022020

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Konzept

Detlef Pollack

Säkularisierung und Individualisierung schreiten voran

Zur Beschreibung der Veränderungen auf dem religiösen Feld in Deutschland und anderen westeuropäischen Gesellschaften sind unterschiedliche Diagnosen im Umlauf. Manche sprechen, um diese Veränderungen auf den Punkt zu bringen, von der Wiederkehr der Götter (Friedrich Wilhelm Graf), andere von der Individualisierung des Religiösen (Grace Davie), wieder andere hängen der Säkularisierungstheorie an und sehen vor allem Tendenzen eines gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Religion (Steve Bruce, David Voas). Einig sind sich die unterschiedlichen Ansätze darin, dass wir es in den letzten Dekaden mit einer tiefgreifenden Entmonopolisierung des Religiösen zu tun haben. Mit diesem Stichwort wird auf die Mitgliederverluste der christlichen Kirchen und die Rückgänge in der Beteiligung am kirchlichen Leben sowie auf die Vervielfältigung religiöser Ausdrucksformen außerhalb der Kirche hingewiesen.

Allein in Deutschland hat sich die Zugehörigkeit zur Kirche von einer kulturellen Selbstverständlichkeit zu einer mehr und mehr in Frage gestellten Option entwickelt. 1949 waren sowohl in West- als auch in Ostdeutschland etwa 95 % der Bevölkerung kirchlich gebunden. Heute macht der Mitgliederbestand der evangelischen und der katholischen Kirche in Gesamtdeutschland nur noch etwa die Hälfte der Bevölkerung aus. Im Osten Deutschlands gehören fast drei Viertel keiner Religionsgemeinschaft an, im Westen etwa ein Viertel. Gingen in Westdeutschland in den 1950er Jahren etwa die Hälfte aller Katholiken und mehr als zehn Prozent der Evangelischen jede Woche zur Kirche, so sind es heute in der katholischen Kirche etwa zehn Prozent und in der evangelischen weniger als vier Prozent.

Der Prozess der Entkirchlichung korrespondiert mit einer Abschwächung des Gottesglaubens

Dieser Prozess der Entkirchlichung korrespondiert mit einer Abschwächung des Gottesglaubens. Nicht mehr 90 %, wie noch zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik und der DDR, bekennen sich zum Glauben an Gott. Vielmehr sind es heute im Westen nur noch etwas mehr als 60 % und im Osten gar nur noch 25 %, die ein solches Bekenntnis ablegen. Dabei hat sich nicht nur die soziale Akzeptanz des Gottesglaubens verändert, sondern auch seine Form. Immer weniger begreifen Gott als eine Person, wie ihn die Bibel verkündigt. Unter denen, die an Gott glauben, sind diejenigen, die ihn sich als eine höhere Macht, aber nicht als eine Person vorstellen, inzwischen in der Überzahl. Und das sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland. Das Gottesbild ist abstrakter, unbestimmter und flüssiger geworden und hat seine christliche Prägung weitgehend verloren.

Das Gottesbild ist abstrakter, unbestimmter und flüssiger geworden und hat seine christliche Prägung weitgehend verloren

Genau an diesem Formenwandel des Religiösen entzündet sich die gegenwärtige religionssoziologische Diskussion: Könnte es sein, dass die christliche Prägung der religiösen Vorstellungswelten, der religiösen Bindungen und Praktiken abgenommen hat, aber teilweise jenseits der christlichen Tradition, teilweise in Anknüpfung an sie außerchristliche Formen des Religiösen an Bedeutung gewonnen haben? Das ist die These von Religionssoziologen wir Grace Davie, Hubert Knoblauch, Robert Wuthnow, Wade Clark Roof oder Danièle Hervieu-Léger. Um diese alternative Form von Religion zu kennzeichnen, sprechen sie von privatisierter Religiosität, von patchwork-Religiosität, von spiritueller Suche, von einer anti-institutionellen und anti-hierarchischen Privatreligiosität. Dabei meinen manche der Individualisierungstheoretiker, dass in dem Maße, wie die Attraktivität kirchengebundener Religiosität abnehme, die Bedeutung des individuell verantworteten Glaubens zunehme.

Auf den ersten Blick hat diese These sehr viel für sich. Können wir nicht allerorten ein Aufblühen von alternativen Religionsformen beobachten? Das Publikumsinteresse an Meditationspraktiken, Esoterik und alternativen Therapien, an Tai Chi, Reiki und Ayurveda ist groß. Jede Woche sehen wir die Ankündigung von Tagungen zum esoterischen Wandern, zum ganzheitlichen Denken, zur spirituellen Selbstfindung oder zu Schwitzhüttenritualen im Indianerzelt. Die Zeitungen und Zeitschriften berichten über das Bedürfnis der Menschen, Sicherheit und Zuversicht in Engelskulten, im Tragen von Powerarmbändern oder bei Wunderheilern zu finden. Selbst in den Kirchgemeinden und evangelischen und katholischen Akademien werden Kurse zur Beförderung von Selbsterfahrung, Yoga und mentaler Fitness angeboten.

