Verantwortung für Gerechtigkeit und Teilhabe
Ein sozialethischer Essay
1. Gerechtigkeiten
Vergegenwärtigt man sich aktuelle öffentliche Debatten, schaut man in soziale Medien oder lässt die Gespräche im Freundes- und Bekanntenkreis Revue passieren, so stößt man häufig auf moralische Empörungen über Ungerechtigkeiten aller Art. Vor allem extreme Ungleichheiten, die sich nicht auf unterschiedliche Leistungen oder Verdienste zurückführen lassen, werden als Ungerechtigkeiten wahrgenommen. Viel schwieriger ist es demgegenüber, zu definieren, was man denn unter Gerechtigkeit verstehen solle.
Traditionell unterscheiden wir mindestens seit Aristoteles verschiedene Arten von Gerechtigkeit.1 Bei der Tauschgerechtigkeit achten wir darauf, dass sich Geben und Nehmen die Waage halten. Dabei geht es nicht immer um direkte und gleichzeitige Reziprozität wie beim Kauf von Waren gegen Geld oder bei einer Arbeitsleistung gegen Lohn. Oft findet Reziprozität indirekt statt und zeitlich versetzt, beispielsweise wenn Menschen, die selbst einmal im Ausland große Gastfreundschaft erfahren haben, diese nun Ausländern in Deutschland „zurückgeben“ wollen oder wenn im Rahmen eines Generationenvertrags eine Generation ihre Eltern versorgt, um später selbst von ihren Kindern versorgt zu werden. Bei der Verteilungsgerechtigkeit geht es darum, welche Ansprüche Menschen als Mitglieder eines Gemeinwesens diesem Gemeinwesen gegenüber haben. Dabei können Güter nach Bedarf verteilt werden (z. B. Gesundheitsleistungen), insbesondere Rechte werden weitgehend gleich verteilt (z. B. das Wahlrecht für Erwachsene oder das Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum), andere Güter nach Leistung und Eignung (z. B. Zugänge zu höheren Bildungseinrichtungen).
Dass diese Gerechtigkeiten eng miteinander zusammenhängen, kann man daran erkennen, dass das Wahlrecht und andere Beteiligungs- und Freiheitsrechte nur von denen wirklich wahrgenommen werden können, die nicht ständig um ihr Überleben kämpfen müssen, deren Existenzminimum also gesichert ist. Negative Rechte stehen in Verbindung mit positiven Pflichten eines Gemeinwesens, das die Einzelnen aktiv gegen die Verletzung dieser Rechte schützen muss. Auch setzt Leistungsgerechtigkeit faire Chancengleichheit voraus, weil es unter Bedingungen von Diskriminierung aller Art unfair wäre, die Verteilung an einer Leistung auszurichten, wenn nicht für alle die gleichen Anfangsbedingungen gelten. Tauschgerechtigkeit lässt sich nur unter Freiheitsbedingungen realisieren, d.h. wenn nicht bestimmte Anbieter oder Nachfrager über ein Monopol verfügen oder aus anderen Gründen die Macht haben, andere zu zwingen, einen möglicherweise ungünstigen Tausch zu akzeptieren.
Traditionell unterscheiden wir mindestens seit Aristoteles verschiedene Arten von Gerechtigkeit.
Nicht alle Gerechtigkeiten sind freilich in gleicher Weise dringlich (vgl. Kruip 2004). Am wichtigsten sind m. E. die Freiheitsrechte und die politischen Beteiligungsrechte, die jedoch zugleich mit dem Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum kombiniert werden müssen, weil sie sonst in der Realität nichts wert wären. Danach folgt die faire Chancengerechtigkeit, weil sonst Leistungsgerechtigkeit nicht möglich wäre. Anreize zu höherer Leistung werden aber benötigt, um in einer Gesellschaft eine wirtschaftliche Dynamik zu erzeugen, die letztlich allen zugutekommen kann. Eine gewisse Ungleichheit kann und muss deshalb durchaus akzeptiert werden. Aber eine ungleiche Verteilung von Gütern, die auf adlige Herkunft oder die Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen, nicht aber auf Leistung zurückzuführen wäre, wäre sicherlich nicht gerecht. Umgekehrt würde jedoch eine Verteilung allein auf Grund von Leistung den legitimen Ansprüchen derjenigen nicht gerecht, die nicht (so viel) leisten können, trotzdem aber den berechtigten Anspruch haben, dass bestimmte Bedarfe befriedigt werden. Deshalb braucht es zusätzlich auch noch eine soziale Absicherung für diejenigen, die sich z. B. als „Marktpassive“ an der Leistungsgesellschaft nicht so beteiligen können, sodass sie nicht ausgeschlossen werden.
