012020

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Konzept

Max Moll

Zuhören in Vielfalt

Download | Sprecher: Uli Keip

1. Was halten wir noch aus?

Es scheint, dass immer weniger ausgehalten wird. Im Gegenteil wird gerade in der heutigen Zeit versucht, Spannungsverhältnisse einseitig aufzulösen. Es wird versucht, die Welt in Schwarz und Weiß, in Veganer und Fleischesser, in Einheimische und Flüchtlinge, in Auto- und Radfahrer und so fort, aufzuteilen. Und zwischen diesem Schwarz und Weiß verschwinden die bunten Farben, die Grauzonen, die Abstufungen und die Differenzen. Auch in der katholischen Kirche scheinen diese Graustufen immer mehr zugunsten von Extrempositionen verdrängt zu werden. Beispielsweise die Konzentration auf Glauben im Sinne des Katechismus der katholischen Kirche auf der einen oder die Betonung des Sozialen auf der anderen Seite. Dabei wurde sich innerhalb der katholischen Kirche in der historischen Vergangenheit zumindest bemüht, diese Spannungen nicht einseitig oder unbedacht aufzulösen, wie das der Denkansatz des „et-et“, deutlich macht. Und so sollten sich die Kirche und die Menschen, die sich zu ihr zählen, auch heute noch zwischen diese Polarisierungen begeben und diese ganz im Sinne eines „sowohl als auch“ auszuhalten versuchen. Sie sollten Kompromisse aushandeln, Diskussionen und Austausch ermöglichen und sich dabei sowohl auf die Tradition als auch auf den heiligen (Zeit-)Geist beziehen und damit eine Vielfalt in Einheit ermöglichen.

2. Egalitäre Differenz – theoretische Gedanken

Aus theoretischer Sicht betrachtet kann dieses Aushalten, diese Vielfalt in Einheit mit dem Ausdruck der egalitären Differenz in Verbindung gebracht werden. Die von Annedore Prengel geprägte egalitäre Differenz versteht sich als normative Leitidee einer „Pädagogik der Vielfalt“ (vgl. beispielsweise Prengel 1995, 2001). Der Begriff bezeichnet keine Gleichmacherei, sondern macht die Dialektik von Gleichwertigkeit und Unterschiedlichkeit deutlich. In diesem Spannungsfeld zeichnen sich Denk- und Handlungsprozesse durch ihre Multiperspektivität und Heterogenität aus. Prengel (2001, S. 93) stellt dieses Spannungsfeld wie folgt dar: „Egalität und Differenz werden nicht als gegensätzlich, sondern als einander wechselseitig bedingend verstanden“. Innerhalb dieses Spannungsfeldes sollen nach Prengel jegliche Perspektiven, Präferenzen und Handlungsoptionen, also nicht nur die Handlungen selbst, sondern bereits der Vorgriff auf diese Handlungen in Verbindung mit den individuellen Einstellungen und den zusammenhängenden Handlungen als gleichwertig angesehen werden.

Egalität und Differenz werden nicht als gegensätzlich, sondern als einander wechselseitig bedingend verstanden.

Diese Gleichwertigkeit, die sich auf die Dialektik zwischen Gleichheit und Verschiedenheit bezieht, macht Prengel (2010) mit folgenden Worten deutlich:

„Die Prinzipien von Gleichheit und Verschiedenheit sind unauflöslich miteinander verbunden, beide bedingen einander. Gleichheit ohne Differenz wäre Gleichschaltung, und Differenz ohne Gleichheit wäre Hierarchie. So einsichtig dieser Zusammenhang ist, so schwierig ist es doch, gedanklich seine Komplexität aufrechtzuerhalten und diese nicht einseitig aufzulösen.“ (Prengel 2010, S. 6)

Und weiter:

„Gleichheitsvorstellungen ohne Ausgrenzungen implizieren die Akzeptanz gleichwertiger Differenzen und gehen damit über die Gleichheitsvorstellungen, die nur für Gleichartiges gelten und Abweichendes ausgrenzen, qualitativ hinaus. Gleichheit als Gleichwertigkeit des Differenten stellt damit erst die Einlösung der mit dem universell formulierten, aber nur reduziert gemeinten Gleichheitsbegriff verbundenen Versprechungen dar“ (Prengel 1995, S. 47).

