiche Status zukommen – ansonsten werden lediglich Stereotype reproduziert. Weil im Rahmen einer Dienstpflicht alle jungen Erwachsenen unabhängig von Herkunft, Bildung und politischer Einstellung zu vergleichbaren Aufgaben herangezogen werden, begegnen sie sich auf Augenhöhe.
  3. Gemeinsame Zielorientierung. Vorurteile verlieren dort an Kraft, wo Intergruppenkontakte auf die Erreichung eines gemeinsamen Ziels hin ausgerichtet sind. Eine Dienstpflicht führt zu solcher Kooperation – sei es beim Sandsäcke stapeln in der Hochwasserabwehr, bei der Durchführung von Blutspendeterminen oder in der Kinderbetreuung im Breitensport.
  4. Institutionelle Unterstützung. Die Sozialpsychologie macht sehr deutlich, dass Intergruppenkontakte vor allem dann zu den gewünschten Ergebnissen führen, wenn die institutionellen Rahmenbedingungen zum Austausch ermutigen. Eine allgemeine Dienstpflicht leistet genau das: Sie schafft ein soziales Klima, in dem Begegnungen zwischen unterschiedlichen Milieus erwünscht sind.

All dies deutet darauf hin, dass die Einführung eines Pflichtdienstes tatsächlich geeignet wäre, den gesellschaftlichen Spaltungs- und Segregationstendenzen entgegenzuwirken. Freilich: Der Pflichtaspekt so eines Gesellschaftsjahres scheint erst einmal verdächtig. Ginge es nicht auch auf freiwilliger Basis? Und wäre das nicht sogar wirksamer? Mit Blick auf unsere heutigen Freiwilligendienste lässt sich das bezweifeln. Sie erreichen nur eine ganz bestimmte, weitgehend homogene Klientel. Im Schnitt sind ihre Teilnehmer weiblich, gut gebildet und stammen aus wohlhabenden Familien.5 Legt man nochmal die Kontakthypothese zugrunde, dann sind wesentliche Effekte im Abbau von Vorurteilen daher nicht zu erwarten. Die Stärken der Freiwilligendienste liegen anderswo.

All dies deutet darauf hin, dass die Einführung eines Pflichtdienstes tatsächlich geeignet wäre, den gesellschaftlichen Spaltungs- und Segregationstendenzen entgegenzuwirken.

Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr würde hingegen Orte schaffen, an denen – neben praktischen Fähigkeiten und Gemeinsinn – Toleranz eingeübt wird. Das hat nichts mit übersteigerter Empathie zu tun. Toleranz bedeutet lediglich, sich den Zumutungen einer pluralen Lebenswelt gewachsen zu zeigen.6 Im Rahmen einer Dienstpflicht erhalten fremde Milieus, Lebensentwürfe, Interessen und Überzeugungen plötzlich Stimme und Gesicht. Sie können daher nicht mehr so einfach zurückgewiesen werden. Zwar bleibt ihr gesellschaftliches Konfliktpotenzial weiterhin bestehen – aber die Chancen sind größer, dass es sich in den Bahnen politischer Kompromissfindung entlädt. Fernab davon, Harmonie zu erzeugen, würde eine Dienstpflicht also die Fundamente des demokratischen Streits festigen. Das wäre ihr Beitrag zu einem menschenwürdigen Dasein.

Praxis

Wie wir morgen leben wollen. Alternativen gesellschaftlicher Entwicklungspfade

Auf der Suche nach der Zukunft unserer Gesellschaften und bei der Frage, welches Gesellschaftsmodell unsere Lebenswirklichkeiten morgen prägen wird, scheint der Blick in die Glaskugel verführerisch. Er wäre aber unklug, denn es könnte in der Kristallkugel der Eindruck entstehen, als seien die Würfel für die Zukunft bereits gefallen, als seien die Eigenschaften des Gesellschaftsmodells von morgen schon festgelegt durch die Entwicklungen von gestern. Dieser Eindruck ist unbedingt zu vermeiden, gerade in einer Zeit, in der das Gefühl der Ohnmacht sich wie ein schleichendes Gift verbreitet und Luisa Neubauer mit ihrer Oma so energisch gegen die Mutlosigkeit anschreiben muss wie Papst Franziskus. Die eigene Fähigkeit, den Verheerungen und Verrohungen unserer Gesellschaften etwas entgegenzusetzen, wird notorisch klein geschätzt, und die Zuversicht schwindet, dass sich die Populisten noch aufhalten lassen bei ihrem offenkundig planvollen Zerstören unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung.

Besser als der Blick in die Glaskugel ist nach meinem Empfinden der Blick in Steffen Maus voluminöse Studie über „Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“, die er unter dem Titel „Triggerpunkte“ zusammen mit Thomas Lux und Linus Westheuser 2023 veröffentlicht hat. Am besten scheint es mir, mit Seite acht zu beginnen. Überraschend in einem Buch, das sonst von Text und Tabellen bestimmt wird, illustrieren Schattenrisse eines Kamels und eines Dromedars den Anfang des Buches und zeigen, welche Gesellschaftsmodelle in Gegenwart und Zukunft zur Auswahl stehen: auf der einen Seite die Kamelgesellschaft, die von immer tieferen Gräben zwischen sozialen Klassen geprägt ist, auf der anderen Seite die Dromedargesellschaft, in der eine breite gesellschaftliche Mitte ähnliche Werte und Einstellungen teilt. „This is not America“ beginnt wenige Seiten später ein Kapitel, in dem Mau und seine Co-Autoren die Realität der amerikanischen Kamel-Gesellschaft messerscharf analysieren. Im Trump-Land haben über Jahre Zweiparteiensystem und Mehrheitswahlrecht eine soziale Sortierung begünstigt, innerhalb derer politische Parteineigungen zu „Mega-Identitäten“ avanciert sind. Um sie herum formen sich jeweils exkludierende Einstellungsringe, die in den letzten Jahren zunehmend religiös aufgeladen und von extrem konservativen Katholiken ebenso wie von Evangelikalen befeuert worden sind. Indem es den Rechten gelang, den Hass der Mittelschicht auf die vermeintlich den Fleiß der Anständigen ausbeutenden Migranten und sonstige „Andere“ zu schüren, gleichzeitig die Reichen immer reicher werden zu lassen, wurden toxische Entwicklungen beschleunigt, die die Chancen auf Überwindung der republikanischen Gräben längst zunichtemachten.

„This ist not America“, schreibt Mau zurecht über Europa. Das, was sich in den USA zurzeit beobachten lässt, ist eben nicht automatisch die Blaupause für das Gesellschaftsmodell Europas von morgen, auch wenn unbestreitbar in der Vergangenheit die US-amerikanischen Entwicklungen eine hohe Vorbildfunktion für die Gesellschaftsentwicklung Europas hatten. Das ließ sich besonders bei der weiter anhaltenden Entwicklung hin zu einer omnipräsenten Informationsgesellschaft beobachten – die technologische Entwicklung in den USA war der Treiber all der Dynamiken, die sich in den letzten Jahren als wesentliche Einflussfaktoren auf unser Gesellschaftsmodell erwiesen haben. Digitalisierung und Plattformisierung haben nicht nur die Wirtschaft, sondern das gesellschaftliche Miteinander insgesamt so wesentlich umgekrempelt, dass fast alle offensichtlichen Veränderungen auf diese Faktoren zurückzuführen sind: Singularisierung, Beschleunigung, Vereinsamung, Verrohung …

Auf der einen Seite die Kamelgesellschaft, die von immer tieferen Gräben zwischen sozialen Klassen geprägt ist, auf der anderen Seite die Dromedargesellschaft, in der eine breite gesellschaftliche Mitte ähnliche Werte und Einstellungen teilt.

Wenn wir wollen, dass das Gesellschaftsmodell der Zukunft in Europa der Dromedar-Gesellschaft Maus halbwegs ähnelt und nicht der Kamel-Gesellschaft Trumps, müssen heute die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Eine wesentliche Rolle kommt dabei den Christen und Christinnen zu, Menschen, die auf die soziale Macht des Christlichen vertrauen und die den kulturellen Mehrwert, den die auf christliche Werte gegründete Sozialordnung erzeugt, verteidigen wollen. Gegen eine religiös aufgeheizte Polarisierung in den USA muss in Europa eine religiös abgekühlte Anstrengung der Verständigung unternommen werden. Die Wettbewerbsökumene, die Deutschland seit über 100 Jahren prägt, bietet dafür gute Voraussetzungen. Katholische und evangelische Kirche können in der Art, wie sie gemeinsam und getrennt den samaritanischen Auftrag des Christentums ernst nehmen, wesentliche Weichenstellungen vornehmen. Diakonie und Caritas stehen hier als die beiden großen konfessionellen Wohlfahrtsverbände in besonderer Verantwortung. Mit ihren Programmen und konkreten Leistungen können sie dazu beitragen, dass Konsens nicht in Dissens umschlägt, dass Konflikte nicht vergiftend emotionalisiert werden und dass sich in den Ungleichheitsarenen die Spaltungen weniger vertiefen.

Die vier Ungleichheits-Arenen, die Mau benennt – die sozioökonomischen Verteilungskonflikte (Oben-Unten-Ungleichheiten), die Kontroversen um Migration und Integration (Innen-Außen-Ungleichheiten), identitätspolitische Anerkennungskonflikte (Wir-Sie-Ungleichheiten) und die auf Generationengerechtigkeit zielenden Umweltfragen (Heute-Morgen-Ungleichheiten) sind alle vier geeignet, von den Kirchen und den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden „erobert“ zu werden. Die Bibel steckt voller Tipps, dass und wie der Aufladung der Exklusionen Zuspruch zu Inklusion und tätige Nächstenliebe entgegenzusetzen ist. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist dazu die bekannteste Geschichte: Unabhängig von unübersehbaren religiösen und ethnischen Unterschieden übernimmt der Samariter Verantwortung für den am Wegesrand Niedergeschlagenen, macht sich die Hände schmutzig, belastet seinen Esel, investiert Geld für die weitere Versorgung – ohne jede begründete Erwartung auf Dank oder Gegenleistung. Die zweite Geschichte, die als Quelle für den Glauben an zukünftige solidarische Gesellschaftsmodelle dienen kann und sollte, ist die Erzählung von der wunderbaren Brotvermehrung. Ihre schlichte Botschaft lautet: Wer teilt, hat mehr. Das ist eins zu eins die Gegenerzählung gegen das, was die religiös geharnischten Fundamentalisten in den USA vor sich hertragen: Dein Gewinn ist mein Verlust. Wer für sich und seine Familie, seine Nation sorgen will, muss verhindern, dass andere mehr erhalten, muss aufhören zu teilen, so ihr Mantra, das sie christlich dekorieren, ohne es christlich begründen zu können.

Gerade bei der Klimafrage als lebensentscheidender Zukunftsfrage wird der Immunisierung der Gesellschaft gegen Vergiftungen durch eine Sozialreligion tätiger Nächstenliebe eine besondere Bedeutung zuwachsen.

Gerade in Bezug auf die „Heute-Morgen-Arena“ in Maus Triggerpunkten ist das Vertrauen auf die Kraft des Teilens unübertroffen ermutigend; gerade bei der Klimafrage als lebensentscheidender Zukunftsfrage wird der Immunisierung der Gesellschaft gegen Vergiftungen durch eine Sozialreligion tätiger Nächstenliebe eine besondere Bedeutung zuwachsen. Die Klimafrage ist die Klassenfrage im Werden schlechthin und das unter vier Vorzeichen (Mau et al. 2023, 220): 1. Der menschengemachte Klimawandel ist in vollständig unterschiedlichem Ausmaß von Arm und Reich verursacht – die heute Reichen hinterlassen den ökologischen Riesenfußabdruck, der die Erde unter sich zerdrückt. 2. Die Folgen des menschengemachten Klimawandels müssen vor allem von den Armen getragen werden, sie haben weder Geld noch Kapazität, um sich vor den existenzbedrohenden Auswirkungen des Klimawandels wirksam zu schützen. 3. Die Anpassungen an die ökologische Transformation führen zu (politischen) Entscheidungen, die die Lebenswirklichkeit der unteren Einkommensgruppen stärker beschneiden als die der Reichen. 4. In den „symbolischen“ Verteilungskämpfen um Status und Geltung spielen die sichtbaren Möglichkeiten, „nachhaltige“ Lebensstile zu realisieren, eine immer größere Rolle. Wer sich bewusst für vegane Ernährung entscheidet, klassifiziert sich als zur überlegenen Gesellschaftsschicht gehörig – und die Grillwurst wird zur stillen, aber leicht entzündbaren Gegenwehr der Otto-Normalos. Längst bedienen Populisten den symbolischen Klassenkampf: Der politische Kampf um die Mitte wird mit der Currywurst geführt – sehenden Auges die Gefahr in Kauf nehmend, dass der polarisierende Kampf genau die gesellschaftliche Mitte zerstört, von der die um sie werbenden Parteien leben.