Schließlich ist es aus Gerechtigkeitsgründen notwendig, dass der Staat öffentliche Güter (wie z. B. eine gute Verkehrsinfrastruktur, öffentliche Sicherheit oder eine gesunde Umwelt) bereitstellt und die Lasten für deren Finanzierung in fairer Weise über Steuern auf die Bürgerinnen und Bürger (nach deren Leistungsfähigkeit) verteilt. Denn wenn es an solchen öffentlichen Gütern mangelt, leiden besonders die Schwachen in einer Gesellschaft. Da man von der Nutzung öffentlicher Güter ihrem Wesen entsprechend niemanden ausschließen kann, reichen privat, durch Eigeninteressen motivierte Initiativen in der Regel nicht aus, um ein ausreichendes Angebot an öffentlichen Gütern bereitzustellen. Und selbst wenn einzelne zu einer freiwilligen Leistung dazu bereit wären, wäre es ungerecht, dass sich viele als Trittbrettfahrer an den entsprechenden Kosten nicht beteiligen.
Man kann m. E. zeigen, dass alle Gerechtigkeiten Beteiligung verlangen und damit auf Beteiligungsgerechtigkeit verweisen, wenn sie real sein sollen.
Man kann m. E. zeigen, dass alle Gerechtigkeiten Beteiligung verlangen und damit auf Beteiligungsgerechtigkeit verweisen, wenn sie real sein sollen. Eine bloße Alimentierung von arbeitslosen Menschen, die gerne arbeiten und sich auf diese Weise beteiligen würden, aber keine Arbeit finden, ist ungerecht, ebenso wie es zu Ungerechtigkeiten führen muss, wenn bei der Ausgestaltung eines sozialen Sicherungssystems die Bürgerinnen und Bürger kein Recht auf politische Beteiligung hätten, um die nötigen Transferleistungen im demokratischen Prozess festzulegen. In allen Fällen lassen sich Rechte nur wahrnehmen, wenn man über ein gewisses Maß an Bildung verfügt. Auch die politische Beteiligung und die Beteiligung am Arbeitsmarkt hängen stark von der Bildung ab. Wer gebildet ist, kann auch mit knappen ökonomischen Ressourcen besser umgehen und wird gesünder leben. Er oder sie wird in der Lage sein, den eigenen Kindern für ihr späteres Leben größere Chancen mitzugeben. Es gibt sogar eindeutige Korrelationen zwischen dem Bildungsgrad und der Lebenserwartung. Deshalb werden alle anderen Gerechtigkeiten ausgehöhlt, wenn es keine Bildungsgerechtigkeit2 gibt. Auch wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schon 1948 in Artikel 26 ein „Menschenrecht auf Bildung“ formuliert hat, ist die Notwendigkeit von Bildungsgerechtigkeit erst in den letzten Jahren stärker ins allgemeine Bewusstsein getreten.
2. Besondere Herausforderungen heute
In welchen konkreten Formen Gerechtigkeit realisiert werden kann, hängt stark von den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Nomadengesellschaften, frühe Agrarkulturen, antike Stadtgesellschaften oder mittelalterliche Feudalgesellschaften standen vor ganz anderen Problemen als unsere gegenwärtige postmoderne oder spätmoderne Gesellschaft.3 Heute nimmt die Pluralität von Weltanschauungen, Religionen und Moralsystemen ständig zu, entsprechend haben die einzelnen Menschen heute mehr Freiheiten und mehr Möglichkeiten, stehen aber vor der Herausforderung, trotz dieser Unübersichtlichkeit eine persönliche Identität auszubilden, die sie handlungsfähig werden lässt und in die Lage versetzt, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Mit der Pluralität wachsen auch die Konflikte und die Notwendigkeit, über Differenzen hinweg Anerkennung zu geben und zu bekommen. Während damit die Anforderungen an übergreifende Solidarität wachsen, um in solchen Gesellschaften noch friedlich und gerecht zusammenzuleben zu können, wachsen offenbar auch die Schwierigkeiten, Gefühle der Zusammengehörigkeit zu fördern, auf deren Basis Menschen zur Solidarität bereit sind. Verschärft werden diese Probleme durch die Eigendynamiken einer Mediengesellschaft, in der die Ökonomie der Aufmerksamkeit die Kontraste und Konflikte realitätsfern überzeichnet und damit nicht gerade die Möglichkeiten der Verständigung stärkt. Das Internet und die sozialen Medien fördern zudem Prozesse, die zu einer Segmentierung der Öffentlichkeit führen und die Kommunikation über unterschiedliche Gruppen mit ihren jeweiligen Sonderthemen und Sonderinteressen hinweg erschwert (vgl. u. a. Filipovic 2007). So haben wir es zunehmend in der Öffentlichkeit aktuell mit enormen Rationalitätsverlusten zu tun. Doch damit nicht genug der Schwierigkeiten: Heute können Gerechtigkeitsprobleme nicht mehr allein von den Nationalstaaten für ihren jeweiligen Binnenraum gelöst werden, sondern müssen als zunehmend globale Probleme auch global, d. h. in internationaler Zusammenarbeit angegangen werden (Mack et al. 2009).
