22018

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Konzept

Hans-Hermann Pompe

Tief in der Relevanzkrise. Wie die Kirche Privilegien verlieren und Evangelium gewinnen kann

Im Zug von München nach Stuttgart. Bis Ulm sitzen vor mir zwei junge Frauen Anfang 30, aus deren Gespräch ich immer wieder Fetzen mitbekam: Studium, Seminare, Beruf, Kollegen. Irgendwann auch die Frage der Heirat. Kirchlich? Weiß ich noch nicht. Ich will ja aus der Kirche austreten. Wirklich? Ja, wenn ich sehe, was ich da an Steuern bezahle …

An der Kirchensteuer fällt vielen Menschen im Berufsleben irgendwann auf, dass die Kirche und das, wofür sie steht, keine Relevanz mehr für ihr Leben hat.

Da hatte ich wie im Brennglas ein zentrales Problem unserer kirchlichen Gegenwart. In der Generation zwischen 15 und 40 verlieren wir die meisten Mitglieder. Die Kirchensteuer ist bei den Austrittsgründen nach hinten gerutscht, aber man kann die Daten so deuten1: An der Kirchensteuer fällt vielen Menschen im Berufsleben irgendwann auf, dass die Kirche und das, wofür sie steht, keine Relevanz mehr für ihr Leben hat. Sie treten nicht wegen des Geldes aus, sondern weil sie keine Relevanz mehr für ihr Leben sehen. Die Kirchensteuer ist nur der Anlass, um Konsequenzen aus einer schleichenden Entfremdung zu ziehen. Auf diesen Megatrend haben die kirchlich Verantwortlichen bis heute keine befriedigende Antwort. Die Kirchen stecken tief in der Relevanzkrise.

1. Wasserscheide: Relevanz als spätmodernes Selektionskriterium

Nach der gründliche diskutierten These vom Verlust der großen tragenden Erzählungen bleibt in der Spätmoderne2 v. a. die persönliche Relevanz als Schlüsselkriterium übrig, um sich in einer unübersichtlich gewordenen Gegenwart zu orientieren. Viele Menschen fragen auch angesichts von Gott, Kirche und Glaube: Was habe ich davon? Was nützt es mir? Diese Frage ist zunächst gegen einen allzu schnellen Egoismus-Vorwurf zu schützen. Sie ist eine Wasserscheide, um die Lebensrichtung zu bestimmen, ein Selektionskriterium, um in der überfordernden Fülle von Informationen, Möglichkeiten und Angeboten einer globalisierten Welt einigermaßen verlässliche Entscheidungen treffen zu können. Und sie wird von Jesus im Munde seiner Jünger ausdrücklich als berechtigt anerkannt (Mt 19,27ff).

Aber die Spätmoderne ist, genauso wie andere Epochen vor ihr, irritiert, wenn sie ihrerseits vom Evangelium Jesu Christi in Frage gestellt wird. Die Relevanzfrage hat im Angesicht des Evangeliums auch etwas Ichzentriertes: Verantwortung für die Zukunft einer gefährdeten Welt ist damit leichter ausblendbar, der Horizont ist der von Individuum oder gemeinsamer Gruppe, betrifft die Interessen von Milieu, Kultur, Schicht, Nation, oder Erdteil. Relevanz als einziges und ausschließliches Kriterium tendiert zum Egoismus und braucht Befreiung, etwa zum größeren Denken für eine weltweite Solidarität.

2. Im Strudel: Gesellschaftlicher Umbruch trifft kirchliche Verunsicherung

Die wachsende Empfindung kirchlicher Irrelevanz hat erhebliche Ursachen in einigen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, auf die wir kaum Einfluss haben. Die Prozesse der Aufklärung und der Säkularisierung gehören inzwischen zum Erbe der westlichen Kultur, haben durch den in Bezug auf Glaubensbindung enorm wirksamen früheren Staatsatheismus der osteuropäischen Länder noch einmal einen kräftigen Schub erhalten und werden die Kirchen zumindest in Europa auf absehbare Zeit zu einer Minderheit machen.

Pluralismus ist gut für uns Christen.