Das Gesellschaftsmodell der Zukunft möge die Dromedar-Gesellschaft sein! Mit Menschen, die teilen, mit einer Wirtschaftsordnung der Gemeinwohlorientierung.

Das Gesellschaftsmodell der Zukunft möge die Dromedar-Gesellschaft sein! Mit Menschen, die teilen, mit einer Wirtschaftsordnung der Gemeinwohlorientierung. Elinor Ostrom hat ein Forscherinnenleben lang zusammengetragen, dass und wie es geht: Die Allmende ist eine Wirtschaftsform, die funktioniert! Die Güter dieser Erde sind gemeinsam zu bewirtschaften, solange ein paar Spielregeln beachtet werden. Es braucht Vertrauen in die „Mitspieler“, Einsicht in die Begrenztheit der Ressourcen, Überzeugung davon, dass alle mehr haben, wenn sich nicht einzelne zulasten der Allgemeinheit bereichern … Die Sehnsucht nach einer solchen Gesellschaft und die Wertegrundlagen der sie stabilisierenden Regeln profitieren von einem Christentum der tätigen Nächstenliebe, und Laudato si’, die zweite Enzyklika von Papst Franziskus, bleibt dafür eine wesentliche Inspiration. Franziskus führt uns vor Augen, wie sehr „die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesellschaft und der innere Friede untrennbar miteinander verbunden sind“ (LS 10). Und er ist zuversichtlich, dass, wenn wir uns „allem, was existiert, innerlich verbunden fühlen, … Genügsamkeit und Fürsorge von selbst aufkommen [werden]“ (LS 11). Die Haltungen aber, welche vielfältig „selbst unter Gläubigen – die Lösungswege blockieren, reichen von der Leugnung des Problems bis zur Gleichgültigkeit, zur bequemen Resignation oder zum blinden Vertrauen auf die technischen Lösungen“ (LS 14). Die Gesellschaft von morgen hingegen braucht Zukunftsmut: unsere tätige Solidarität heute für morgen.

Praxis

Gesucht: kompromissbereite Heilige

„Wenn ihr heute ein wenig Zeit habt, dann nehmt die Bibel, das zweite Buch der Makkabäer, Kapitel sechs, und lest diese Geschichte von Eleasar. Das wird euch gut tun. Es wird euch Mut machen, für alle ein Beispiel zu sein und es wird euch auch Kraft geben und eine Hilfe sein, um die christliche Identität voranzutragen – ohne Kompromisse, ohne ein Doppelleben.“7 Mit diesem flammenden Appell endet eine Predigt von Papst Franziskus über den „angesehensten Schriftgelehrten Eleasar, ein Mann von hohen Alter und sehr edlen Gesichtszügen“ (2 Makk 6,18), der lieber den gewaltsamen Tod in Kauf nahm, als Schweinefleisch zu essen. Für Papst Franziskus ist klar. „Man darf sich nicht vom Geist der Welt schwächen lassen und soll das eigene Christ-Sein konsequent leben, ohne schwach zu werden und ohne Kompromisse einzugehen.“8 Auch die Kölner Stadtpatron*innen Ursula und Gereon werden dafür verehrt, konsequent und ohne Kompromisse ihrer Überzeugung treu geblieben zu sein. Wie alle anderen Heiligen dienen sie als Vorbilder für die Gläubigen, weil die „Kirche feierlich erklärt, dass diese die Tugenden heldenhaft geübt“9 haben und deshalb in der Allerheiligenlitanei um Hilfe angerufen werden können. Ich habe noch keinen Heiligen, keine Heilige gefunden, die ich nicht wegen ihrer Kompromisslosigkeit, sondern im Gegenteil wegen ihrer Kompromissbereitschaft und -fähigkeit anrufen könnte. Ich möchte eine Kerze vor einer Heiligenfigur anzünden, die die Kultur des Kompromisses verkörpert. Solche Vorbilder brauchen wir angesichts der gesellschaftlichen Polarisierungen und Verwerfungen.

Ein Kompromiss bringt dir selten Ruhm ein. Schon in der Bibel lautet ein Vorwurf „Du bist weder kalt noch heiß“ (Offb 3,15). Mittelmäßig, charakterschwach, inkonsequent – so werden Menschen gescholten, die einen Kompromiss ausgehandelt haben. „In der Politik gilt zur Schau getragene Kompromiss­losigkeit als Ausweis moralischer Prinzipien­festigkeit.“10 Vielleicht auch deshalb hat Friedrich Merz das „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ im Bundestag mit der Haltung „keine Kompromisse“ zur Abstimmung gestellt. Lieber nahm er die Stimmen der AfD in Kauf, als eine gemeinsame Mehrheit mit SPD und Grünen zu suchen.

Ich möchte eine Kerze vor einer Heiligenfigur anzünden, die die Kultur des Kompromisses verkörpert. Solche Vorbilder brauchen wir angesichts der gesellschaftlichen Polarisierungen und Verwerfungen.

Auch in der Diskussion zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde Kompromiss zum Unwort. Als Jürgen Habermas neben den militärischen Optionen für „ein öffentliches Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen“ sowie für die Suche nach „erträglichen Kompromissen“ plädierte, erntete er massive Kritik.

Zugegeben: Es gibt gute Gründe, auf die Kompromisslosigkeit ein Loblied zu singen. „Zahlreiche große soziale Veränderungen wie die Abschaffung der Sklaverei, die Einführung des Frauenwahlrechts oder der gleichgeschlechtlichen Ehe, aber auch wissenschaftliche Fortschritte oder große Kunstwerke sind durch Männer und Frauen möglich geworden, die sich kompromisslos für eine Sache eingesetzt haben, die sie um jeden Preis vorantreiben wollten.“11 Dabei darf nicht übersehen werden, dass die meisten Reformen letztlich nur durch Kompromisse erreicht werden konnten. Ein Beispiel dafür ist der Atomausstieg, den die Grünen mit ihrem Markenkern „Atomkraft – Nein Danke“ in Regierungsverantwortung durchsetzen konnten. Die lang ersehnte Abschaltung des letzten Atomkraftwerks konnte erst nach einer Laufzeitverlängerung erfolgen, der die Ökopartei schweren Herzens zustimmte. Solche Kompromisse sind, wie so viele in der Politik, strategischer Natur. Ich lasse mich auf ein Verhandlungsergebnis ein, auch wenn es meinen eigenen Überzeugungen widerspricht. Nicht selten hängt deshalb ein „wohl oder übel“-Schild an einer solchen Vereinbarung. Pragmatismus schlägt Idealismus. Wie wäre es, wenn wir den Kompromiss als geeignetes Instrument, wenn nicht sogar als Ideal betrachten, um in einer Gesellschaft, die nicht zuletzt durch ihre zunehmende Spaltung in vielen Reformvorhaben blockiert ist, wieder Lösungen für die Zukunft zu entwickeln?

Der Kompromiss bietet sich gerade in einer durch Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaft als Alternative an, denn im Gegensatz zum Konsens verlangt er nicht die Preisgabe der eigenen Position.

Die Politische Theorie unterscheidet zwischen Konsens und Kompromiss. Ein Konsens ist dadurch gekennzeichnet, dass unterschiedliche Parteien zu einer gemeinsamen Überzeugung gelangen und diese teilen. Unterschiedliche Einstellungen und Meinungen werden zugunsten einer gemeinsamen Position aufgegeben. Aus Verschiedenheit wird Einheit – ut omnes unum sint (Joh 17,21). In einer pluralistischen Gesellschaft mit einer Vielzahl religiöser und säkularer Überzeugungen ist dieser Einheitsoptimismus kaum geboten. Zu groß sind die Differenzen entlang, aber auch innerhalb der Grenzen von Religionsgemeinschaften, Parteien und Verbänden. Konsens ist angesichts einer multikulturellen Gegenwart weder realisierbar noch erwartbar. Was auf den ersten Blick als Defizit markiert werden kann, erweist sich beim zweiten Blick als Chance. Der Kompromiss bietet sich gerade in einer durch Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaft als Alternative an, denn im Gegensatz zum Konsens verlangt er nicht die Preisgabe der eigenen Position. Beim Atomkompromiss konnten die Grünen ihren „Atomkraft – Nein Danke“ Button am Revers lassen und deshalb einer Laufzeitverlängerung zustimmen.

Ein Kompromiss liegt vor, wenn „beteiligte Parteien das Ziel ihrer Handlung oder ihre Handlung selbst im Hinblick auf divergierende und unversöhnliche Überzeugungen in einer für alle Parteien annehmbaren, aber von keiner als optimal angesehenen Richtung modifizieren.“12 Kompromisse zeichnen sich also dadurch aus, dass eine Entscheidung akzeptiert wird, die für die Beteiligten eigentlich nicht akzeptabel ist. Sie tun dies, weil das Verhandlungsergebnis die Chance bietet, dass zumindest wichtige Aspekte der eigenen Position Teil der Lösung werden. Diese Möglichkeit bietet eine Entscheidungsfindung durch Abstimmung nicht. Hier gilt: The winner takes it all. Der Verlierer findet sich im Ergebnis im Gegensatz zum ausgehandelten Kompromiss nicht wieder.

Der Kompromiss ist weit mehr als ein strategisches Instrument zur Durchsetzung eigener Positionen, denn er ist getragen von dem Grundsatz, dass auch die Positionen, die mir fremd sind, wichtig sind und es gute Gründe gibt, ihnen entgegenzukommen.

Neben der Möglichkeit, eigene Überzeugungen in die Lösung zu integrieren, erfordert der Prozess der Kompromissfindung eine Bereitschaft, nämlich die, sich mit den Positionen des Gegenübers auseinanderzusetzen. Ich bin in der Lage, meine eigenen Überzeugungen ins Spiel zu bringen, aber gleichzeitig gezwungen, mich mit den Positionen des Verhandlungspartners auseinanderzusetzen, und sie zu berücksichtigen.

An dieser Stelle kommt der Konsens wieder ins Spiel, denn die Kompromissfindung basiert auf der gemeinsamen Überzeugung, dass die unterschiedlichen Standpunkte, die zur Diskussion stehen, relevant und gleichzeitig verhandelbar sind. Wenn ich mich auf den Prozess der Kompromissfindung einlasse, vertraue ich darauf, dass auch die anderen Beteiligten sich ihre Gedanken gemacht haben. Deshalb ist der Kompromiss weit mehr als ein strategisches Instrument zur Durchsetzung eigener Positionen, denn er ist getragen von dem Grundsatz, dass auch die Positionen, die mir fremd sind, wichtig sind und es gute Gründe gibt, ihnen entgegenzukommen. Die Anerkennung des anderen ist notwendige Bedingung für den Kompromiss.13 Daher sind Gewalt(androhung) und Zwang bei der Kompromissfindung ausgeschlossen. Ebenso dürfen Kompromisse nicht auf Kosten Unbeteiligter geschlossen werden. „Faul sind Kompromisse auf dem Gebiet der Menschen­rechte, weil die Leidtragenden ihnen niemals zustimmen könnten.“14

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beginnt mit einem Plädoyer für den Kompromiss. Am 8. Mai 1949 hielt Konrad Adenauer nach der Schlussabstimmung über das Grundgesetz als Präsident des Parlamentarischen Rates eine Rede. Darin sagte er „Wir haben einen Kompromiss geschlossen. … Jeder Kompromiss hat Fehler und Mängel. Aber ein Kompromiss hat auch einen großen Vorteil. Er lehrt die Parteien, die so gezwungen waren, miteinander zu arbeiten, auch im politischen Gegner den überzeugten, den ehrlichen Gegner zu schätzen.“15 Die Bereitschaft zum Kompromiss zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Bundesrepublik. Sie als Ressource neu zu entdecken, würde uns als Gesellschaft guttun. Vielleicht kann Papst Leo XIV. bei zukünftigen Heiligsprechungen die Kompromissfähigkeit als Tugend berücksichtigen. Für ihn als Augustiner-Mönch gäbe es sogar die passende Gaststätte dazu.

Augustinerbräu München Kompromiss

 

Praxis

Mehr als eine franziskanische Mode

Synodalität leben lernen

Wir leben in einer polarisierten und stets kampfbereiten Gesellschaft. Meinungsbildung über Gegnerschaft bis hin zur Feindschaft – das ist seit den spaltenden Diskussionen in der Coronazeit  gesellschaftlicher Normalzustand geworden. Wir sind auf dem Weg in eine andere Gesellschaftskonstellation, und immer weniger gelingt es zur Zeit, Meinungsbildungsprozesse sinnstiftend zu gestalten.

