012025

Statements

Ruedi Winkler-Wetli

Gesellschaftsmodelle mit Zukunftspotenzial

Welches Gesellschaftsmodell brauchen wir? Eine Frage, die noch vor gut 30 Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eine rhetorische gewesen wäre, ist heute wieder sehr aktuell. Das findet seinen Niederschlag u. a. auch in zahlreichen Publikationen namhafter Autor:innen, die davon ausgehen, dass wir mit dem heute geltenden in eine schwierige Lage geraten sind. Der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz warnt z. B. in seinem neuesten Buch „Der Weg zur Freiheit“ vor der Entwicklung zu wirtschaftlicher Ungleichheit, politischer Machtkonzentration und marktgläubigen Ideologien, die sich sehr zerstörerisch auf unsere Gesellschaft auswirken würden. Er plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag und legt Wert darauf, dass die Freiheit der Menschen nicht nur aus der Freiheit des Marktes und vom Schutz vor staatlichen Eingriffen besteht, sondern dass für die Freiheit der Menschen v. a. Bildung, Gesundheitsvorsorge, soziale Sicherheit und Chancengleichheit gehören. Ohne sie sei die Entwicklung der Menschen keine reale Option“ Nancy Fraser, Professorin für Philosophie in New York, hält in ihrem 2023 erschienenen Buch „Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“ fest, warum das geschieht und sagt, dass wir darauf nicht vorbereitet sind. Um uns noch zu retten, ist nach ihrer Ansicht eine Gesellschaft nötig, die auf Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Solidarität und Gemeinsinn aufbaut. Den gleichen Aspekt nimmt der Forscher und Autor bekannter Bücher Tim Jackson in seinem Buch „Ökonomie der Fürsorge“ auf. In die gleiche Richtung argumentiert auch die Ökonomieprofessorin Maja Göpel in ihrem Buch „Die Welt neu denken.“

Für die amerikanische Soziologin Riane Eisler liegt die Hauptverantwortung für die Fehlentwicklungen in der Missachtung und Vernachlässigung der Fürsorge im kapitalistischen System. In ihrem Buch ‘Die verkannten Grundlagen der Ökonomie’ führt sie aus, dass die Fürsorge nicht als volkswirtschaftliche Leistung im Bruttosozialprodukt berücksichtigt und sozusagen als Privatsache der Frauen abgetan wird. Dies sei so, sagt Eisler, obwohl ohne diese Fürsorgearbeit eine Gesellschaft gar nicht existieren und funktionieren könnte. Der Homo oeconomicus der geltenden ökonomischen Theorie ist nach ihrer Ansicht ein altes maskulines Paradigma. Entsprechend wird Produktion, Wachstum und Wettbewerb in den Vordergrund gestellt und Eigenschaften wie Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Fürsorge höchstens noch als nice to have betrachtet. Eisler, Stiglitz und Fraser formulieren ihre Kritik u. a. auch im Hinblick auf den Klimawandel, der Polarisierung zwischen Reich und Arm, der Dominanz der Machtpolitik und der Konkurrenz statt Kooperation und der Individualisierung. Riane Eisler geht so weit, dass sie prognostiziert, wir stünden vor einem Kipppunkt der Weltgeschichte, der einen grundlegenden Wandel verlange.

Nach wie vor wird praktisch unisono bei Schwierigkeiten sowohl von der Wissenschaft, den Regierungen und Wirtschaftsvertreter:innen, die Förderung des Wirtschaftswachstums und die Etablierung neoliberaler Maßnahmen laut.

Trotz der Warnungen und der konkreten sicht- und spürbaren Probleme, zeichnet sich nirgends auf der Welt eine wirkliche Neuorientierung ab. Maja Göpel schreibt dazu: „Die weltweiten Krisen in Umwelt und Gesellschaft sind kein Zufall. Sie offenbaren, wie wir mit uns und dem Planeten umgehen, auf dem wir leben. Wenn wir diese Krisen meistern wollen, müssen wir uns die Regeln bewusst machen, nach denen wir unser Wirtschaftssystem aufgebaut haben. Erst, wenn wir sie erkennen, können wir sie auch verändern – und unsere Freiheit zurückgewinnen“.

Zurzeit sind wir weit davon entfernt. Nach wie vor wird praktisch unisono bei Schwierigkeiten sowohl von der Wissenschaft, den Regierungen und Wirtschaftsvertreter:innen, die Förderung des Wirtschaftswachstums und die Etablierung neoliberaler Maßnahmen laut. Die Folgen werden weltweit immer deutlicher sicht- und spürbar.

Was sind die Merkmale eines Zukunftsmodells?

Was wären nun die Merkmale eines solchen von Riane Eisler geforderten grundlegenden Wandels? Die oben erwähnten Autoren:innen stimmen interessanterweise – obwohl sie aus verschiedenen Disziplinen kommen – in der Grundausrichtung überein. So postuliert z. B. der Ökonom Stiglitz soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Nachhaltigkeit als Kernpunkte für eine zukünftige Gesellschaft. Das liegt inhaltlich recht nahe bei den Punkten, die Maja Göpel, Tim Jackson und auch Nancy Fraser als wichtig erachten.