Heute können Gerechtigkeitsprobleme nicht mehr allein von den Nationalstaaten für ihren jeweiligen Binnenraum gelöst werden
In der katholischen Sozialverkündigung spielt der Gedanke der Einheit der Menschheit als Familie der Kinder Gottes eine zentrale Rolle (Kruip 2009). Schon Papst Johannes XXIII schrieb weit vorausschauend in seiner ersten Sozialenzyklika Mater et Magistra 1961, zu einer Zeit, als die Globalisierung noch gar nicht so weit vorangeschritten war wie heute: „Wenn nun die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in allen Teilen der Welt heute so eng geworden sind, dass sie sich gleichsam als Bewohner ein und desselben Hauses vorkommen, dann dürfen die Völker, die mit Reichtum und Überfluss gesättigt sind, die Lage jener anderen Völker nicht vergessen, deren Angehörige mit so großen inneren Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dass sie vor Elend und Hunger fast zugrunde gehen und nicht in angemessener Weise in den Genuss der wesentlichen Menschenrechte kommen.“ (MM 157) In der Konzilskonstitution Gaudium et Spes von 1965 heißt es: „Aus der immer engeren und allmählich die ganze Welt erfassenden gegenseitigen Abhängigkeit ergibt sich als Folge, dass das Gemeinwohl […] heute mehr und mehr einen weltweiten Umfang annimmt und deshalb auch Rechte und Pflichten in sich begreift, die die ganze Menschheit betreffen. Jede Gruppe muss den Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen anderer Gruppen, ja dem Gemeinwohl der ganzen Menschheitsfamilie Rechnung tragen.“ (GS 26) Auch Paul VI. nahm in seiner Enzyklika Populorum Progressio (PP) (1967) den Standpunkt globaler Gerechtigkeit ein, als er die zentrale sozialethische Problemanzeige des 19. Jahrhunderts auf die Gegenwart bezog: „Heute ist – darüber müssen sich alle klar sein – die soziale Frage weltweit geworden.“ (PP 3) Der Begriff einer „integralen“ Entwicklung impliziert nämlich nicht nur eine „umfassende“ Entwicklung für jeden einzelnen Menschen, sondern zugleich eine „solidarische“ Entwicklung „für die Menschheit.“ (PP 5) Oder, an anderer Stelle: „Die allseitige Entwicklung des Einzelmenschen muss Hand in Hand gehen mit der Entwicklung der gesamten Menschheit.“ (PP 43)
Wenn das richtig ist, dann sind die Armen in den ärmsten Ländern weltweit auch „unsere“ Armen, und das nicht erst dann, wenn sie es gegen alle Abschottungsversuche schaffen, doch zu uns zu kommen. Dann darf uns deren Schicksal genauso wenig kalt lassen wie das Schicksal der Armen, die unter uns leben. Dann müssen wir als Nation nicht nur nach innen für mehr Gerechtigkeit sorgen, sondern uns auch darum kümmern, dass weltweit die Verhältnisse verbessert werden.