Dieser Zeitgeist wirkt sich auch in der Kirche aus. Auch wenn es in Deutschland seit Jahren einen synodalen Weg gibt, wirkte in der Außenwahrnehmung dieser Meinungsbildungsprozess eher wie eine Kopie der derzeitigen gesellschaftlichen Diskussionskultur: abschreckend und frustrierend. Das ist nicht die ganze Wahrheit, denn vor allem in nicht-öffentlichen Teilgruppen fand ein intensiver und geistvoller Austausch statt. Aber leider – und das gehört auch zur Wahrheit – blieb der ganze Diskussionsvorgang den meisten auch engagierten Katholikinnen und Katholiken vor Ort merkwürdig fremd oder sogar unbekannt.

Ein langer Weg zur Synodalität

Dieser Modus der Konsultation war neu – und spannend: Denn es gilt ja, die Betroffenen in das Spiel der Entscheidungsfindung zu holen – den gemeinsamen Glaubenssinn des Gottesvolkes ins Licht zu rücken.

Spätestens seit 2015 hat mit Papst Franziskus eine neue Wahrnehmung und Ernstnahme des synodalen Handelns in der katholischen Kirche begonnen: Die Familiensynode brachte eine erste Neuheit, die hier in Deutschland, aber nicht nur hier,  überrascht hat. Ein erster Schritt der Synodalität sollte das Hinhören, das Konsultieren sein: Was denken die Christinnen und Christen vor Ort, in den Ortskirchen, über die Familie und die damit verknüpften Fragen? Ich erinnerte mich, dass diese konkrete Nachfrage erst sehr spät ernst genommen wurde in unseren Ortskirchen. Man dachte bislang, dass in jedem Bistum eine Fachgruppe die Fragen bearbeitet, die dann ohnehin in einem Gesamtdokument „untergeht“. Diesmal war es anders – es war herausfordernd und zugleich spannend, die Meinungen und Impulse der Christinnen und Christen einzuholen und auszuwerten. Dieser Modus der Konsultation war neu – und spannend: Denn es gilt ja, die Betroffenen in das Spiel der Entscheidungsfindung zu holen – den gemeinsamen Glaubenssinn des Gottesvolkes ins Licht zu rücken. Spannend war auch, dass die Synode in zwei Episoden über zwei Jahre stattfand: Offensichtlich ging es wirklich um Meinungsbildung! Und das päpstliche Schlussdokument der Synode machte deutlich, dass diese Meinungsbildung provozieren kann, ja sogar als Provokation empfunden werden kann.

Ein nächster Schritt, die Amazonassynode, machte deutlich, in welche Richtung die Beratungskultur sich entwickelt. Erstmals veröffentlichte der Papst kein eigenes Schlussdokument, sondern machte sich das Schlussdokument zu eigen, um eigene Bemerkungen anzufügen. Es wurde aber auch deutlich, dass auch in der Kirche Positionen unversöhnlich und zunehmend denunzierender sich gegenüberstehen. Die Bischofssynoden brauchten dringend ein methodisches Update, um nicht im Gegenüber der Meinungen stecken zu bleiben.

Impulse verpasst!

Man kann nur überrascht sein, wie wenig wir hier in Deutschland von dem weltsynodalen Prozess mitbekommen haben. Durchaus verständlich war die Kirche in Deutschland mit dem synodalen Weg beschäftigt. Aber wir haben etwas verpasst.

Verpasst haben wir eine Erfahrung der Synode selbst. Mich hat sehr beeindruckt, von Synodenteilnehmenden die Dynamik des Zuhörens erzählt zu bekommen. Echtes einander Zuhören zu inszenieren, indem jeder erstmal eine bestimmte Zeit erhält, in der er sprechen darf und die anderen zuhören sollen. Zeit zu schweigen, um zu verarbeiten, was gehört wurde – und schließlich in einer zweiten Runde wiederzugeben, was man von anderen gehört hat: Das wirkt etwas formalisiert, aber ist faszinierend, wenn man es ausprobiert. Denn hier wird deutlich, dass ein Meinungsbildungsprozess in Gang kommt, der alle Meinungen, Impulse und Gedanken aufnimmt ohne sie zu werten – und auf das gemeinsame Entdecken einer Wahrheit zielt, die kein Gesprächspartner vorher in den Blick genommen hatte.

Wahrheit ereignet sich im Zwischen, in der echten Beziehung, die kenotisch gelebt wird – im radikalen Hinhören, das das Eigene loslässt und radikal aufnimmt, was der Gesprächspartner sagt. Das ändert das „Sagen“ wie das „Hören“ und ermöglicht die Geburt einer neuen Wirklichkeit.

Das ist ja auch theologisch eine Provokation: Wahrheit ereignet sich im Zwischen, in der echten Beziehung, die kenotisch gelebt wird – im radikalen Hinhören, das das Eigene loslässt und radikal aufnimmt, was der Gesprächspartner sagt. Das ändert das „Sagen“ wie das „Hören“ und ermöglicht die Geburt einer neuen Wirklichkeit. Dass diese Übung nicht „einfach so“ gelingen kann und auch bei der Synode nicht immer gelungen ist, macht deutlich, dass synodales Handeln nicht einfach eine Technik ist oder eine Methode, sondern eine Haltung und eine Kultur, die eingeübt werden muss. Darum geht es eigentlich – um eine Kultur, in der die Haltung des Evangeliums aufstrahlt: ein Leben aus der Kraft der Liebe, die ein Miteinander ermöglicht, das die Gleichwürdigkeit aller voraussetzt: Nur hier emergiert Wahrheit, nur hier zeigt sich die Orientierung und Wegrichtung des Lebens.

Der weltsynodale Prozess rückt aber noch eine weitere Perspektive in den Mittelpunkt, die mit einer Grundhaltung zu tun hat. Es gilt immer, den Raum zu weiten, um alle Menschen zur Mitwirkung einzuladen. Mich hat die Logik der Konsultation schon bei der Familiensynode bewegt, aber gerade auch der weltweite synodale Prozess setzte direkt vor Ort an. Es ging darum, beim Hören auf „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ gerade auch jene einzubeziehen, die nicht zum inneren Kern der Kirche gehören. Das Hören auf die Bedarfe, Fragen und Wünsche der Armen, der „Anderen“ geriet ins Zentrum. Und das ist nicht nur deswegen spannend, weil es die Umsetzung der in der Konzilkonstitution „Gaudium et spes“ benannten Selbstbeschreibung der Christen ist, sondern weil hier auch deutlich wird, dass es in der Frage der Zukunftsentwicklung kirchlichen Lebens nicht um den Selbsterhalt geht, sondern um eine radikale Infragestellung, indem die Sendung, das Evangelium allen zu bezeugen, in einer Haltung des radikalen Interesses am Leben der Anderen geschieht – und eben nicht an einem Interesse am Erhalt der Institution. Oder jesuanisch: Nur in der Hingabe sind wir wir selbst.

Mich hat deswegen unglaublich beeindruckt, wie manche Ortskirchen etwa in den Philippinen in der Rezeption des synodalen Handelns diese Ideen der Konsultation vertieft haben. Beim Nachdenken über eine Zukunftsstrategie der Diözese war eine der ersten methodischen Fragen, welche Gruppen bislang nicht in den Blick gekommen seien. Die sind zu befragen! Über dreißig Gruppen von Personen kamen in den Blick …

Dennoch bleiben auch bei den Impulsen der Weltsynode noch Fragen offen: Wie findet man bei gegensätzlichen Fragestellungen gemeinsame Lösungen? Wie kann entschieden werden – oder muss bei bleibender Uneinigkeit und Erkenntnisdifferenz die Entscheidung verschoben werden? So sehr das „decision making“ überzeugt – das „decision taking“ bleibt fragil.

Impulse verpasst?

 Man kann es nicht leugnen, wir haben die Impulse der weltkirchlich-synodalen Bemühung bislang kaum aufgenommen. Das ist bedauerlich und wirklich ein Verlust, weil wir mit der Praxis der  Synodalität einen wichtigen Schritt gehen könnten im Blick auf eine Kirche, in der das Volk Gottes wirklich Subjekt ihres geistgewirkten Weges werden könnte. Es ist Zeit zu beginnen.

Aber: Je länger ich über die faszinierende Perspektive synodaler Praxis nachdenke, erinnere ich mich an Erfahrungen, die für mich in Verbindung mit einer Kultur der Synodalität stehen und die darunter verborgene Ekklesiologie des Volkes Gottes, den gemeinsamen sensus fidelium zum Ausdruck bringen können.

Am Ende einer Reihe von Workshops, die ich zusammen mit Valentin Dessoy in der Diözese Graz gestalten konnte, bot Valentin Dessoy als Methode für die Schlussreflexion das „Circle Work“16 an.  In einem Kreis mit allen Teilnehmenden konnte sich ein offenes Gespräch entwickeln, in dem jeder und jede eingreifen konnte – ohne jeweils zu kommentieren, mit Phase der Stille, mit unterschiedlichen Themen. Ich habe es jedes Mal als tief spirituellen Reflexionsmoment erlebt: Das Hinhören, die Offenheit für alle Beiträge und das vorsichtige Anknüpfen an Themen und Positionen der Vorredner machten diese Runden zu beeindruckenden Reflexionsereignissen. Den Raum dieses Kreises offen zu halten, das ist die Kunst des Begleiters hier – und auf diese Weise wurde ein roter Faden sichtbar, der durch die Beiträge der Teilnehmenden freigelegt wurde. Neue Erkenntnisse wurden generiert – und auf mich wirkt das wie eine Übung im synodalen Hören und Reden.

In ähnlicher Weise habe ich dies in den vergangenen Jahren erlebt im Zusammenhang „denkender Runden“. Diese Methode17 ermöglicht es, dass jeder und jede seinen Beitrag einbringen kann, ohne kommentiert zu werden und in Diskussionen zu geraten. Bei Reflexionsrunden des Priesterrats habe ich selbst ausprobiert, wie sich eine solche Methode auswirkt. Der Austausch über die Erfahrungen einer Sitzung, die Tagesreflexion im Kontext von Exposurereisen – immer entstand in einer solchen Runde, die der Reihe nach jeden einlud, seine Perspektive zu veröffentlichen, ein Erkenntnisgewinn und eine völlig andere Atmosphäre: Auch wenn die Erfahrungen und Erkenntnisse sehr unterschiedlich waren, war die Atmosphäre deutlich kreativ und inspirierend.

Und es gab einen deutlichen Erkenntnisgewinn, den wir allerdings nicht gehoben haben: Hätten wir nach einem Moment des Schweigens in einer zweiten Runde die Erkenntnisse gesammelt, hätten wir eine synodale Erfahrung gemacht.

Spannend ist aber auch, wie sehr in vielen Prozessen der Kirchenentwicklung sozialräumliche Erkundungen und Interviews mit Menschen aus dem Sozialraum eingeübt werden. Eine Kirche, die sich neu auf die Zukunft ausrichtet, ist herausgefordert, in den Lebenskontexten der Menschen nachzufragen, was diese Zeitgenossen von Kirche und den Christen in ihrem Umfeld erwarten. Die Erfahrungen solchen sozialräumlichen Suchens sind beeindruckend, weil hier ein doppelter Erkenntnisgewinn zu verzeichnen ist. Viele Gemeinden entdecken hier erstmals, wie hoch die Erwartungen sind und mit welch großer Wertschätzung auch in unserer Zeit Erwartungen an die Christen vor Ort gerichtet werden: von wegen Bedeutungslosigkeit. Auf der anderen Seite wirkt eine solche Konsultation des Umfeldes belebend: Es löst die Binnenorientierung vieler kirchlicher Gemeinden auf und öffnet sie auf die Lebenswelt – gelebte Sendung also, die ja schon in sozialen Einrichtungen wie Kindertagesstätten und Familienbildungsstätten selbstverständlich gelebt wird und sie heute zu wichtigen und zuweilen wichtigsten Orten kirchlichen Handelns macht.

Eine letzte Erfahrung erzähle ich vom letzten Studientag meines Arbeitsbereichs im Bistum Hildesheim: Im Nachdenken über strategische Prozesse in unserem Bistum haben wir synodale Hörrunden eingebaut. Die Kolleginnen und Kollegen, die vorher dieses methodische Vorgehen nicht kannten, waren sehr beeindruckt – und schätzten die spirituelle Tiefe dieses Weges.