Während Prengels Perspektive eher auf Spannungsfelder im Allgemeinen zielt, wird mit Niklas Luhmanns Inklusionsbegriff im Folgenden deutlich, was Einheit in Vielfalt mit Blick auf ein soziales System konkret ausmachen kann. Nach Luhmann bedeutet Inklusion „Teilhabe an Kommunikation“ (Luhmann 1991), wobei Kommunikation die dreistellige Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen bezeichnet und eine selbstreferenzielle Operation sogenannter sozialer Systeme ist. In diesen sozialen Systemen, etwa innerhalb des großen Systems katholische Kirche, das allein wegen seiner Größe zwangsläufig durch Heterogenität geprägt ist, bedeutet Inklusion in so vielen Momenten wie möglich, Teilhabe an der dreistelligen Operation aus „Information, Mitteilung und Verstehen“, also Kommunikation zu ermöglichen.

Wo nur Einigkeit existiert, muss auch nicht mehr kommuniziert werden


Die beiden Ausgangspunkte Teilhabe an Kommunikation und egalitäre Differenz lassen sich wie folgt zusammenführen: Wenn Teilhabe an Kommunikation ermöglicht und gleichzeitig eine Gleichwertigkeit des Ungleichen als Voraussetzung angenommen wird, führt dies gerade in heterogen geprägten Systemen zu einem Mehrwert. Denn in solchen Systemen wird in besonderer Weise ernst genommen, dass es in der Kommunikation zu Widersprüchen, Uneinigkeit, Diskussionen und auch zu Bedeutungsaushandlungen usw. kommen kann. Eine solche Vielfalt kann dazu beitragen, dass das soziale System, in diesem Fall die katholische Kirche, bestehen bleibt und die Kommunikation nicht zusammenbricht. Zugespitzt formuliert, wo nur Einigkeit existiert, muss auch nicht mehr kommuniziert werden und Gedanken müssten nicht mehr ausgetauscht und ausgehandelt, hinterfragt, o. Ä. werden. In einem solchen Fall würde der Prozess der Kommunikation als Interaktion zusammenbrechen und letztlich wäre das soziale System nur noch Selbstzweck. Denn wo keine Kommunikation ermöglicht wird oder stattfindet, kann auch keine Teilhabe an dieser vorhanden sein.

3. Und nun? Zuhören – Die Unverzweckheit von Begegnungen

Die katholische Kirche ist in ihrer globalen Gesamtheit bereits durch eine überaus große Heterogenität geprägt. Das macht beispielsweise das nachsynodale Schreiben „Querida Amazonia“ deutlich. Weitergedacht lässt sich innerhalb und zwischen einzelnen Bistümern oder lokal in einzelnen Pfarrgemeinden eine Heterogenität, eine Vielfalt, feststellen. Oder anders formuliert, innerhalb des großen sozialen Systems „Katholische Kirche global“ existieren zahlreiche weitere soziale Systeme, die jeweils durch die sie durchdringende Verschiedenheit geprägt sind. Das Prinzip der egalitären Differenz lädt dazu ein, diese Verschiedenheiten ganz im Sinne eines „et-et“ ernst zu nehmen und sie nicht einseitig aufzulösen.
Wird die Gleichwertigkeit des Ungleichen ernst genommen, so dürfen und können Begegnungen insbesondere mit Menschen jenseits bestehender kirchlicher Strukturen nicht verzweckt werden. Es darf in solchen Dialogen und Gesprächen zuallererst nicht darum gehen, Menschen mit der Glaubenslehre in Kontakt zu bringen oder ihnen etwas sagen zu wollen. Zunächst gilt es, soweit es möglich ist, unvoreingenommen den Menschen zuzuhören. Zu hören, welche Informationen mein Gegenüber mir mitzuteilen hat. Welche Geschichte dieser Mensch in seinem Leben erlebt hat und mitteilen möchte, was vielleicht Gründe für sein Handeln sind. Welche Fragen der Mensch in sich trägt und welche vielleicht auch existenziellen Antworten er für sein Leben geben kann. Im Abschlussdokument zur Jugendsynode (2018) heißt es, dass „Zuhören eine Begegnung der Freiheit, die Demut, Geduld, Verständnisbereitschaft [ist] und das Bemühen erfordert, Antworten neu zu formulieren.“

Wo Vielfalt in ihrer Verschiedenheit ernst genommen wird, werden dynamische Veränderungsprozesse angetrieben.