Die Veränderung des Verhältnisses zwischen Kirchlichkeit, individualisierter Spiritualität, religiöser Pluralisierung und Säkularisierung ist komplexer, als es die Individualisierungsthese unterstellt

Bei einem Blick auf die empirisch verfügbare Datenlage muss die Individualisierungsthese jedoch kompliziert werden. Sie überbetont den außerinstitutionellen Aufbruch des Neuen auf dem religiösen Feld, aber beachtet zu wenig den auch in den Kirchen selbst ablaufenden religiösen Wandel, das hohe Maß an kirchlich-religiöser Kontinuität sowie die Abwendung von religiösen Bindungen insgesamt. Die Veränderung des Verhältnisses zwischen Kirchlichkeit, individualisierter Spiritualität, religiöser Pluralisierung und Säkularisierung ist komplexer, als es die Individualisierungsthese unterstellt.

Richtig ist, dass es in den letzten Jahrzehnten zu einem vermehrten Interesse an Formen außerkirchlicher Religiosität gekommen ist. Dieses Interesse ist unbeständig und fluktuierend, institutionell nur schwach abgestützt und wenig gemeinschaftsorientiert, zivilisationskritisch, institutionenskeptisch, unbestimmt und undogmatisch und hat bei weitem nicht jene gesellschaftliche Signifikanz erreicht, die in der Lage wäre, die massiven Verluste der großen christlichen Kirchen zu kompensieren. Wenn Grace Davie und mit ihr andere behaupten, die individuelle alternative Religiosität steige in dem Maße an, wie die Bindung an die Kirche zurückgehe, so ist das eine Übertreibung. Formen alternativer Religiosität wie Pendeln, Astrologie, Zen-Meditation, Reiki oder Bachblütentherapie ausprobiert, haben schon mehr als die Hälfte der westdeutschen Bevölkerung. Doch nur wenige halten viel von diesen Praktiken. Kaum mehr als ein Viertel glaubt zumindest vage an die Wirksamkeit solcher Praktiken. Die Gruppe der fest überzeugten Esoteriker, die sich in diesem Feld engagieren, überschreitet nicht die 10-Prozentmarke und liegt wahrscheinlich darunter. Im Westen Deutschlands sind es deutlich größere Gruppen, die christliche Glaubensvorstellungen bejahen, etwa dass Gott existiert, dass er die Welt geschaffen hat und es ein Leben nach dem Tode gibt. Und auch die Beteiligung am kirchlichen Leben fällt höher aus als die religiös-alternative Praxis. In Deutschland sind die Kirchen nach wie vor die wichtigsten Repräsentanten des Religiösen.

In Deutschland sind die Kirchen nach wie vor die wichtigsten Repräsentanten des Religiösen

Darüber hinaus muss darauf hingewiesen werden, dass außerkirchliche und christliche Religiosität sich wechselseitig nicht unbedingt ausschließen, sondern zuweilen positiv miteinander korrelieren. Wer an Gott glaubt, weist auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit auf, an Reinkarnation, also an die Wiedergeburt in einem anderen Leben, oder ans Nirwana zu glauben. Formen nichtchristlicher Glaubensüberzeugungen finden sich also auch in der Kirche. Die Menschen setzen ihre religiöse Überzeugung aus unterschiedlichen religiösen Traditionen zusammen. Aber auch diesen Synkretismus sollte man nicht überschätzen. In Westdeutschland ist es keine Mehrheit, die das tut. Formen nichtchristlicher Religiosität sind also sowohl außerhalb als auch innerhalb der Kirchen anzutreffen, erfassen in beiden Fällen aber nur kleine Gruppen. Falsch wäre es allerdings, alternative und christliche Religiosität einfach einander gegenüberzustellen. Auch wenn zwischen beiden eine unübersehbare Spannung besteht, vermischen sie sich partiell. Die Tendenzen der Öffnung der christlichen Kirchen für ganzheitliches Denken, Selbstfindung, Achtsamkeit, außerchristliche Spiritualität und meditative Praktiken lassen sich übrigens auch in der Theologie beobachten. Und die mit der alternativen Religiosität verbundene Kirchenkritik hat in der Theologie ohnehin eine lange Tradition.