Hier wird deutlich, dass im deutschsprachigen Kontext Methoden und Wege eingeübt sind oder werden können, die aus dem Kontext der kirchlichen Organisationsentwicklung stammen. Sie haben in sich die Grundarchitektur der Synodalität – es ist eine spirituelle Grundarchitektur, denn sie nimmt die Wirklichkeit ernst, die wir Evangelium nennen.

Hier wird deutlich, dass im deutschsprachigen Kontext Methoden und Wege eingeübt sind oder werden können, die aus dem Kontext der kirchlichen Organisationsentwicklung stammen. Sie haben in sich die Grundarchitektur der Synodalität – es ist eine spirituelle Grundarchitektur, denn sie nimmt die Wirklichkeit ernst, die wir Evangelium nennen: Es geht nämlich nicht um spirituelle Gebetsübungen, sondern um eine Kultur und Praxis des Miteinander, die gründet in der Überzeugung einer gleichwürdigen Verbundenheit zwischen den Menschen und der Möglichkeit, dass sich Wahrheit im Zwischen ereignen kann.

In diesem Sinn gibt es „synodale Impulse“, die einen Weg zu einer Kultur der Synodalität ermöglichen – und die schon teilweise eingeübt sind oder doch leicht eingeübt werden können.

Eine andere Demokratie

Steffen Mau hat in seinem Werk „Ungleich vereint“18 neben anderen wichtigen Beobachtungen die These vertreten, dass die Gewohnheiten und Praxen einer repräsentativen Demokratie den Ostdeutschen fremd und unzugänglich bleiben, aber andere Demokratieformen aus Ostdeutschland eine Pionierrolle für eine andere demokratische Zukunft einnehmen könnten.

Die „runden Tische“ der Wendezeit, die Experimente mit Bürgerräten und auch die Praxis des Community organizing19 reflektieren im säkularen Bereich Formen der Gemeinschaftsbildung durch Partizipation, partizipative Prozesse der Meinungsbildung und Formen der Entscheidungsfindung, die dem synodalen Handlungsgprinzipien nahekommen. Auch hier liegen Überzeugungen zugrunde, die der Synodalität nahe sind: die Gleichwürdigkeit aller Beteiligten und das Vertrauen in partizipative Prozesse, die neue Erkenntnisse hervorbringen – und nicht in alltäglich unfruchtbaren Polemiken untergehen.

Auf dem Weg zu einer anderen Kirche

Entscheidend wird bei alldem aber nicht sein, mit welchen Strukturen und Sozialgestalten wir unterwegs sind – entscheidend ist vielmehr, ob Christinnen und Christen eine synodale Praxis einüben können.

Zweifellos sind wir mitten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess und auf dem Weg zu einer anderen Kirche. Das braucht nicht erläutert zu werden. Dafür steht auch diese Zeitschrift. Entscheidend wird bei alldem aber nicht sein, mit welchen Strukturen und Sozialgestalten wir unterwegs sind – entscheidend ist vielmehr, ob Christinnen und Christen eine synodale Praxis einüben können. Hier geht es aber um mehr als um eine Mode, die seit 2015 en vogue war, sondern, so glaube ich, um eine Ekklesiopraxis des II. Vatikanischen Konzils, die auch eine neue Form gemeinsam gelebter Spiritualität und Mystik beinhaltet. Nicht Frömmigkeitsformen und biblische Übungen, die ebenso nützlich sein können, sondern eine Praxis des Miteinanders, die Maß nimmt an der geschenkten Erlösungswirklichkeit, die jeden und jede in eine Gleichwürdigkeit stellt und ins Spiel bringt. Es geht um ein Handeln, das von einer größtmöglichen Partizipation aller Beteiligten ausgeht und einen ereignisorientierten Wahrheitsverständnis den Weg bahnt. Das Sich-Ereignen und Aufgehen der Wahrheit ermöglicht die vielen Wahrheiten, macht aber deutlich, dass sie nicht verfügbar ist und Wahrheit hier nicht mit Macht verknüpft ist.

Eine solche Kirche entspricht der Vision des Volkes Gottes, wie sie im II. Vatikanischen Konzil entwickelt wurde – einer Kirche, die inmitten und mit den Zeitgenossen unserer Zeit auf der Suche nach der unverfügbaren und nicht besitzbaren Wahrheit ist, die sich uns immer neu zeigen will. Kein Zweifel, das ist herausfordernd. Vor allem hierarchisch-machtbesetzte Praxen und Gewohnheiten, die mit der klassischen kirchlichen Tradition und vor allem mit gewohnten Kirchenbildern verbunden sind, geraten hier in die Herausforderung, neu gedacht werden zu müssen. Das ist spannend und ein offener Weg. Sich auf diese neuen synodalen Wege einzulassen, ist aber das Gebot der Stunde – und weit mehr als eine franziskanische Mode.

Praxis

Die Wiederentdeckung des tätigen Bürgertums

Ob wir rothe, gelbe Kragen,
Hüte oder Helme tragen,
Stiefeln oder Schuh’;
Oder, ob wir Röcke nähen,
Und zu Schuh’n die Fäden drehen –
Das thut nichts dazu.

Ob wir können decretiren,
Oder müssen Bogen schmieren
Ohne Rast und Ruh;
Ob wir just Collegia lesen,
Oder ob wir binden Besen –
Das thut nichts dazu.

Ob wir stolz zu Rosse reiten,
Ob zu Fuß wir fürbaß schreiten
Unsrem Ziele zu;
Ob uns vorne Kreuze schmücken,
Oder Kreuze hinten drücken –
Das thut nichts dazu.

Im Bürgerlied von 1845 wird vor dem Hintergrund der deutschen republikanischen Bewegung das Ideal eines solidarischen und tätigen Bürgertums besungen, das mit vereinten Kräften am Aufbau der Republik zusammenwirkt. In den ersten drei Strophen wird dieses Ideal deutlich benannt: Egal welchem Stand oder Beruf man angehört, in der zukünftigen Republik wird kein Unterschied gemacht. Alle Menschen gehören dazu und sollen Teil der Bewegung werden. In der Mitte des Liedes wechselt der Inhalt dann von einer allgemeinen Einladung zu einer Klarstellung der gewünschten Ideale der mitwirkenden Bürger*innen.

Aber, ob wir Neues bauen,
Oder’s Alte nur verdauen
Wie das Gras die Kuh –
Ob wir für die Welt was schaffen,
Oder nur die Welt begaffen –
Das thut was dazu.

Ob im Kopf ist etwas Grütze
Und im Herzen Licht und Hitze,
Daß es brennt im Nu;
Oder, ob wir friedlich kauern,
Und versauern und verbauern –
Das thut was dazu.

Ob wir, wo es gilt, geschäftig
Großes, Edles wirken, kräftig
Immer greifen zu;
Oder ob wir schläfrig denken:
Gott wird’s schon im Schlafe schenken –
Das thut was dazu.

Die Republik entsteht also nicht von alleine, sondern kann nur dann gelingen, wenn alle daran mitwirken.

Die Republik entsteht also nicht von alleine, sondern kann nur dann gelingen, wenn alle daran mitwirken. So offen und solidarisch die Einladung ist, so klar ist man ebenso, welche Ideale zu vertreten sind: Es ist das tätige Mitwirken am gemeinsamen Ziel, das die Menschen eint und als Anspruch formuliert wird.

In der aktuellen Weltlage ist der Anspruch des Bürgerlieds aktueller denn je. Denn jenseits von Unterschieden im Detail leben alle republikanischen und demokratischen Staatsformen auch im 21. Jahrhundert davon, dass sich ihre Bürger*innen aktiv in ihre Gesellschaft einbringen. Im Lied wird das vielleicht etwas verstaubte Ideal der „mündigen Bürger*innen“ besungen. Dieses Ideal findet sich im Grundsatz auch heute noch in einer großen Breite der Gesellschaft: In Vereinen, Kirchengemeinden, Initiativgruppen und Nachbarschaften sind auch heute noch Menschen aktiv und wirken in ihrem Alltag am gesellschaftlichen Gemeinwohl mit. So zeigen die Zahlen des aktuellen Freiwilligensurveys deutlich, dass das Engagement in Summe eher zu- denn abnimmt (Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2019, 9).

Die Form des Engagements hat sich aber verändert. Mit der Veränderung von Familienstrukturen, mit geteilter Care-Verantwortung und beruflichen Mobilitätsanforderungen hat sich die Bereitschaft und die Möglichkeit für gesellschaftliches Engagement grundlegend geändert. Nicht mehr regelmäßig, dafür aber punktuell und auf Anfrage engagieren sich weiterhin viele Menschen neben ihren familiären und beruflichen Aufgaben (ebd., 31).

Hierfür gilt es Strukturen zu entwickeln, die das aufnehmen und verstärken. Es ist nicht mehr das klassische „Ehrenamt“ oder der „Freiwilligendienst“, die angestrebt werden sollen, sondern es gilt einen „Aktions-Sinn“ bei möglichst vielen Bürger*innen zu entwickeln, um gleichermaßen dem Ideal des Bürgerlieds und den Herausforderungen der Gegenwart zu entsprechen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Begriff der Aktion, dem tätigen Handeln, die in einem starken Gegensatz zum Verwalten und zum reinen Erfüllen von Funktionen steht. Die Aktion verändert, gestaltet und bringt Bestehendes in Bewegung. Die Aktion kommt aber auch mit „Sinn“ daher. Der Sinn transportiert Werte und Ideale, ist in Verbindung mit der Aktion aber selbst auch sinnhafte Wahrnehmung der Welt und engagiert sich in denjenigen Situationen, in denen solidarisches Handeln notwendig und sinnvoll ist.

Menschen mit Aktions-Sinn kümmern sich um andere, sehen Not und packen an und sind vor allem bereit, sich passend und pragmatisch den Anforderungen der heutigen Welt zu stellen.

Menschen mit Aktions-Sinn kümmern sich um andere, sehen Not und packen an und sind vor allem bereit, sich passend und pragmatisch den Anforderungen der heutigen Welt zu stellen. Es sind Schlüsselpersonen (Richter 2022), Viertelgestalter*innen (Hoeft et al. 2014) oder einfach Bürger*innen, die im Sinne des Bürgerlieds in Solidarität und mit Anspruch an einer besseren und demokratischen Zukunft mitwirken. Mal im Alltag verortet, mal auf ein größeres Ziel hin orientiert, wirken sie im Kleinen und Großen darauf hin, dass sich das gesellschaftliche Miteinander entwickelt und Teilhabe organisiert wird.

Der Aktions-Sinn kann dabei nicht gemanagt oder kanalisiert werden, er gedeiht und wächst in der barmherzigen Konfrontation auf Augenhöhe. Es geht bei dieser Form der Konfrontation darum, andere Menschen mit allen ihren Fehlern und Vorurteilen dort abzuholen, wo sie in ihrem Leben gerade sind. Sie sollen nicht von etwas überzeugt oder zu etwas überredet werden, sondern in der Konfrontation auf Augenhöhe ihren eigenen Aktions-Sinn entdecken und entwickeln. Dabei entstehen bei allen Beteiligten oftmals auch Frustrationen und unerfüllte Erwartungen, dies ist aber Teil des Prozesses und muss für das gegenseitige Wachstum durchlebt werden. Barmherzigkeit heißt vor diesem Hintergrund eben auch, der gegenseitigen Beziehung immer wieder Zeit zum Wachsen zu geben und nicht in Zynismus zu verfallen oder Wut auf das (vermeintlich unsinnige) Handeln des Gegenübers zu haben.

Durch eine Aktions-Beziehung muss (und sollte vielleicht auch) keine Freundschaft oder private Beziehung entstehen, es reicht, wenn das Vertrauen und der Respekt zueinander wachsen, dies ist – auch im Sinne des Bürgerlieds – schon ausreichend, um große Dinge zu bewegen.

Die Entwicklung des Aktions-Sinns kann systematisch erfolgen, wenn über die Zeit immer wieder Momente des Gesprächs und des Mit-Erlebens gesucht werden. Ausgehend von aufrichtigem Interesse an den Wünschen, Nöten, Erfahrungen und Frustrationen des Gegenübers und dem Teilen der eigenen entsteht in der barmherzigen Konfrontation auf Augenhöhe eine gegenseitige Aktions-Beziehung. Zu dieser Beziehung gehört ganz zentral dann auch die Freude, das miteinander Lachen und eventuell auch die Trauer, denn dann wird deutlich, dass man sich aufeinander zu bewegt. Dies geht nicht ohne eine wiederkehrende gegenseitige Präsenz, digital und analog, um über die Zeit immer wieder Situationen und Erfahrungen miteinander zu teilen und dadurch auch im Handeln miteinander zu wachsen. Durch eine Aktions-Beziehung muss (und sollte vielleicht auch) keine Freundschaft oder private Beziehung entstehen, es reicht, wenn das Vertrauen und der Respekt zueinander wachsen, dies ist – auch im Sinne des Bürgerlieds – schon ausreichend, um große Dinge zu bewegen.

