012020
Statements
Spannungsfeld zwischen Einheit und Vielfalt
Inklusive Aspekte für die Entwicklung neuer (pastoraler) Wege in der Kirche
Zwei Themenfelder wecken immer wieder neu Leidenschaft und Kreativität in mir: ,Entwicklung neuer (pastoraler) Wege in der Kirche‘ und ,Inklusion‘. Sie sind eigentlich beide von großer Aktualität. Notwendige Veränderungsprozesse setzen sie voraus. Dennoch erscheinen sie von geringer gesellschaftlicher Relevanz zu sein. Teilhabegerechtigkeit aller in Kirche und Gesellschaft – so meine Kurzformulierung.
Ziele, die zunächst von vielen bejaht werden, in der Praxis jedoch oft scheitern.
Meinen Überlegungen zugrunde liegt die Annahme, dass in sozialen Systemen Vielfalt ein konstitutives Merkmal ist. Wie geht man hiermit um? Wie gelingt es, Gemeinschaft so zu gestalten, dass alle Menschen willkommen und eingebunden sind?
Kirche und Gesellschaft haben im Laufe der Jahrhunderte ein differenziertes System geschaffen, um Vielfalt in verschiedene Einheiten zu unterteilen (Segregation):
- auf Kirchenseite: Ebenen von Laien und Klerus, Ämterstrukturen, Gottesdienstformen und Seelsorge für spezifische Zielgruppen
- auf gesellschaftlicher Seite: sieben sonderpädagogische Förderschwerpunkte und entsprechende Förderschulen, mehrgliedriges Schulsystem, Werkstätten und Wohnheime mit unterschiedlichen Adressatenkreise
Segregation, Zuordnung zu bestimmten Bereichen und nachfolgenden Positionen, schafft eine vermeintliche Eindeutigkeit, Passgenauigkeit und Klarheit. Je komplexer die Wirklichkeit, desto größer erscheint teilweise die Sehnsucht hiernach. Man werde dem Menschen und seinen Begabungen/Charismen hierdurch besser gerecht, so die Argumentation.
In sozialen Systemen ist Vielfalt ein konstitutives Merkmal.
Als Frau klicke ich mich, wenn ich Interesse an spirituellen Angeboten habe, auf der Bistumsseite zu ,Angebote für Frauen‘ durch. Etwas mehr Recherche bedarf es, wenn ich auch Familie habe und Akademikerin bin, um die Fülle der Angebote wahrzunehmen, die auf weitere Aspekte meines Daseins abgestimmt sind. Spezialisierung – auch von Seelsorgeangeboten – ist Zeichen von Qualität. Ein umfangreiches Portfolio von seelsorgerischen Angeboten erscheint erstrebenswert. Die Differenzierung in viele Teilbereiche sorgt für Ressourcen. Neben der Gemeindeseelsorge erhalten auch die Einzeldisziplinen aus dem Feld der kategorialen Seelsorge Personal und Gelder.
Gleiches gilt analog für den Bereich der Bildung. Sieben Förderschwerpunkte bestimmen die Zuständigkeit der passenden Förderschulen, personelle und sächliche Ressourcen werden nach einem bestimmten Schlüssel diesen Förderschulen zuteil, an den Universitäten existieren Professuren für jeden einzelnen Förderschwerpunkt, jede Disziplin eine eigene Fachwissenschaft. Die Folge ist Spezialisierung: Forschung, Publikationen, Expertise – in jedem einzelnen Bereich. So erscheint die Vielfalt menschlichen Daseins aushaltbar und kontrollierbar.
Doch, wie ergeht es den Menschen, die dieser Zuordnung folgen? Wird man ihnen dadurch eher gerecht? Ich fühle mich fragmentiert und festgelegt auf eine Rolle von vielen, die ich innehabe. Bei aller Passgenauigkeit stelle ich fest, dass mich hingegen handwerkliche Angebote für Männer mehr interessieren. Darf ich diese Angebote auch wahrnehmen?
Diese wahrnehmbare Unstimmigkeit erscheint mir als Signal zum Umdenken.
An vielen Stellen berichten Praktiker, dass diese vermeintlich eindeutige Zuordnung eben nicht eindeutig ist. Genau diese Bereiche, die sich der Eindeutigkeit entziehen, machen Arbeit und verunsichern. Eine Reaktionsweise besteht darin, sich noch weiter zu spezialisieren. Sorgfältig werden Teilbereiche und Zuständigkeiten geklärt, um dann zu merken, dass es knirscht. Diese wahrnehmbare Unstimmigkeit erscheint mir als Signal zum Umdenken.