Schließlich ist zu bedenken, dass die kirchlich alternative Religiosität in Westdeutschland und in vielen anderen westeuropäischen Ländern oft ein Übergangsphänomen von der traditionalen Christlichkeit zu rein säkularen Haltungen darstellt. Nichtkirchliche Religiosität ist ein zweigeteiltes Phänomen. Eine kleinere Gruppe besteht aus engagierten Spirituellen im alternativ-religiösen Feld, die größere hingegen aus jenen, die zwar zur Kirche auf Distanz gehen, sich deshalb aber noch lange nicht nach religiösen Alternativen auf die Suche begeben. Sie kritisieren die Kirche, verschmähen ihre Angebote und behaupten, sie könnten auch ohne Kirche gläubig sein. Aber sie setzen an die Stelle des Gebets nicht die Meditation, an die Stelle des Glaubens an einen personalen Gott nicht den Glauben an eine kosmische Energie und an die Stelle des Auferstehungsdogmas nicht die Reinkarnationslehre, sondern gehen zu Religion insgesamt auf Distanz. Wenn sie sich als ‚religiös, aber nicht kirchlich‘ oder als ‚spirituell, aber nicht religiös‘ bezeichnen, dann weil sie es vermeiden wollen, sich als völlig ungläubig und areligiös zu bezeichnen. Religion ist für sie jedoch nichts Wichtiges und übt auch kaum einen Einfluss auf ihre Lebensführung aus, auf die Art, wie sie ihre Kinder erziehen, wie sie ihre Partnerschaft gestalten oder wie sie politisch denken. David Voas hat in seinen Arbeiten gezeigt, dass diese unbestimmte Religiosität – er nennt es ‚fuzzy fidelity‘ – in vielen Ländern nicht nur ein Ausdruck abnehmender Kirchenbindungen, sondern auch abgeschwächter religiöser Bindungen ist und letztendlich zum Unglauben führt.

Kirchlich alternative Religiosität stellt … oft ein Übergangsphänomen von der traditionalen Christlichkeit zu rein säkularen Haltungen dar

Damit ist der zentrale Trend benannt, der die religiöse Landschaft in allen westeuropäischen Ländern kennzeichnet: die Tendenz zu einer alle Dimensionen des Religiösen erfassenden Säkularisierung. Zuerst wird von dieser Tendenz die religiöse Praxis erfasst, aber nachdem die Menschen ihre Beteiligung am kirchlichen Leben aufgekündigt haben, nimmt häufig auch ihr Gottesglauben, so verdünnt er auch sein mag, ab und schließlich auch ihre Bereitschaft, sich einer Religionsgemeinschaft zuzuordnen. Das religiöse Feld macht den Eindruck eines verfallenden Gartens. Noch blühen einige Blumen, noch erinnert er an die großen Zeiten, als er in voller Schönheit stand, noch lassen sich einige Pflanzen zu neuem Leben erwecken, aber insgesamt fehlt es ihm an frischem Wasser. Zunehmend verdorrt er. Auch die Zunahme alternativer Religiosität vermag den dominierenden Abwärtstrend nicht zu stoppen oder gar umzukehren. Deshalb führt die Individualisierungsthese in die Irre. Berechtigt sind ihre Aussagen insofern, als wir es in den Kirchen und außerhalb von ihnen mit einer Individualisierung des Religiösen zu tun haben, doch geht dieser Trend mit Tendenzen der Säkularisierung Hand in Hand.

Die Kirchen werden religiöse Individualisierung, kulturelle Pluralisierung und Säkularisierung nicht aufhalten können, schon gar nicht, wenn sie sich gesellschaftlich stärker verschließen und versuchen, sich gegen diese Entwicklungen institutionell zu behaupten

Was bedeutet das für das Handeln der Kirchen? Die Kirchen werden religiöse Individualisierung, kulturelle Pluralisierung und Säkularisierung nicht aufhalten können, schon gar nicht, wenn sie sich gesellschaftlich stärker verschließen und versuchen, sich gegen diese Entwicklungen institutionell zu behaupten. Zwei Dinge scheinen mir in der schwierigen Situation, in der sich die Kirchen befinden, wichtig zu sein: dass sie ihren reichen geistigen und geistliche Schatz, den sie in den Jahrhunderten ihres Bestehens gesammelt haben, pflegen und zum Leuchten bringen, indem sie die alten Texte und Rituale aktualisieren und auf unsere Zeit zuschneiden und so ihren tradierten Gehalt immer wieder neu entdecken. Wichtig ist aber auch, dass sie nah bei den Wünschen, Problemen und Sorgen der Menschen sind, dass sie ihnen zuhören, für sie da sind und sie ernst nehmen. Wenn die Botschaft des Evangeliums der Bestreitung ausgesetzt ist, wenn sie nicht mehr als wichtig angesehen wird und sich die Menschen anderem zuwenden, dann käme es für die Kirchen vielleicht darauf an, sie nicht direkt und unvermittelt transportieren zu wollen, sondern sich auf die Menschen zu konzentrieren, die sie erreichen wollen, Diakonie und Seelsorge zu betreiben. Dabei können sie immer wieder auf den reichen geistigen und geistlichen Schatz zurückgreifen, den sie zweifellos besitzen.

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