Dies korrespondiert mit der abnehmenden Kraft institutioneller Bindungen. Peter L. Berger sieht die Institutionslogik in der offenen Gesellschaft deutlich auf dem Rückzug. Die De-Institutionalisierung führt vermehrt zu subjektiven Entscheidungen und lässt nur „schwache Institutionen“ zu: „Ein bestimmtes religiöses Bekenntnis wird nicht länger als selbstverständlich genommen, sondern resultiert aus dem Treffen einer Wahl (…) auf Seiten des Individuums“.3 Das ist für eine Kirche, die wie in Deutschland ihre Identität und Wichtigkeit immer noch stark in ihrem Institutionen-Charakter sieht, eine fatale Tendenz. Lapidar stellt Valentin Dessoy fest: „Die Kirchen haben als Institutionen oder gar als Organisationen in der postmodernen Gesellschaft keine Systemrelevanz“, und er fragt zu Recht, warum immer noch „die meiste Energie, der Löwenanteil der Ressourcen … in den Erhalt des Apparates“ gesteckt wird.“4 Peter Berger seinerseits ist gelassen in Bezug auf die Zukunft des christlichen Glaubens. Pluralismus sei gut für uns Christen, wir geraten wieder in die Position der ersten Christenheit, herausgefordert zum Glauben in einer pluralen Gesellschaft. Denn Pluralismus helfe uns dabei den Kern unseres Glaubens besser zu ergreifen.5

Innerkirchliche Ursachen für Relevanzverlust liegen ebenfalls auf der Hand. Es gibt eine Trägheit, die auf Verteidigung vergehender Privilegien setzt. Erschreckender ist in meinen Augen die Müdigkeit und Resignation vieler kirchlich Verantwortlichen der mittleren und älteren Generation, die nur noch auf die Pensionierung warten, aber Hoffnung auf Veränderung, Aufbruch längst aufgegeben haben. Ausstrahlung der kirchlichen Formate, Freude der Glaubenden, Attraktivität des Reiches Gottes? Fehlanzeige. Wie soll dann irgendein Funke auf Menschen überspringen, die nach dem Wert ihrer Mitgliedschaft fragen?

Paul M. Zulehner hat in einer Untersuchung in Österreich nachgewiesen, dass nicht unbedingt die kirchlichen Irritationen wie Missbrauch, schlechte Erfahrungen oder überholte ethische Positionen die Bindungen unterspülen, sondern schon und stärker noch die fehlenden Gratifikationen: fehlende Bindungen, ausbleibende Gratia.6 Es fehlen Erfahrungen von Gnade, Wert, Beziehung, Zuspruch oder Relevanz, die das Leben lebenswert, auf Gott neugierig und die Gemeinschaft interessant machen. Erneuerung beginnt nicht im Vermeiden oder der Reparatur von Irritationen, egal wie viel Scham und Betroffenheit kirchliche Amtsträger dann äußern mögen, sondern in einer Neuentdeckung des Evangeliums. Wir betreten „den weiten Raum der Freude Gottes“, denn es geht bei Gott um Freude, „Kraft zum Leben, Ermächtigung zur Liebe, Lust zum schöpferischen Anfang.“7

3. Evangelium: Die Relevanz der Kirche entsteht im Gefolge des Evangeliums

Erneuerung beginnt nicht im Vermeiden oder der Reparatur von Irritationen, sondern in einer Neuentdeckung des Evangeliums.

Die Kirchen geraten immer wieder in die Fallen der Versuchung, sich an die Stelle des Evangeliums zu setzen, um sich wichtig, relevant und damit notwendig zu machen – egal ob durch Verkündigung, Sakramente, Dienst, Kultur, Bildung o.ä. Das Gefälle zu dieser Wichtig-Macherei, kirchlicher Selbst-Imponierung, entsteht oft unmerklich, hat die Kirche Jesu aber immer begleitet: „Du hast den Namen, dass du lebst – und bist tot“ (Offbg 3,1).