Wie ein solches Modell aussehen könnte, beschreibt Riane Eisler recht praxisnah und konkret. Für sie steht die Fürsorge im Zentrum und auf diese muss das gesamte Handeln ausgerichtet sein. Es ist ihr bewusst, dass dies eine Umstellung der Mentalität und des Denkens der Menschen voraussetzt, insbesondere muss der Wandel vom heutigen Dominanzmodell, wie sie es nennt, zu einem Partnerschaftsmodell gelingen.

Die Kernpunkte eines solchen Modells sind:

  • Vom Konkurrenzdenken zur Kooperation:
  • Von der Herrschaft und Kontrolle zur Fürsorge und Empathie
  • Von patriarchalen Normen zur Geschlechtergleichheit
  • Umgestaltung der Wirtschaft von der Gewinnmaximierung zur Care-Ökonomie
  • Fördern des Demokratieverständnisses und, elementar, Wahrnehmung der ökologischen Verantwortung

Sie betrachtet diese einzelnen Bereiche nicht isoliert, sondern in einer Wechselwirkung zueinander. Diese Merkmale, die in der Stoßrichtung auch in den Vorschlägen der übrigen aufgeführten Autoren:innen vorkommen, zeigen, welch grundlegender Wandel nötig ist, wenn eine wirkliche Wende gelingen soll.

Sorge tragen

Dass nicht nur diese Autori:innen in diese Richtung denken, wird klar, wenn man die Entwicklung von Organisationen und Netzen betrachtet, mit den Namen „Sorgende Gemeinschaften“, „Caring Community“ oder „Caring Society“. Diese Organisationen und Netzwerke, die es schon in verschiedenen Ländern gibt und die auch untereinander vernetzt sind, zeigen, dass schon viele Menschen sich ernsthaft mit der gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Situation beschäftigen und bereit sind, sich konkret für Veränderungen zu engagieren. Das wirklich spannende und für die Zukunft vielversprechende ist, dass sie die Lösungen in die gleiche Richtung sehen, wie die zitierten Autoren:innen. Unzweideutig geht es ihnen darum, zu Mensch und Natur Sorge zu tragen.

In der Gemeinschaft muss beginnen …

Die Sorge um die Zukunft fördert die Suche nach Modellen, die die Sorge um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und die Gesundheit der Menschen ins Zentrum stellen. Deutlich kommt das in den Vorschlägen der oben zitierten Autoren:innen zum Ausdruck. Es kommt aber auch in einer deutlichen Zunahme der Sorgenden Gemeinschaften bzw. Caring Communities, vor allem im deutschsprachigen Raum, zum Ausdruck.

Die Sorge um die Zukunft fördert die Suche nach Modellen, die die Sorge um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und die Gesundheit der Menschen ins Zentrum stellen.

Die Entstehung dieser Gemeinschaften erfolgt aus ganz verschiedenen Anlässen, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass ihre Initianten:innen einen konkreten Bedarf feststellen, um in ihrem Lebensbereich eine Verbesserung des Zusammenlebens, der Unterstützung schwächerer Menschen, die Vertiefung der Beziehungen und die Verminderung der Einsamkeit usw. anzustreben. Diese Organisationen werden von Menschen getragen, die ein Problem sehen und bereit sind, zusammen mit anderen dieses zu lösen oder mindestens zu mindern. Diese Grundhaltung baut auf der Kraft der Gemeinschaft auf. Das gemeinsame Tun ist eine ungemein kräftige und nachhaltige Kraft und stärkt den Willen und die Fähigkeit dranzubleiben. Organisationen und Gemeinschaften, die diesen Werten und Grundsätzen folgen, haben eine starke und positive Ausstrahlung auf Ihre Umgebung.

Diese Entwicklung ist noch jung. Sie hat aber das Potenzial, dazu beizutragen, Gesellschaft und Demokratie zu stärken und ihr neue Impulse zu geben und sie in der Richtung zu entwickeln, wie sie Eisler, Göpel, Jackson, Fraser und viele andere wünschen und beschreiben. Die Tatsache, dass Wissenschaft und Praxis den Weg in die Zukunft in die gleiche Richtung sehen, spricht für sie und macht Mut und Zuversicht für die Zukunft.

 

Literatur

  • Maja Göpel, Unsere Welt neu denken. Eine Einladung, Berlin 2020.
  • Maja Göpel, Werte. Ein Kompass für die Zukunft, Wien 2025.
  • Nancy Fraser, Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin 2023.
  • Joseph Stiglitz, Der Weg zur Freiheit. Ökonomie für eine gerechte Gesellschaft, München 2025.
  • Riane Eisler, Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Wege zu einer Caring Economy, Marburg 2020.
  • Tim Jackson, Ökonomie und Fürsorge. Warum wir Wohlstand, Gesundheit und Arbeit neu denken müssen, München 2025.
  • Cornelia von Coenen-Marx, Die Neuentdeckung der Gemeinschaft. Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege, Göttingen 2021.
  • www.caringcommunities.ch (zuletzt abgerufen am 29.09.2025).

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