Denn nur dort, wo Begegnung auch zur barmherzigen Konfrontation auf Augenhöhe führt und nicht nur Dienstleistungen organisiert werden, entwickelt sich überhaupt die Chance auf die Entwicklung eines Aktions-Sinns.

Damit sich der Aktions-Sinn und Aktions-Beziehungen entwickeln können, ist es zwingend notwendig, immer wieder neue Aktionsräume zu eröffnen, die die Möglichkeiten des Handelns aufzeigen und dazu einladen, miteinander aktiv zu sein. Ein Aktionsraum ist dabei im besten Fall ein „Heterotopos“ (Foucault 2021), in dem sowohl die gegenwärtigen Zustände als auch die kommenden Zukünfte bereits eingeschrieben sind. Foucault spricht dabei von „Gegenräumen“ und „lokalisierten Utopien“ (ebd., 10), also Orte, die der Zeit entrissen sind und gleichsam den Raum geben, eine Gedankenreise in andere Welten zu unternehmen. Sein Beispiel ist dabei das Schiff, auf dem die Zeit ein Eigenleben entwickelt und gleichzeitig derjenige Ort ist, der zu neuen Ufern führt (ebd., 21f.). Beispiele für solche Aktionsräume gibt es en masse: Kirchengebäude können Aktionsräume sein (Bahr 2007), aber auch Stadtteilzentren, Einkaufsläden, öffentliche Plätze oder Kindergärten oder einfach alle Orte des Alltags, an denen aktionsorientierte Formen des einander Begegnens stattfinden. Denn nur dort, wo Begegnung auch zur barmherzigen Konfrontation auf Augenhöhe führt und nicht nur Dienstleistungen organisiert werden, entwickelt sich überhaupt die Chance auf die Entwicklung eines Aktions-Sinns.

Für die Entwicklung des Aktions-Sinns ist es zuletzt hilfreich, aktionsorientiertere Formen bürgerschaftlichen Engagements zu kennen und in den Aktionsräumen zu entwickeln. So hat in der Geschichte der deutschen Bundesrepublik das Mitwirken in sozialen Bewegungen seit Jahrzehnten zu individuell-biografischen und kollektiven Impulsen und Veränderungen geführt. Auch das Mitwirken in nachbarschaftlichen Netzwerken und Strukturen ist für viele Menschen der Einstieg in barmherzige Konfrontationen auf Augenhöhe, sofern diese Aktivitäten das Gefälle von Helfenden und Hilfesuchenden aufbrechen. Und zuletzt sollte darüber nachgedacht werden, ob Austausch- und Stipendienprogramme und soziale Freiwilligenjahre nicht noch mehr für viel mehr Menschen ermöglicht und ausgebaut werden sollten.

Ansatzpunkt für die Wiederentdeckung des tätigen Bürgertums gibt es also genug, nun gilt es dieses anzupacken und vor Ort zu überlegen, wo und wie der Aktions-Sinn entdeckt und ausgebaut werden kann. Denn das Bürgerlied hat noch eine letzte Strophe, die hier nicht vorenthalten werden soll, und wir halten uns an den abschließenden Appell „thun wir [unseres] denn dazu“.

Drum ihr Bürger, drum ihr Brüder,
Alle eines Bundes Glieder,
Was auch jeder thu’ –
Alle, die dies Lied gesungen
So die Alten wie die Jungen –
Thun wir denn dazu.

Praxis

Gesellschaftsmodelle mit Zukunftspotenzial

Welches Gesellschaftsmodell brauchen wir? Eine Frage, die noch vor gut 30 Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eine rhetorische gewesen wäre, ist heute wieder sehr aktuell. Das findet seinen Niederschlag u. a. auch in zahlreichen Publikationen namhafter Autor:innen, die davon ausgehen, dass wir mit dem heute geltenden in eine schwierige Lage geraten sind. Der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz warnt z. B. in seinem neuesten Buch „Der Weg zur Freiheit“ vor der Entwicklung zu wirtschaftlicher Ungleichheit, politischer Machtkonzentration und marktgläubigen Ideologien, die sich sehr zerstörerisch auf unsere Gesellschaft auswirken würden. Er plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag und legt Wert darauf, dass die Freiheit der Menschen nicht nur aus der Freiheit des Marktes und vom Schutz vor staatlichen Eingriffen besteht, sondern dass für die Freiheit der Menschen v. a. Bildung, Gesundheitsvorsorge, soziale Sicherheit und Chancengleichheit gehören. Ohne sie sei die Entwicklung der Menschen keine reale Option“ Nancy Fraser, Professorin für Philosophie in New York, hält in ihrem 2023 erschienenen Buch „Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“ fest, warum das geschieht und sagt, dass wir darauf nicht vorbereitet sind. Um uns noch zu retten, ist nach ihrer Ansicht eine Gesellschaft nötig, die auf Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Solidarität und Gemeinsinn aufbaut. Den gleichen Aspekt nimmt der Forscher und Autor bekannter Bücher Tim Jackson in seinem Buch „Ökonomie der Fürsorge“ auf. In die gleiche Richtung argumentiert auch die Ökonomieprofessorin Maja Göpel in ihrem Buch „Die Welt neu denken.“

Für die amerikanische Soziologin Riane Eisler liegt die Hauptverantwortung für die Fehlentwicklungen in der Missachtung und Vernachlässigung der Fürsorge im kapitalistischen System. In ihrem Buch ‘Die verkannten Grundlagen der Ökonomie’ führt sie aus, dass die Fürsorge nicht als volkswirtschaftliche Leistung im Bruttosozialprodukt berücksichtigt und sozusagen als Privatsache der Frauen abgetan wird. Dies sei so, sagt Eisler, obwohl ohne diese Fürsorgearbeit eine Gesellschaft gar nicht existieren und funktionieren könnte. Der Homo oeconomicus der geltenden ökonomischen Theorie ist nach ihrer Ansicht ein altes maskulines Paradigma. Entsprechend wird Produktion, Wachstum und Wettbewerb in den Vordergrund gestellt und Eigenschaften wie Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Fürsorge höchstens noch als nice to have betrachtet. Eisler, Stiglitz und Fraser formulieren ihre Kritik u. a. auch im Hinblick auf den Klimawandel, der Polarisierung zwischen Reich und Arm, der Dominanz der Machtpolitik und der Konkurrenz statt Kooperation und der Individualisierung. Riane Eisler geht so weit, dass sie prognostiziert, wir stünden vor einem Kipppunkt der Weltgeschichte, der einen grundlegenden Wandel verlange.

Nach wie vor wird praktisch unisono bei Schwierigkeiten sowohl von der Wissenschaft, den Regierungen und Wirtschaftsvertreter:innen, die Förderung des Wirtschaftswachstums und die Etablierung neoliberaler Maßnahmen laut.

Trotz der Warnungen und der konkreten sicht- und spürbaren Probleme, zeichnet sich nirgends auf der Welt eine wirkliche Neuorientierung ab. Maja Göpel schreibt dazu: „Die weltweiten Krisen in Umwelt und Gesellschaft sind kein Zufall. Sie offenbaren, wie wir mit uns und dem Planeten umgehen, auf dem wir leben. Wenn wir diese Krisen meistern wollen, müssen wir uns die Regeln bewusst machen, nach denen wir unser Wirtschaftssystem aufgebaut haben. Erst, wenn wir sie erkennen, können wir sie auch verändern – und unsere Freiheit zurückgewinnen“.

Zurzeit sind wir weit davon entfernt. Nach wie vor wird praktisch unisono bei Schwierigkeiten sowohl von der Wissenschaft, den Regierungen und Wirtschaftsvertreter:innen, die Förderung des Wirtschaftswachstums und die Etablierung neoliberaler Maßnahmen laut. Die Folgen werden weltweit immer deutlicher sicht- und spürbar.

Was sind die Merkmale eines Zukunftsmodells?

Was wären nun die Merkmale eines solchen von Riane Eisler geforderten grundlegenden Wandels? Die oben erwähnten Autoren:innen stimmen interessanterweise – obwohl sie aus verschiedenen Disziplinen kommen – in der Grundausrichtung überein. So postuliert z. B. der Ökonom Stiglitz soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Nachhaltigkeit als Kernpunkte für eine zukünftige Gesellschaft. Das liegt inhaltlich recht nahe bei den Punkten, die Maja Göpel, Tim Jackson und auch Nancy Fraser als wichtig erachten.

Wie ein solches Modell aussehen könnte, beschreibt Riane Eisler recht praxisnah und konkret. Für sie steht die Fürsorge im Zentrum und auf diese muss das gesamte Handeln ausgerichtet sein. Es ist ihr bewusst, dass dies eine Umstellung der Mentalität und des Denkens der Menschen voraussetzt, insbesondere muss der Wandel vom heutigen Dominanzmodell, wie sie es nennt, zu einem Partnerschaftsmodell gelingen.

Die Kernpunkte eines solchen Modells sind:

  • Vom Konkurrenzdenken zur Kooperation:
  • Von der Herrschaft und Kontrolle zur Fürsorge und Empathie
  • Von patriarchalen Normen zur Geschlechtergleichheit
  • Umgestaltung der Wirtschaft von der Gewinnmaximierung zur Care-Ökonomie
  • Fördern des Demokratieverständnisses und, elementar, Wahrnehmung der ökologischen Verantwortung

Sie betrachtet diese einzelnen Bereiche nicht isoliert, sondern in einer Wechselwirkung zueinander. Diese Merkmale, die in der Stoßrichtung auch in den Vorschlägen der übrigen aufgeführten Autoren:innen vorkommen, zeigen, welch grundlegender Wandel nötig ist, wenn eine wirkliche Wende gelingen soll.

Sorge tragen

Dass nicht nur diese Autori:innen in diese Richtung denken, wird klar, wenn man die Entwicklung von Organisationen und Netzen betrachtet, mit den Namen „Sorgende Gemeinschaften“, „Caring Community“ oder „Caring Society“. Diese Organisationen und Netzwerke, die es schon in verschiedenen Ländern gibt und die auch untereinander vernetzt sind, zeigen, dass schon viele Menschen sich ernsthaft mit der gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Situation beschäftigen und bereit sind, sich konkret für Veränderungen zu engagieren. Das wirklich spannende und für die Zukunft vielversprechende ist, dass sie die Lösungen in die gleiche Richtung sehen, wie die zitierten Autoren:innen. Unzweideutig geht es ihnen darum, zu Mensch und Natur Sorge zu tragen.

In der Gemeinschaft muss beginnen …

Die Sorge um die Zukunft fördert die Suche nach Modellen, die die Sorge um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und die Gesundheit der Menschen ins Zentrum stellen. Deutlich kommt das in den Vorschlägen der oben zitierten Autoren:innen zum Ausdruck. Es kommt aber auch in einer deutlichen Zunahme der Sorgenden Gemeinschaften bzw. Caring Communities, vor allem im deutschsprachigen Raum, zum Ausdruck.

Die Sorge um die Zukunft fördert die Suche nach Modellen, die die Sorge um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und die Gesundheit der Menschen ins Zentrum stellen.

Die Entstehung dieser Gemeinschaften erfolgt aus ganz verschiedenen Anlässen, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass ihre Initianten:innen einen konkreten Bedarf feststellen, um in ihrem Lebensbereich eine Verbesserung des Zusammenlebens, der Unterstützung schwächerer Menschen, die Vertiefung der Beziehungen und die Verminderung der Einsamkeit usw. anzustreben. Diese Organisationen werden von Menschen getragen, die ein Problem sehen und bereit sind, zusammen mit anderen dieses zu lösen oder mindestens zu mindern. Diese Grundhaltung baut auf der Kraft der Gemeinschaft auf. Das gemeinsame Tun ist eine ungemein kräftige und nachhaltige Kraft und stärkt den Willen und die Fähigkeit dranzubleiben. Organisationen und Gemeinschaften, die diesen Werten und Grundsätzen folgen, haben eine starke und positive Ausstrahlung auf Ihre Umgebung.

Diese Entwicklung ist noch jung. Sie hat aber das Potenzial, dazu beizutragen, Gesellschaft und Demokratie zu stärken und ihr neue Impulse zu geben und sie in der Richtung zu entwickeln, wie sie Eisler, Göpel, Jackson, Fraser und viele andere wünschen und beschreiben. Die Tatsache, dass Wissenschaft und Praxis den Weg in die Zukunft in die gleiche Richtung sehen, spricht für sie und macht Mut und Zuversicht für die Zukunft.