3. Die Verantwortung der Kirche und der Christen für Gerechtigkeit
Was Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger ist, ist sicherlich auch Verantwortung der Christinnen und Christen und der christlichen Kirchen als Religionsgemeinschaften (Kruip 2015). Dem christlichen Glauben geht es ja nicht in erster Linie um individuelle Frömmigkeit oder gemeinsam vollzogene religiöse Kulte, sondern um den tatkräftigen Einsatz für Menschlichkeit und Gerechtigkeit, weil man anders nicht glaubwürdig von einem barmherzigen und gerechten Gott Zeugnis ablegen kann. In Evangelii gaudium hat Papst Franziskus mit Bezug auf die berühmte Gerichtsrede in Mt 25 mit allem Nachdruck den „absolute[n] Vorrangigkeit des ‚Aus-sich-Herausgehens auf den Mitmenschen zu‘“ (EG 179) betont. Wenn Glaubenspraxis aber in erster Linie Einsatz für Menschlichkeit und Gerechtigkeit bedeutet, kann der Glaube nur dadurch konkret werden, dass sich die Gläubigen auch öffentlich für diese Ziele einsetzen, sich politisch einmischen, in der Öffentlichkeit sichtbar und hörbar ihre Stimme erheben. Tatsächlich leisten kirchliche Hilfswerke und katholische Verbände hierzu bereits eine ganze Menge (Kruip 2013). Beide großen christlichen Kirchen in Deutschland haben auch im Rahmen der „Ökumenischen Sozialinitiative“ den kirchlichen Einsatz für Gerechtigkeit immer wieder bekräftigt (Evangelische Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2015). Die christliche Sozialethik ist deshalb notwendigerweise vor allem eine Theorie umfassender Gerechtigkeit (Wiemeyer 2015). Jedoch habe ich den Eindruck, dass im Zuge eines Prozesses der Milieuverengung in den Pfarrgemeinden das christliche Engagement für Gerechtigkeit dort etwas aus dem Blick geraten ist. Zumindest ist die Verbindung eines solchen Gerechtigkeitsengagements mit den auf den inneren Zusammenhalt gerichteten Aktivitäten und den liturgischen Feiern in den Gemeinden lockerer geworden. Christliche Gemeinden können ihren Einsatz für Gerechtigkeit aber nicht einfach an Sonderorganisationen delegieren, wenn sie nicht ihre Identität verlieren wollen.
Wenn Glaubenspraxis aber in erster Linie Einsatz für Menschlichkeit und Gerechtigkeit bedeutet, kann der Glaube nur dadurch konkret werden, dass sich die Gläubigen auch öffentlich für diese Ziele einsetzen, sich politisch einmischen, in der Öffentlichkeit sichtbar und hörbar ihre Stimme erheben.
Damit ist ein Problemfeld angesprochen, das einem in solchen Debatten immer wieder begegnet. Vor dem Hintergrund der postmodernen Mediengesellschaft und aktuellen Marketingkonzepten wird auch innerhalb der Kirche häufiger die Forderung nach einem besonderen „Profil“ und einem „Alleinstellungsmerkmal“ erhoben (Kruip 2002). Ich halte solche Überlegungen für hoch problematisch. Denn die christliche Botschaft spricht alle an. Die Kirche muss offen sein für alle. Ihre Botschaft nimmt für sich in Anspruch, eine für alle Menschen attraktive und einsehbare Wahrheit zu verkünden und sie durch eine Praxis der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu bezeugen, die alle Menschen einschließt. Als Christen wollen wir gerade nicht die Differenzen betonen und anders sein als die anderen, sondern zusammen mit anderen, auch von ihnen lernend, für eine bessere Welt eintreten. Wir wollen dabei andere mitreißen, mit dieser Praxis gerade nicht allein bleiben. Sollte eine solche Praxis in einer bestimmten Situation tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal sein, müssen gerade Christen intensiv daran arbeiten und dafür werben, dass es das möglichst nicht lange bleibt – entweder, indem sie die anderen überzeugen, oder, was historisch leider auch schon des Öfteren nötig war, erkennen, dass sie sich in ein moralisches oder religiös-dogmatisches Abseits hineinmanövriert haben und deshalb an der Reform ihrer eigenen Auffassungen und Organisationsstrukturen arbeiten müssen.
Die katholische Kirche hätte als „global Player“ ein großes Potenzial, sich stärker im Einsatz für Gerechtigkeit auf nationaler und globaler Ebene zu engagieren. Ihre sozialkatholische Tradition, besonders auf der Basis des Verbandskatholizismus in Deutschland, ihre eigene Soziallehre, ihre weltweite Verflechtung und ihre Fähigkeit zur Präsenz in den unterschiedlichsten Kulturen macht sie zu einem Akteur, der für weltweite Solidarität stehen und eintreten könnte und entsprechende Begegnungs- und Austauschprozesse verstärkt organisieren könnte. Was hier möglich ist, welches Aktivierungspotenzial sie besitzt, kann man derzeit unter anderem an ihrem Engagement für die Migranten beobachten. Ihre Akademien und andere Bildungseinrichtungen könnten wertvolle Räume für die nötigen diskursiven Verständigungs- und Lernprozesse zur Verfügung stellen. Die moralische Autorität ihrer Verantwortlichen wäre ein überaus wichtiges Potenzial für verstärktes anwaltschaftliches Engagement.