Letztlich können solche Begegnungen des Zuhörens Teilhabe an Kommunikation ermöglichen und damit auch einem selbst etwas sagen. Denn in den Momenten des Zuhörens wird das eigene Verstehen mit Blick auf die mitgeteilte Information geprägt. Ähnlich hat es Bischof Klaus Hemmerle (1983) formuliert: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe“ (Hemmerle 1983, S. 309). Zuhören trägt damit in besonderer Weise dazu bei, dass nicht nur Einigkeit existiert. Zuhören zwingt dazu, sich der Vielfalt zu stellen und sich in und zwischen die Positionen innerhalb der Vielfalt hineinzubegeben.

Wo Vielfalt in ihrer Verschiedenheit ernst genommen wird, werden dynamische Veränderungsprozesse angetrieben. Für die Kirche und ihre Menschen könnte dies bedeuten, dass in besonderer Weise ernst genommen wird, dass sie eine „Ecclesia semper reformanda est“. Denn wer Vielfalt ernst nimmt, muss in dem Lichte dieser Vielfalt seine eigenen Haltungen, Antworten, Perspektiven verrücken und verändern. Und zwar nicht nur einmalig, sondern dynamisch, immer wieder neu.

Ganz konkret könnte ein Primat des Zuhörens dann beispielsweise in einer Firmvorbereitung realisiert werden, indem beispielsweise die Katecheten ihre Türen und Herzen öffnen, um zunächst zuzuhören. Sie könnten sich so den Hoffnungen, Träumen, Sehnsüchten, Fragen, Zweifeln, Zerrissenheiten, Verletzungen und Provokationen der jungen Menschen aussetzen und damit „die Ängstlichkeit abzulegen, um dem anderen in die Augen zu sehen und zuzuhören, oder auf die Dringlichkeiten zu verzichten, um den zu begleiten, der am Straßenrand geblieben ist“ (Evangelii Gaudium 46). Es gilt Ernst zu nehmen, dass das Herz der jungen Menschen heiliger Boden ist, vor dem wir „unsere Schuhe ausziehen müssen“ (Christus Vivit 67). Die Inhalte einer solchen Vorbereitung basieren damit nicht auf vorgefertigten Themenblöcken, sondern ergeben sich aus der Interaktion, aus den Fragen und Antworten der jungen Menschen.

Ist nun alles beliebig, alles gleich viel wert? Mitnichten, denn wie im oben genannten Zitat von Prengel auch deutlich wird, wäre „Gleichheit ohne Differenz Gleichschaltung“. Es braucht in der Gleichwertigkeit auch das Unterschiedliche. Es ist notwendig, sich sowohl auf die individuellen Lebenswirklichkeiten einzulassen und diese in ihrer Einzig- und Eigenartigkeit Ernst zu nehmen als auch die jeweils eigene Position im Lichte dieser Lebenswirklichkeiten zu vertreten. „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt“ (1. Petr 3.15).

Literatur

Hemmerle, Klaus (1983): „Was fängt die Jugend mit der Kirche an? Was fängt die Kirche mit der Jugend an?“, in: Internationale Katholische Zeitschrift 12.

Luhmann, N. (1991): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 4. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 666.

Franziskus (2013): Apostolisches Schreiben: „Evangelii Gaudium“, an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute.

Franziskus (2019): Nachsynodales apostolisches Schreiben „Christus Vivit“ an die jungen Menschen und an das ganze Volk Gottes.

Prengel, A. (1995): Pädagogik der Vielfalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Prengel, A. (2001): Egalitäre Differenz in der Bildung. In: Lutz, Helma / Wenning, Norbert (Hg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 93–107.

Prengel, A. (2010): Wieviel Unterschiedlichkeit passt in eine Kita? Theoretische Grundlagen einer inklusiven Praxis in der Frühpädagogik. Vortragstext Fachforum Inklusion, Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, Deutsches Jugendinstitut, München 29.6.2010, URL: http://www.weiterbildungsinitiative.de/uploads/media/WiFF_Fachforum_Inklusion_Impulsreferat_Prof._Dr._Prengel.pdf.

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