 

Praxis

Über Gott reden – was tun wir da?

Im Zentrum der christlichen Botschaft steht die Aussage der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Das war zu allen Zeiten eine sehr ungewöhnliche, ja fremde Botschaft. Wie sollte es möglich sein, dass Gott selbst Mensch wird? In früheren Zeiten wurden die Eigenschaften Gottes mit den Eigenschaften des Menschen verglichen und es schien vollkommen unverständlich, wie in Christus Gott ganz und gar Mensch geworden ist.

Die christliche Botschaft war also immer schon eine fremde Botschaft, und sie ist es auch heute. Allerdings hat sich der Akzent der Fremdheit deutlich verschoben: Heute setzt die Fremdheit schon bei Gott selbst an. Und das hat dramatische Folgen für die Rede von Gott: Wen oder was adressieren wir, wenn wir von Gott reden?

Die christliche Botschaft war also immer schon eine fremde Botschaft, und sie ist es auch heute.

Diese Akzentverschiebung ist auch Folge der weltanschaulichen Neuorientierungen in der Moderne. Zu ihnen haben die Naturwissenschaften einen erheblichen Beitrag geleistet. Die Naturwissenschaften, allen voran die Physik, stellen das Universum in einer Weise dar, die vollkommen inkompatibel ist mit traditionellen Vorstellungen von Gott.

Schwächen also die Naturwissenschaften die christliche Rede von Gott? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, die Entwicklung hat auch eine entschieden gute Seite. Denn offenkundig führten bestimmte traditionelle Gottesvorstellungen der Vergangenheit in die Irre und sind auch aus theologischen Gründen abzulehnen. Deistische und auch manche theistische Vorstellungen von einem allmächtigen, im Himmel thronenden Gott etwa wurden so zurecht massiv in Frage gestellt. Die Rede von der Menschwerdung Gottes ist eine entscheidende kritische Spitze gegen alle Gottesvorstellungen, die einen distanzierten, über allem schwebenden und allmächtigen Gott suggerieren. In der christlichen Tradition hat sich allerdings dieses Bild immer wieder neu eingeschlichen. Wahrscheinlich waren es nicht zuletzt auch gesellschaftliche und kulturelle Gründe, die ein solches Gottesbild unterstützten. Denn Gott wurde so zum Garanten der weltlichen Ordnung, die in der Vergangenheit vor allem eine hierarchische Ordnung war. Die Schöpfungserzählung wird dabei zum Kernelement christlicher Weltanschauung. Die Theologie kann in dieser Hinsicht den Naturwissenschaften dankbar sein, dass sie die alten Vorstellungen eines Herrschers der Himmel in Frage gestellt haben. Irrwege in den Versuchen, zu verstehen, wer Gott ist, sind aber für eine biblisch orientierte Theologie nichts Neues. Denn schon die biblischen Texte haben in immer neuer Form zum Teil fundamentale Kritik an menschlichen, ja allzu menschlichen Vorstellungen von Gott geübt.

Die biblischen Texte haben in immer neuer Form zum Teil fundamentale Kritik an menschlichen, ja allzu menschlichen Vorstellungen von Gott geübt.

Doch leider beschränkt sich die kritische Anfrage eines Weltbildes, das sich an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert, nicht auf ein auch theologisch zu kritisierendes deistisches Gottesbild. Tatsächlich wird die Rede von Gott als solche vor dem Hintergrund einer „modernen“ Weltsicht fragwürdig. Das aber hat mit einem weitergehenden Missverständnis zu tun, das aber nicht aus traditionellen Gottesvorstellungen resultiert, sondern aus der modernen Sicht auf die Welt.

Hiernach ist alles, was relevant ist, mit einer naturwissenschaftlichen Sprache beschreibbar. Physikalische, biologische und chemische Entitäten lassen sich genau bestimmen, auch wenn wie in der Quantenphysik Ort und Zeit eines Teilchens vielleicht nicht eindeutig zuzuordnen ist. Aber natürlich ist jedes Teilchen in der physikalischen Sprache etwa mit der Schrödingergleichung genau bestimmbar. Gibt es aber nicht zumindest menschliche Phänomene, die nicht eindeutig naturwissenschaftlich beschreibbar sind wie etwa Gedanken oder Gefühle? Aber auch sie haben neurowissenschaftliche Korrelate. Was auch immer Gedanken, Gefühle, Bewusstsein sein mögen, sie lassen sich mit bestimmten neuronalen Aktivitäten des Gehirns eindeutig in Beziehung setzen. Doch das, was wir christlich mit den vier Buchstaben GOTT bezeichnen, entzieht sich vollständig jeder naturwissenschaftlichen Beschreibbarkeit. Ist es, kann es dann noch für eine moderne Beschreibung der Welt relevant sein?

Das, was wir christlich mit den vier Buchstaben GOTT bezeichnen, entzieht sich vollständig jeder naturwissenschaftlichen Beschreibbarkeit

Der etablierte Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie versucht sich diesem Problem zu stellen. Doch welcher Sprache soll man sich bedienen, wenn es kaum eine gemeinsame Basis zwischen theologischer Rede von Gott und den naturwissenschaftlichen Beschreibungen der Welt gibt? Zumeist bearbeiten die Beteiligten des Dialogs einen dritten Bereich, der sich zwischen der Theologie und den Naturwissenschaften befindet, der Naturphilosophie. Insofern sich die Philosophie Grundfragen des Erkennens und der Wirklichkeit stellt, ist sie der Theologie nah, insofern sie aber zugleich auch über Möglichkeiten und Grenzen der Naturwissenschaften nachdenken, ist sie den Naturwissenschaften nah. Damit ist die Naturphilosophie eine Grundlage des Dialogs. Kann sie zu einer besseren Bestimmung dessen führen, was wir mit dem Wort „Gott“ beschreiben? Leider gibt es nun aber in der Naturphilosophie sehr unterschiedliche, sich zum Teil gegenseitig ausschließende Ansätze. Die letzten Jahrzehnte des Dialogs haben keinen gemeinsamen Standard entwickeln können, so ist auch eine Übereinkunft über die Frage, worauf sich GOTT bezieht, in weiter Ferne.

Diese Schwierigkeit führt angesichts des verbreiteten modernen Weltbildes zu sehr asymmetrischen Folgen. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften sind vor diesem Hintergrund leicht akzeptiert, sofern denn Standards der selbstkritischen Erkenntnis akzeptiert werden und nicht Verschwörungstheorien um sich greifen. Die Aussagen der Theologie werden dagegen vor diesem Hintergrund immer weniger verständlich.

Das Ziel einer allgemein verbindlichen Rede von Gott ähnlich den allgemein verbindlichen Beschreibungen der Welt durch die Naturwissenschaften wird nicht zu erreichen sein.

Wie soll darauf die Theologie reagieren? Sollte sie sich auf die Suche nach einem Gottesbild machen, das mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen kompatibel ist? Viele Ansätze des Dialogs zwischen Naturwissenschaften und Theologie versuchen das. Aber das Ziel einer allgemein verbindlichen Rede von Gott ähnlich den allgemein verbindlichen Beschreibungen der Welt durch die Naturwissenschaften wird nicht zu erreichen sein. Das hat sehr tiefliegende Gründe, die wieder zu der zu Beginn festgestellten Fremdheit der Rede von Gott zurückführen. Jeder Ansatz einer Rede von Gott entkommt nicht dem Dilemma, dass wir von Gott reden sollen, aber als Menschen nicht von Gott reden können. Das gilt unabhängig von den jeweils herrschenden Weltbildern. Dieses Dilemma bestand schon in biblischen Zeiten und es besteht heute. Der protestantische Theologe Karl Barth folgerte aus dem Dilemma, dass wir in diesem Dilemma zwischen „Sollen“ und „Nicht-Können“ Gott die Ehre geben sollen.

Ich meine, dass es vielleicht die vornehmste Aufgabe der Theologie ist, die Frage nach Gott offen zu halten.

Wir geben, mit anderen Worten, Gott gerade darin die Ehre, dass wir immer wieder daran scheitern, allgemein verbindliche Standards im Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie aufzustellen. Ich meine, dass es vielleicht die vornehmste Aufgabe der Theologie ist, die Frage nach Gott offen zu halten. In dieser Hinsicht sind allgemein gültige Antworten eher eine Gefahr als eine Errungenschaft.

Also bleibt eine negative Theologie, eine Aussparung der Beschreibung Gottes? Das ist nicht der Fall, weil die Gotteserfahrungen solche sind, die Menschen über alles sprachlich Verfasste hinaus persönlich berühren, die sich auch zwischen Menschen ereignen. Die Rede von Gott kann die persönliche Beteiligung nicht außen vor lassen. Persönliche Erfahrungen mit Gott dringen auf Mitteilung, sie wollen sozial geteilt werden. Sie dringen auf einen sprachlichen Ausdruck. Christinnen und Christen sind dankbar, dass es eine reiche Sprache und Bilderwelt gibt, die biblische Texte und christliche Traditionen bereitstellen, um einen angemessenen Ausdruck zu finden. Gott die Ehre geben, heißt nicht, von der Mühe, die Erfahrungen mit Gott zu versprachlichen, abzulassen. Wir sollten uns stets um größtmögliche Allgemeingültigkeit und Verständlichkeit bemühen. Aber zugleich sollten wir sehen, dass wir nicht zum Ziel kommen und gerade darin Gott als den immer Größeren bezeugen.

Persönliche Erfahrungen mit Gott dringen auf Mitteilung, sie wollen sozial geteilt werden.

Um den angemessenen Ausdruck kann und muss manchmal auch gestritten werden. Insofern ist nicht eine negative Theologie, die jede Bestimmung konsequent ausspart, die Antwort auf unsere Situation, sondern eine Rede von Gott, die immer und jederzeit von der Differenz zwischen den persönlichen Erfahrungen, den sozialen Kommunikationskontexten und einer allgemeingültigen sprachlichen Form weiß. Gerade dann, wenn wir diese Differenz nicht aufzulösen versuchen, sondern aufrechterhalten, geben wir darin Gott die Ehre: Wer auch immer Gott ist, er ist größer als alle unsere menschliche Vernunft.

Praxis

Toskana Fanboys

Ein paar Mandolinen gurren Akkorde. Ein Drumstick schnalzt, ein Piano perlt ein paar Töne wie aus einer gut gekühlten Flasche Pino Grigio. Basslauf wie ein brummliger Nonno auf der Suche nach einem Stück Schinken. Dann die Stimme von Peter Fox, der diesmal klingt, als habe er ein bisschen Schnupfen. Oder ist es nur eine Pollenallergie?

Pinien am Wegrand
Streif‘ durchs gelbe Feld
Wie bei Gladiator
Hm, ’n Helm auf wie’n Held
Von zu viel Vino
Cantuccini machen Kilos
Wir roll’n durch die Hügel (Yeah, yeah)
Im Lancia Sportivo.

Na klar. Ridley Scott. Gladiator. Das Traumbild vom Anfang des Films. Fünf Oscars hat der bekommen. Vielleicht auch wegen der wiegenden Ähren, die Russel Crowe mit seiner Hand streichelt, in Zeitlupe. Streif´ durchs gelbe Feld. Und die sich am Ende, nach drei Stunden Kino sich mit den letzten Bildern verschränken: Wieder das gelbgoldene butterwarme Feld, das den sterbenden Schwertkämpfer jetzt empfängt.

Zwei Sätze reichen, und du bist in Paradiso.

Seit Ende Mai gibt’s eine neue Platte von Peter Fox. Und er braucht in seinem Stück Toskana Fanboys gerade ein paar Sekunden, ein paar hingeworfene Töne, wenige Worte. Schon sitze ich neben ihm auf dem Rücksitz eines Sportwagens. Versuche beim Hören meinen Bauch einzuziehen. Denn seine Cantuccini-Kilos sind ja auch meine, maledetto. Schöne Idee auch, das mit dem Helm von zu viel Vino. Der wohlige gefährliche Sommermoment, in dem Alkohol den Kopf in einen großen Wattebausch verwandelt.

Häng’n am Pool auf Cypress Hill
Bella figura, Freibad-Skills
Hör’n Celentano und die Grill’n
Toskana-Fanboys chill’n.

Ich bin gar kein Pool-Typ. Wirklich nicht. Aber wie Peter Fox es hinbekommt, dass sogar ich mir vorstellen kann, einer zu sein, ist schon elektrisierend. So geb ich mir den „Toskana-Fanboy“. Adriano singt von Liebe (ja, genau, DER Adriano Celentano). Und wir canceln unsere Flüge. Zwei Sätze reichen, und du bist in Paradiso.