Ist dies möglich? Oft zeigt sich, dass eine neue Herangehensweise nicht von allen erwünscht ist. Weder Entwicklung neuer (pastoraler) Wege in der Kirche noch die Etablierung inklusiver Strukturen wird von allen freudig als lohnenswertes Ziel – als Antwort auf diese Wahrnehmung – angesehen. Im Gegenteil, es zeigt sich, dass Entwicklungen dieser Art sehr zögerlich, wenn überhaupt, umgesetzt werden.
Obschon das Knirschen unüberhörbar ist, bleibt es beim Erhalt des gegenwärtigen Zustands – durch Kosmetik. Natürlich ist Kirche inklusiv, wenn sie über eine Rampe und eine Induktionsschleife verfügt. Auch das Schulsystem ist inklusiv, wenn der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung gegeben ist. Dennoch bleibt das Knirschen. Was braucht es noch?
Es lohnt sich, das Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt in den Blick zu nehmen. Geht man von der Gottesebenbildlichkeit und/oder der Würde des Menschen aus, dann hat man eine Vorstellung der Einheit. Diese Einheit ist vielfältig ausgeprägt. Alle sind Menschen, aber Menschen sind unterschiedlich. Eine Binsenweisheit. Oder: Eine Weisheit mit Potential, Bestehendes zu hinterfragen und andere Wege einzuschlagen.
In der Kirche sind alle Menschen spirituell Suchende. Muss ich als pastorale/r Mitarbeiter/in mehrere differenzierte geistige Angebote, am besten in einzelnen Zielgruppen, erarbeiten?
Wenn man dies ernst meint, dann gebe ich Deutungsmacht ab.
Das Konzept des Universal Design Learning/UDL kann evtl. einen Anstoß für die Weiterentwicklung pastoraler Wege in der Kirche geben. Entwickelt wurde UDL aus dem Bereich Architektur: Wie plane ich Gebäude, die von allen Menschen gleichermaßen, ohne nachträglich eingebaute Maßnahmen, genutzt werden können?
Die Gestaltung einer flexiblen, förderlichen Lernumgebung ist das Ziel des Universal Design Learning, eines Ansatzes des inklusiven Lernens und Unterrichtens. Die zugrundeliegende Haltung ist proaktiv. Hindernisse sollen von vornherein ausgeschlossen werden, so dass die direkte Teilhabe aller am Lernen selbstverständlich gegeben ist. Das kann die o.g. Rampe, die Induktionsschleife u.a. sein. Aber es reicht nicht, nur diese in den Blick zu nehmen. Es bedarf eines hohen Maßes an Kreativität, v.a. aber an Kommunikation mit den betreffenden Menschen, um herauszufinden, welche Barrieren vorhanden sein könnten und wie man diese überwinden kann.
Wenn man dies ernst meint, dann gebe ich Deutungsmacht ab. Ich bin dann nicht mehr der/die Spezialist/in, der/die passgenau Angebote für bestimmte Personengruppen erstellt. Vielmehr begleite ich, suche ich in einem kommunikativen Prozess mit den Betreffenden nach Lösungen. Meine Profession ist es dann zu wissen, wo ich welche Ressourcen zum Abbau von Barrieren erhalte, wie entsprechende Anträge geschrieben werden müssen und welche technischen Hilfen es gibt.
Es bedarf eines hohen Maßes an Kreativität, v.a. aber an Kommunikation mit den betreffenden Menschen, um herauszufinden, welche Barrieren vorhanden sein könnten und wie man diese überwinden kann.
Im Bereich inklusiven Lernens gilt es, verschiedene Repräsentationsformen des Lerngegenstandes bereit zu halten, damit eine Auseinandersetzung möglich ist. Eine Unterstützung des Lernenden beim Erwerb von Lernstrategien erleichtert diese. Schließlich geht es um Gemeinschaft. Das Einbringen eigener Lernerfahrungen, der Austausch mit anderen führt zu wechselseitigen Perspektiven und v.a. zu einer erhöhten Motivation, sich neuen Lernprozessen gegenüber zu öffnen.
Wäre ein Transfer der Prinzipien des UDL auf die Entwicklung neuer (pastoraler) Wege in der Kirche denkbar?