Die Gesellschaft bestätigt die Kirche gerne in dieser Pose, entschärft die Kirche selber doch damit die Anstöße des Evangeliums, seine kulturkritischen Elemente, um nicht etwa diese Anerkennung samt ihren Privilegien aufs Spiel zu setzen. Biblisch ist etwas anderes belegt: Das Evangelium schafft und erhält sich seine Kirche, es wirkt Leben und Relevanz, und die Kirche dient ihm dabei. Glaube ist und bleibt eine Frucht des Geistes. Die Kirche hat eine abgeleitete Relevanz, sie ist wichtig, weil und indem sie das Evangelium verkündigt, öffentlich macht und lebt. Kirche ist eine Funktion von Evangelium – nicht umgekehrt.

Ist dies (zu) evangelisch gedacht? M. E. nicht. Ich erlebe in der römisch-katholischen Schwesterkirche eine breite Bewegung hin zu biblischen Texten, die ich meiner eigenen evangelischen Kirche in dieser Intensität nur wünschen kann. “Bibel teilen” etwa hat sich auch für die Evangelische Kirche als ein Geschenk Gottes erwiesen, das ihr hilft, ihr Leben aus der Hl. Schrift erneuern zu lassen. Solche Wirkungen nennen wir Evangelischen gerne “Re-Formation” – die Formel “ecclesia semper reformanda” ist ihrerseits längst in die Diskussion der katholischen Schwesterkirche eingewandert.

4. Indifferenz: Der neutrale Abstand kann zum Begegnungsraum werden

Das EKD-Zentrum für Mission in der Region hat in Folge der aktuellen EKD-Kirchenmitgliedschaftsstudie8 den Bereich der “Indifferenz” auf seine missionarischen Optionen durchgespielt. Indifferenz bedeutet für uns nicht Gleichgültigkeit oder Kirchenferne, sondern Unbestimmtheit9. Menschen haben zu Gott, Glaube, Kirche keine Meinung, weil sie deren Relevanz für ihr Leben nicht wahrnehmen können. Sie haben nichts gegen die Kirche, schätzen ihre sozialen Aktivitäten, sie erleben in Sozialraum, Kirchenjahr, Diakonie/Caritas oder Beratungsangeboten gelegentliche Begegnungen, aber mit ihrem Leben und ihrem Alltag, mit ihren Hoffnungen, Wünschen und Ängsten hat das alles nichts (mehr) zu tun. So lebt eine wachsende Zahl von Menschen hier unbestimmt zu den Kirchen und ihren Angeboten. Sie halten einen neutralen Abstand, lassen die Gottesfrage offen: Sie betrifft sie – jedenfalls derzeit – nicht.

Unter ihnen sind möglicherweise viele “Zachäusmenschen”. So nennt der tschechische Soziologe und Priester Tomas Halik Menschen auf Beobachterposten, in Distanz, weder dafür noch dagegen. „Sie stehen am Rande oder befinden sich hinter den sichtbaren Grenzen der Kirchen, in einer Zone von Fragen und Zweifeln, in jener seltsamen Landschaft zwischen den zwei abgeschotteten Lagern derer, die sich ‚im Klaren’ sind (nämlich selbstsichere Gläubige und selbstsichere Atheisten).“10

Welche Sprache verstehen Zachäusmenschen?

Wie oder besser wodurch werden sie erreicht? Und: wollen sie überhaupt “erreicht” werden – oder lieber aktiv beteiligt sein? Und: Wie dient die Kirche der Selbstrelevanz des Evangeliums am besten? Welche Sprache verstehen Zachäusmenschen? Doch vor allem die Sprache interessierter und liebevoller Beziehungen. Halik legt die Hürde hoch: eine Mission in der Welt religiösen Ungesichertseins muss „manche ihrer Sicherheiten über Bord werfen“, muss die Erfahrung ernst nehmen, “dass Gott nicht ganz leicht zu haben ist.“11 Zachäus ansprechen kann „nur einer, dem dieser im Feigenbaum versteckte Mann nicht fremd und unbekannt ist; der ihn nicht gering schätzt und ihm nicht gleichgültig ist“12.