Saint-Tropez ist nice
Aber hat keine Vibes
Chamonix-Mont-Blanc, alright
Aber zu kalt
Malibu-Beach ist heiß
Aber zu weit, hm
Ich bin und bleib‘
Toskana-Fanboy for life.

Vielleicht ist das unfair, was ich jetzt mache. Popkultur ist eben populär. Geschmeidiger Zettelkasten. Sich ewig drehendes Kaleidoskop von Vibes and Hypes. Doch ich erlaube mir es trotzdem. Neulich war ich Gast bei einer Tauffeier. Ich stand etwas ungünstig, dass ich gar nicht richtig sehen konnte, was passierte. Vor allem habe ich gelauscht, was der Priester gesagt und gebetet hat. Ich gebe zu, dass ich meinen Gedanken wohl allzu freien Lauf gelassen habe. Will sagen: Ich war nicht richtig dabei. Vielleicht ist mir eine Taufe mit ihren Ritualen einfach zu geläufig. Kein Feld für Überraschungen. Eine Taufe ist nice. Aber hat keine Vibes.

Zwecksprache halt. Gar nicht mal unangenehm. Aber routiniert. Allzu routiniert.

Vielleicht war es aber auch das sprechautomatige Sprechen des Priesters. Er klang ein bisschen so, wie ein Navigationsgerät spricht, dass sich aus tausenden hinterlegten Worten Sätze zusammenkombiniert. Zwecksprache halt. Gar nicht mal unangenehm. Aber routiniert. Allzu routiniert. Der allmächtige Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, hat dich von der Schuld Adams befreit und dir aus dem Wasser und dem Heiligen Geist neues Leben geschenkt, monotonte der Priester. Zum ersten Mal ist mir aufgefallen, dass er in diesem Augenblick und mit diesen Worten ja ein kleines Kind angesprochen hat. Dio mio. Und als dessen Vertreterinnen und Vertreter Patin und Pate. Die Eltern. Die anderen Umherstehenden. In mir drängte sich ein Gedanke auf. Ich wollte Stopp! rufen. Und: Habt ihr gehört, was der Mann gesagt hat? Um nicht zu sagen: Habt ihr das verstanden? Ich habe Fragen: Was ist die Schuld Adams? Wer ist Adam überhaupt? Warum ist das Kind schuldig? Wie kann das überhaupt sein? Was hat das Kind mit diesem Adam zu tun? Wer ist dieser Heilige Geist? Und vor allem: Wieso neues Leben? Ist das alte etwa nicht gut genug?

Aus dem unverständlichen Latein der frühen und ganz frühen Jahre ist die unverständliche Routine der Gegenwart geworden.

Vielleicht war ich auch nur der einzige, dem diese Fragen in den Kopf gestiegen sind. Vielleicht ist die Erwartung von Menschen, die zum Beispiel an einer Taufliturgie teilnehmen, ja gar nicht mehr die, zusammen mit einem Kind durch die Hügel zu roll´n, natürlich in einem Lancia Sportiva, sprich: mitgenommen zu werden. Kein kehliger Adriano Celentano, nirgends. Kein Peter Fox mit Schnupfen. Aber vielleicht vermissen sie das auch nicht mehr, weil sie gar nicht (mehr) damit rechnen. Ist doch gut, wenn einer das Navigationsgerät durch die eigenartige skurrile Welt des Katholischen gibt. Andersherum: Aus dem unverständlichen Latein der frühen und ganz frühen Jahre ist die unverständliche Routine der Gegenwart geworden. Früher und ganz früher hatte niemand die Absicht, verständlich zu sein. Heute scheint niemand mehr die Absicht zu haben, sich verständlich zu machen. Das Latein der frühen Jahre klang wenigstens noch unheimlich fremd und zugleich heimlich bedeutungsvoll. Die Sprechautomaten von heute klingen einfach oft nur noch bedeutungsschwanger. Routiniert eben. Und das ist etwas anderes. Und halten in ihrer Routine den garstigen Graben auf, den die „Volkssprache“ doch zuschütten wollte: Dass Sprechakte, zumal in der Liturgie doch die Menschen, die Schöpfung in die Gemeinschaft mit Gott hineinholen will.

Dass ich selbst und die Umstehenden Teil von einer aufregenden, anregenden, erlösenden, aufrichtenden, leidenschaftlichen, tröstlichen Geschichte werden.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich habe da keine Patentlösung. Erstmal bin ich nur traurig darüber, dass die Populärkultur (oft, auch nicht immer) schafft, was dem religiösen, liturgischen Sprechen allzu oft nicht gelingt: Dass ich selbst und die Umstehenden Teil von einer aufregenden, anregenden, erlösenden, aufrichtenden, leidenschaftlichen, tröstlichen Geschichte werden.

Ich seh im Internet ein Filmchen. Aus der Kabine des 1. FC Köln. Jonas Hector erzählt seinen Mitspielern, dass er zum Saisonende aufhört. Er steht. Die anderen sitzen. Der Lehrer. Mit seinen Schülern. Ich hör auf mit dem Fußballspielen im professionellen Bereich. Das ist jetzt schwer. Sein Abschied ist für Köln ungefähr so bedeutsam wie das Ende der Beatles für die ganze Welt. Naja, das mag man jetzt außerhalb von Köln übertrieben finden. Aber die Populärkultur lebt ja von der Übertreibung und der (großen) Geste. Nach der Ansprache bilden die Mitspieler einen Kreis. Ihre Arme haben sie einander auf die Schultern gelegt. Aus einer Bluetoothbox oder einem Handy krabbeln die Töne von Tommi, das ist ein Song der Kölner Band Annenmaykantereit:

Tommi, ich glaub‘, ich hab‘ Heimweh
Vielleicht liegt es am Licht und wie’s sich grade bricht
Oder daran, dass man hier in der Bahn die Spree sehen kann

 

Tommi, vielleicht ruf‘ ich an
Damit du sagst: „Irgendwann, irgendwann, irgendwann
Fangen wir hier zum letzten Mal von vorne an“

Da, wo mer zosamme jroß jeworde sin, do
Ziehen mer alle irgendwann wieder hin
Damit die Kinder, die mer krieje könn
Alle in Kölle jebore sin
Da, wo mer zosamme jroß jeworde sin, do
Ziehen mer alle irgendwann wieder hin
Damit die Kinder, die mer krieje könn
Alle in Kölle jebore sin
Jebore sin
Jebore sin.

Hey, wieso habe ich beim Zusehen auf einmal das Gefühl, ich bin Teil einer Art von Andacht? Da brennen keine Kerzen in der Kabine. Und die Männer stehen auch nicht um einen Altar herum, sondern um eine Batterie Mineralwasserflaschen. Berührend, wie sie zosamme jro-ho-ho-hoß jeworde sin singen. Ein bisschen klingt das wie Großer Gott, wir lo-ho-ben dich. Ob Ellyes Skhiri und Linton Maina verstehen, was sie da singen? Kölsch ist ja so etwas wie das Latein des kleinen Mannes.

Hey, wieso habe ich auf einmal das Gefühl, ich bin Teil einer Art von Andacht? Ein Moment eschatologischer Hoffnung in der Kabine des 1. FC Köln. Ist das übertrieben?

Die Szene hat etwas Konzentriertes, Verbindendes, etwas von einem kurzen Moment, in dem Gegenwärtiges überstiegen wird. In den Abschied eines Mitspielers mischen sich Hoffnung und Zuversicht, dass dessen Abschied nicht für immer ist. Und damit kein Abschied auf dieser Welt. Keiner. Sehnsucht von Verbindung über alle menschenmöglichen Grenzen hinweg. Mir fällt ein Text aus der Offenbarung des Johannes ein: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein. Und er, Gott, wird bei ihnen sein (Offb 21,3f.) Ein Moment eschatologischer Hoffnung in der Kabine des 1. FC Köln. Ist das übertrieben?

Ich finde nicht. Natürlich ist die Situation von hochbezahlten Profifußballern nicht zu vergleichen mit Jesusnachfolgerinnen und -nachfolgern, die Minderheit sind in einer Umwelt, die für sie lebensbedrohlich ist und in der sie die Worte für den Text der Offenbarung finden. Und doch treffen sich beide Gruppen, die Fußballspieler und die Jesusnachfolgerinnen und -nachfolger in ihrem Hoffen und Sehnen. Beides, der Text aus der Offenbarung und das Ritual der Fußballer sind meines Erachtens Beispiele für nicht-routiniertes Sprechen.

Und das Gegenteil von Routine ist nun mal das Abenteuer.

Das erlebst du auf dem Rücksitz eines Lancias an einem somnambulen Tag. Nicht so oft in der Kirche. Ein schöner Dom, alright. Aber leider zu kalt. Dabei gäbe eine Taufe nun wirklich genug Stoff für ein Abenteuer her: Liebe. Leidenschaft. Schwangerschaft. Bangen. Hoffen. Sorgen. Wehen. Schmerzen. Schreien. Angst. Tränen. Glück. Aus zwei mach drei. Damit die Kinder, die mer krieje könn alle in Kölle jebore sin.

Ich habe neulich in den Schulgottesdienst die Geschichte vom guten Hirten mitgebracht. Problem: In Köln gibt es keine Hirten. Hirtinnen auch nicht. Bei uns im Agnesviertel schon mal gar nicht. Schafe auch nicht. Um Ostern rum, okay, unten am Rhein. Aber sonst? (Okay, Shaun, das Schaf. Das gibt’s. Aber in diesen Geschichten frage ich mich immer, ob nicht das Schaf der Hirte des Bauern ist.) Das Schaf hört auf die Stimme des Hirten, weil es die Stimme kennt. Kein Stadtkind hat dieses Abenteuer aus eigener Anschauung schon mal erlebt.

Ich habe meinen Hund Greta in den Schulgottesdienst mitgenommen. Und habe mich mit dem Hund auf die Altarstufen gesetzt. Und dann habe ich die Kinder gefragt: Wer von euch lebt mit Tieren? Die Finger flogen nach oben. Die Kinder haben die Tiere aufgezählt: Katzen, Kaninchen, Hamster. Und natürlich ein paar Hunde. Magst du von deinem Hund erzählen? Kopfnicken. Fünf Kinder haben sich neben mich gesetzt. Erzähle von deinem Hund. Wie heißt er? Was machst du, damit er sich bei dir wohl fühlt? Viele kluge Abenteuergeschichten. Ich gehe mit ihm spazieren. – Ich spiele mit ihm. – Ich bringe ihm Sachen bei. – Welche Sachen? – Zum Beispiel, dass er kommt, wenn ich ihn rufe. Dass er sich hinsetzt. – Warum machst du das? – Es ist wichtig, dass er mir vertraut. Wow.

Sollten wir nicht viel häufiger versuchen, abenteuerlicher zu erzählen? Zu inszenieren?

Ich habe Greta zur anderen Seite der Kirche gebracht. Die Kinder haben sich zu ihr umgedreht. Greta hat sich hingesetzt. Ich bin wieder zurück gegangen. Dann habe ich Greta gerufen. – Greta! Hier! Und da ist sie angewetzt gekommen. Die letzten Meter ist sie über den Boden gerutscht. Wie eine kleine Eiskunstläuferin. Ich bin der gute Hirt. Ich bin die gute Hirtin. Hier und heute, mitten in der Stadt, jeden Tag. Wir bekommen einen Hund aus dem Tierschutz, flüstert mir ein Mädchen zu. Aus Rumänien.

Sollten wir in der Liturgie, in der Verkündigung, überhaupt im seelsorgerischen Kontext nicht häufiger aus Routinen ausbrechen? Sollten wir nicht viel häufiger versuchen, abenteuerlicher zu erzählen? Zu inszenieren? Damit meine ich nicht immer das große Brett. Als Kind habe ich Aschermittwoch nie verstanden. Der Priester meiner Heimatpfarrei, zugegeben ein schon älterer Herr, hat beim Austeilen des Aschenkreuzes immer gesagt: Gedenke Msch dssd Staubist und zum Staub rückkehrst. Er neigte halt dazu, Wörter zu verschlucken. Nach ein paar Jahren hatte ich den Satz endlich komplett verstanden. Wenigstens akustisch. Aber wieso sollte ich Staub sein? Hä? Den Staub gabs doch unter der Kommode. Und warum um Himmels willen sollte ich unter die Kommode kriechen? Was für eine absurde Geschichte.

Glaub mir, die Liebe gewinnt.