4. Was Kirche an sich ändern muss
Damit die katholische Kirche in die Lage versetzt wird, die genannten Herausforderungen anzunehmen, muss sie freilich auch viel an sich selbst ändern.
Damit die katholische Kirche in die Lage versetzt wird, die genannten Herausforderungen anzunehmen, muss sie freilich auch viel an sich selbst ändern. Seit dem Missbrauchsskandal 2010, dem Theologenmemorandum 2011 (Heimbach-Steins et al. 2011) und der Wahl von Papst Franziskus 2013 ist in dieser Richtung erfreulicherweise bereits viel in Bewegung gekommen. Wenn Kirche für mehr Beteiligung eintreten will, muss sie auch die Beteiligung von Laien an den eigenen Sozialformen und Entscheidungsstrukturen verbessern. Eine echte Synodalität der Kirche, wie sie auch der Papst fordert (Franziskus [Papst] 2015a), kann eben nicht nur bessere Beteiligungsmöglichkeiten von Bischöfen meinen, sondern muss das gesamte Volk Gottes umfassen. Von besonderer Bedeutung scheint mir die konsequente Gleichstellung von Frau und Mann zu sein. Frauen allein deshalb von wichtigen Ämtern auszuschließen, nur weil sie Frauen sind, schadet der Glaubwürdigkeit der Kirche und führt zunehmend zu Entfremdungsprozessen vor allem zwischen der jüngeren Generation von gebildeten Frauen und der katholischen Kirche. Wenn Kirche dafür eintreten will, dass sich ihre Gläubigen in Gesellschaft und Politik engagieren, muss sie auch gewissen Tendenzen entgegensteuern, die in kulturpessimistischer Manier die Moderne, ja teilweise sogar demokratische Strukturen, Prinzipien und Institutionen ablehnen. Der wachsende Rechtskatholizismus (vgl. Püttmann und Bednarz 2015; Strube 2015) mit seiner Homophobie, seinen rückwärtsgewandten und restriktiven Vorstellungen von Sexualität und Familie, seiner ideologischen Kritik an einer vermeintlichen „Gender-Ideologie“ (vgl. Marschütz 2016) ist eine große Gefahr für das öffentliche Ansehen einer Kirche, die sich in unserer heutigen Gesellschaft für mehr Gerechtigkeit einsetzen will. Dabei hat sie intern auch mit großen Ungleichzeitigkeiten zu kämpfen. Das hat nach der letzten Synode der Bischöfe 2015 auch der Papst selbst deutlich angesprochen: In der Synode sei deutlich sichtbar geworden, „dass das, was einem Bischof eines Kontinents als normal erscheint, sich für den Bischof eines anderen Kontinents als seltsam, beinahe wie ein Skandal herausstellen kann – beinahe! –; was in einer Gesellschaft als Verletzung eines Rechtes angesehen wird, kann in einer anderen eine selbstverständliche und unantastbare Vorschrift sein; was für einige Gewissensfreiheit ist, kann für andere nur Verwirrung bedeuten.“ (Franziskus [Papst] 2015b, 37) Wird die katholische Kirche in der Lage sein, mit solchen Differenzen leben zu lernen und sie produktiv für ihre Aufgabe in der Welt nutzbar zu machen? Davon, wie sie diese Herausforderung bewältigt, ohne auszugrenzen, aber auch ohne in Beliebigkeit zu verfallen, wird in Zukunft viel abhängen.
- Vgl. zum Folgenden Gosepath 2004; Höffe 2001; Fischer und Kruip 2007; Kruip 2008.
- Vgl. dazu die verschiedenen, von Marianne Heimbach-Steins, Axel Bernd Kunze und mir herausgegebenen Bände der Reihe „Forum Bildungsethik“, zuletzt Kunze 2012 und Neuhoff 2015.
- Zeitdiagnosen sind schwierig und komplex, spielen für die Ethik aber eine große Rolle. Ich verweise nur auf Höhn 2006 und Schimank und Volkmann 2007.