Eine Konsequenz wäre, dass wir das Fragen neu lernen, bevor wir überhaupt Antworten des Evangeliums wagen: Begegnung mit Indifferenten als gemeinsame Expedition zum gelingenden Leben, als möglicher gemeinsamer Begegnungsraum mit den Schätze des Evangeliums. Etwas Ähnliches nennt Rainer Bucher die Doppelbewegung von „Sich-Aussetzen“ und „vertiefter Erinnerung“ im Kontext von Situation und Tradition13. Solche Doppelbewegung müsste zwei Impulse zusammenhalten: Sie muss die Gesellschaft samt ihren Fragen, Zweifeln an sich herankommen lassen, ihre Ängste und Wunden teilen, nicht über die Zachäus-Menschen, sondern mit ihnen reden. Und sie muss dazu die Fülle der Schrift neu entdecken, als hätten wir sie noch nicht gelesen. Denn sie, so Valentin Dessoy, „ist ein Zeugnis permanenten Umbruchs, wiederholter Umkehr und anhaltender Erneuerung religiöser Praxis wie auch theologischer Deutungsmuster.“14 Sie stellt unser Wissen, unsere Erfahrungen, unsere Dogmen gerne in Frage. Was wir an Erkenntnis, Wissen und Erbe meinen zu haben, müssten wir nach dem Rat des Paulus immer wieder loslassen, als hätten wir es nicht (1 Kor 7,29-31). Das wäre nicht die schlechteste Relevanz der Schrift für eine sich neu orientierende Kirche. Und möglicherweise eine Verbindung zu vielen neugierigen Indifferenten.

  1. Vgl. Ev. Kirche in Deutschland: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, Hannover 2014, 81. Auch in: Heinrich Bedford-Strohm / Volker Jung (Hg): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015. – Für den katholischen Bereich vgl. die Austrittsstudie des Bistums Essen: Markus Etscheid-Stams u.a.: Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich ändern muss, Freiburg 2018.
  2. Ich rede hier von “Spätmoderne”, weil der sonst von mir bevorzugte Begriff “Postmoderne” etwas Abgeschlossenes hat. Soweit ich die Entwicklung wahrnehme, stecken wir aber immer noch in diesem Epochenbruch. In einer ausgeuferten Begriffs-Diskussion fragte der Philosoph Wolfgang Welsch: „Wie aber, wenn es (..) zwischen dem Ausdruck und dem Inhalt zu unterscheiden gälte und wenn zwar der Terminus ‚postmodern’ verzichtbar, die durch ihn angezeigten Gehalte aber um so wichtiger wären?“ Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, 7. Auflage, Berlin 2008, Vorbemerkung zur 5. Auflage. 
  3. Peter Berger: Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften, Campus Frankfurt 2015, 66.
  4. Valentin Dessoy: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen, in: futur2, 2/2015.
  5. So in dem bei youtube.com zu findenden Interview: „Peter Berger on the failure of the secularization hypothesis“ (https://www.youtube.com/watch?v=62zSU-U9GGE, eingesehen am 9.102018).
  6. Paul M. Zulehner: Verbuntung. Kirchen im weltanschaulichen Pluralismus. Religion im Leben der Menschen 1970-2010, Ostfildern (2. Aufl.) 2011, 35ff.
  7. Jürgen Moltmann: Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens, 2. Aufl. Gütersloh 2015, 92.
  8. Heinrich Bedford-Strohm / Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, tersloh 2015.
  9. Vgl. zum Thema Indifferenz Hans-Hermann Pompe / Daniel Hörsch (Hrsg.): Indifferent? Ich bin normal. Indifferenz als Irritation für kirchliches Denken und Handeln. Leipzig 2017; EKD-Zentrum Mission in der Region (Hrsg.): Evangelium und Indifferenz. Thesen – Haltungen – Praxisideen. Dortmund 2018; EKD-Zentrum Mission in der Region (Hrsg.): Kleiner Reiseführer durch das Gebiet der Indifferenz. Dortmund 2018.
  10. Tomas Halik: Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute. Freiburg 2010 (7. Aufl.2014), 28.
  11. aaO, 40.
  12. aaO, 22.
  13. Rainer Bucher: … wenn nichts bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche, Würzburg (2. Aufl) 2012, 59ff.
  14. Valentin Dessoy: Innovation – ein brauchbarer Begriff? In: V. Dessoy/ G. Lames (Hrsg.): „… Siehe, ich mache alles neu“ (Offbg 21,5). Innovation als strategische Herausforderung in Kirche und Gesellschaft, Trier 2012, 29.

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