Seit einiger Zeit sage ich beim Austeilen des Aschenkreuzes: Dreh dich um und vertrau auf die gute Botschaft: Dass die Liebe gewinnt. Ist für mich eine sprechendere Alternative zu Kehr um und glaube an das Evangelium. Was spricht dagegen, einen Kernaspekt des Evangeliums auszusprechen? Zumal dieser Kern (die Liebe gewinnt) als Echo aus den verflossenen Karnevalstagen am Aschermittwoch noch in den Herzen der Menschen nachklingt – wenigstens hier in Köln. Denn eins der spirituellsten Lieder im Kölner Karneval ist ja von der Band Brings:

Wir werden frei sein, wenn wir uns lieben
Es wird vorbei sein mit all den Kriegen.
Wir sind Brüder, wir sind Schwestern, ganz egal, wo wir sind.
Glaub mir, die Liebe gewinnt.

Ist vielleicht nicht so würdevoll wie Der allmächtige Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, hat dich von der Schuld Adams befreit und dir aus dem Wasser und dem Heiligen Geist neues Leben geschenkt.

Meint aber dasselbe. Und klingt nicht wie ein VW Golf mit Hutablage. Sondern sagen wir immerhin wie ein Ford Mustang. Vielleicht sogar auf dem Weg. In die Toskana.

Praxis

Wie mit und über Gott reden?

Wie darf man Gott anreden? Hat es eine Bedeutung, dass Gott im Deutschen – und den meisten anderen Sprachen – männlich gegendert wird? Ist es eine Übertretung Gott gegenüber, das Pronomen zu wechseln? Die Frage ist keine rhetorische, denn Gott weiblich anzureden – Gott-die-Ewige, Gott-die-Lebendige, Gott, die du in allem mächtig bleibst – ist vielfach noch so ungewohnt, dass Menschen tatsächlich Skrupel haben, ob sie damit Gott gegenüber nicht eine Sünde begehen.

Eine Unterart dieser Skrupel ist die Furcht, mit einem weiblichen Pronomen Gott als eine Gottheit unter mehreren anzureden, Gott nicht in Gottes Unbegrenztheit anzuerkennen, sondern nur einen partikularen Teil von Gott anzusprechen. Diese Befürchtung hat ihre Wurzel im allgemeinen Sprachgebrauch und Alltagsbewusstsein – beide stehen miteinander in Wechselwirkung –, in dem immer noch das Männliche für das Allgemeine, Umfassende und das Weibliche für das Besondere gebraucht werden: Vom Menschen gesprochen zu haben, heißt automatisch, vom Mann gesprochen zu haben. Von Frauen müsste man nochmals gesondert reden – diese Denkfigur steht auch hinter der päpstlichen Forderung, es müsse eine „Theologie der Frau“ entwickelt werden. Oder: Medikamente für Männer entwickelt zu haben, heißt Medikamente für den Menschen entwickelt zu haben. Dass weibliche Körper Medikamente anders verstoffwechseln und zum Beispiel viele Schmerzmittel daher weniger oder gar nicht wirken, das ist dann der ausgeklammerte Sonderfall. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Anfrage einordnen, ob Gott weiblich gegendert nicht zu einer Partikulargottheit herabgestuft würde. Im Allgemeinen wird es weniger kritisch betrachtet, von einer „weiblichen Seite“ Gottes zu sprechen – womit man dann aber wiederum eine Binarität und damit eine Idee von Über-und Unterordnung in Gott einträgt und zudem die Illusion nährt,  man könne diese Seite ohne Verluste auch wieder weglassen. Zudem stärkt diese Vorstellung einengende Genderrollen, weil dann alles Weiche und Zärtliche in Gott als weiblich gelabelt wird und alles Strenge und Machtvolle männlich – als ob eine Mutter für ein sehr kleines Kind nicht eine geheimnisvolle und höchst mächtige Wirklichkeit wäre, der man im Zorn nicht in die Quere kommen will.

Gott weiblich zu gendern, macht allein durch die damit ausgelöste Irritation deutlich, wie tief die männliche Prägung der Gottesvorstellung ist.

Gott weiblich zu gendern, macht allein durch die damit ausgelöste Irritation deutlich, wie tief die männliche Prägung der Gottesvorstellung ist. Denn die Argumentation, dass Gott übergeschlechtlich sei und darum in der Anrede nicht gegendert werden müsse oder gar dürfe, wird in aller Regel nur von der Irritation der weiblichen Anrede ausgelöst, während männliche Anreden – die ja Gott auch gendern, nur eben männlich – diese Gegenwehr nicht provozieren. Nun lässt sich natürlich aufweisen, dass die Eigenheiten deutscher Grammatik die göttliche Wirklichkeit, die hinter dieser unfassbar großen Schöpfung steht, nicht tangieren. Dennoch gibt es diese abwehrende Reaktion, die die Irritation zu rationalisieren versucht, indem sie darauf hinweist, dass Gott nicht zu gendern sei, weil Gott übergeschlechtlich sei. Beim Hinweis, dass alle Anreden nur Bilder für Gott sind, kommt dann gelegentlich das biblische Bilderverbot zur Sprache. Dieser Einwand trifft aber in mehrfacher Hinsicht nicht den Kern, denn die Bibel ist voll mit Sprachbildern für Gott. Ihre Autor*innen wenden sich nur gegen Bilder, die mit Gott verwechselt werden können, oder in einer jüdisch-feministischen Lesart des ersten Gebots, dagegen, sich nur ein Bild von Gott zu machen und nicht mehrere, diverse. Dabei lässt die Vehemenz, mit der Christ*innen das Vater-Bild für Gott als Gottes Wirklichkeit verteidigen, bisweilen doch fragen, ob hier nicht ein Bild von Gott mit Gottes Wirklichkeit verwechselt wird.

Die Vehemenz, mit der Christ*innen das Vater-Bild für Gott als Gottes Wirklichkeit verteidigen, lässt bisweilen doch fragen, ob hier nicht ein Bild von Gott mit Gottes Wirklichkeit verwechselt wird.

Hier kann wiederum das vierte Laterankonzil (1213-1215) weiterhelfen. Es hat die Debatte um die Reichweite der universitären Theologie in interessanter Weise geklärt und damit eine philosophische Variante des biblischen Bilderverbots formuliert: Jedes Bild von Gott ist Gott immer unähnlicher als ähnlich. Also: Jedes Bild von Gott, das sich aus Schrift und Tradition speist, trifft einen Teil von Gottes Wirklichkeit. Der je größere Teil von Gott wird mit diesem Bild nicht erfasst. Gott macht Menschen also ein Beziehungsangebot wie ein Vater. Aber der größere Teil von Gott ist ganz anders als Vater. Dass ich hier mit Quantifizierungen arbeite, zeigt, wie schwierig es ist, sprachlich mit der Unanschaulichkeit Gottes umzugehen, denn natürlich geht es nicht um größere und kleinere Teile von Gott, die alles Denkbare übersteigt, sondern um Gottes Sein, das nicht quantifizierbar ist, sich aber auch allen anderen Möglichkeiten menschlicher Veranschaulichung entzieht.

Jedes Bild von Gott ist Gott immer unähnlicher als ähnlich.

Die Relativierung jedes Bildes von Gott bedeutet umgekehrt: Je weniger Bilder es für Gott in einer Religion gibt, desto mehr verpasst man von Gott. Wenn jedes Bild nur ein Mosaikstück von Gottes Wirklichkeit ist, dann wäre eine Vielzahl an Bildern enorm wünschenswert – und das würde gleichzeitig das Bewusstsein dafür wachhalten, dass es nur Bilder sind – nicht weniger, nicht mehr.

Ich halte es für einen lohnenden Ansatz, einmal zwei Beobachtungen zusammenzufügen: Die Gottesrede in den großen Kirchen in Deutschland ist relativ monoton geworden, sie kommt mit sehr wenigen und nahezu ausschließlich männlichen Bildern aus, lediglich der Geist Gottes schafft es in einigen Varianten, als weibliche Geistkraft wahrgenommen zu werden. Und: Die Gottesrede der großen Kirchen in Deutschland ist für die meisten Menschen nicht mehr relevant. Sie ist lebensfern, steril, autoritär, ohne sich Autorität verdient zu haben, und oft genug einfach langweilig.

Je weniger Bilder es für Gott in einer Religion gibt, desto mehr verpasst man von Gott.

Mir scheint, das hat damit zu tun, dass beim Sprechen über und mit Gott der Akzent auf dem Richtigen, Belegbaren, Sicheren liegt, also beim Behaupten und Argumentieren. Dann spricht man nicht in vielfältigen Bildern von Gott, sondern sauber und geordnet, und natürlich gendert man dabei männlich, weil das in unserem Sprachgebrauch eben die Form für das Allgemeingültige ist.

Ich möchte nun nicht das Klischee bedienen, dass das Emotionale, Gefühlsbetonte eine Domäne des Weiblichen sei. Mir scheint das auf alle Geschlechter hin zu einengend zu sein. Aber an der männlichen Sprachdominanz lässt sich zumindest ein Fehlen ausmachen: Wenn Gebetssprache vor allem richtig und korrekt sein will und sich auf der Ebene der philosophischen Argumentation bewegt, dann kommen wichtige Momente des Menschseins in dieser Gebetssprache nicht zum Zug: Beim Beten werden Selbstkonzept und Selbstgefühl berührt, hier spielt das Empfinden genauso eine Rolle wie das Unbewusste. Und für diese Ebenen ist Gender ein wesentlicher Begriff, weil die Geschlechtsidentität eines Menschen einen großen Teil seiner Prägung ausmacht, weil hier wesentliche Auseinandersetzungen mit kulturellen Vorgaben stattfinden. Darum ist es so überraschend herzöffnend, wenn Gott einmal weiblich gegendert wird, und fühlen sich Menschen davon in ganz unerwarteter Weise berührt und gemeint.

Es ist so überraschend herzöffnend, wenn Gott einmal weiblich gegendert wird. Menschen fühlen sich  davon in ganz unerwarteter Weise berührt und gemeint.

Denn von Gott zu sprechen, heißt natürlich auch, vom Menschen zu sprechen. Und wenn man der Schwerkraft der männlichen Sprachformen in Bezug auf Gott folgt, dann hat das Auswirkungen auf alle nicht-männlichen Beter*innen. Sie sind dann die mitgemeinten Auch-Menschen, nie so gottgleich und gottfähig wie Männer, sie müssen sich über Umwege identifizieren und ihr Eigenes erst als von Gott gewollt und geliebt verstehen lernen.

Eine weibliche oder Geschlechtergrenzen ganz überschreitende Gottesrede würde die Chance eröffnen, beim Beten mehr zu tun als etwas Richtiges zu sagen. Es würde nicht nur die Gottesvorstellungen weiten und diskriminierte menschliche Geschlechtsidentitäten aus der Diskriminierung holen, weil es Menschen, die nicht männlich sind, einen unmittelbareren Zugang zum Göttlichen erschließen würde, den Männer mit männlicher Gottesrede schon sehr lange sehr selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen und für normal halten. Sondern es würde auch die Ebene des Spielerischen und Vorläufigen, der Ahnungen und der Träume mit einbeziehen. Es würde so Menschen auf einer anderen Ebene als der des rationalen Verstehens ansprechen und mitnehmen, und zugleich eine Form der Patriarchats- und Herrschaftskritik wieder bestärken, die verloren zu haben den Kirchen in Deutschland nun sehr zu Schaden kommt, weil ihr damit auch ihr utopisches Potential abhanden gekommen ist.

Die Chance, beim Beten mehr zu tun als etwas Richtiges zu sagen.

Natürlich hat Gott kein Geschlecht. Aber Geschlecht ist für Menschen eine bedeutende Wirklichkeit und Genderoffenheit in Bezug auf Gott ändert mehr als die grammatikalische Gestalt eines Gebetstextes. Es stellt patriarchale Deutungsmonopole infrage und holt die Gottesrede aus der Sackgasse des richtigen, aber eben auch so erwartbaren Sprechens hinaus. Letztlich sind weibliche Gottesanreden – Gott Freundin, Gott Schwester, Gott Retterin – gar nicht so spektakulär. Dennoch passiert eine Menge, wenn sie geläufiger werden.  Die Bewegung wahrzunehmen, die sie auslösen, ist etwas sehr Berührendes und es gibt eine Ahnung davon, zu welcher Freiheit und Weite ein Gottesglaube jenseits der Herrschaftslegitimation führen kann.

futur2 möglich machen

Hinter der futur2 steht ein Verein, in dem alle ehrenamtlich arbeiten.

Für nur 20 € pro Jahr machen Sie als Mitglied nicht nur die futur2 möglich, sondern werden auch Teil eines Netzwerks von Leuten, die an der Entwicklung von Kirche und Gesellschaft arbeiten.

» MEHR ERFAHREN