022015

Foto: re:publica/Jan Zappner: re:publica 2015 - Tag 3 (CC BY 2.0), Bildausschnitt

Konzept

Ingrid Schneider

Die Relevanz von Kirche im 21. Jahrhundert – ein integraler Blick auf ein drängendes Thema

Im Jahre 2030 wird vermutlich weniger als die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung einer christlichen Kirche angehören. Zunehmend mehr Stimmen werden laut, die auf diesem Hintergrund die Existenz der Kirchen in ihrer heutigen Form in Frage stellen und insbesondere die scheinbaren Privilegien der Kirche kritisch in den Blick nehmen. Große Kirchen müssen sich also immer öfter die von außen an sie herangetragene Frage gefallen lassen: Braucht unsere moderne Gesellschaft wirklich noch die Kirche? Oder, wenn man es provokativ formulieren möchte: „Wo in dieser Republik wird noch Religion benötigt, außer als nette folkloristische Erinnerung?“1

1. Veränderte Gesellschaft

Menschen, die die Notwendigkeit von Kirche in Frage stellen, haben vor allen Dingen ein Bild von Kirche im Kopf, das aus der prämodernen Zeit stammt, eine Kirche, die sich Werten verhaftet weiß, die wir als traditionell bezeichnen, eine Kirche, die auch kontrolliert und gängelt, eine Kirche, die in einer Sprache redet, welche nicht die Sprache unserer Zeit ist, eine Kirche, die als eine schwerfällig und behäbig wirkende Organisation erscheint. Ja, Kirche ist eben auch Organisation, die sicherlich nicht immer ein Bild großer Flexibilität abgibt. Und sie ist eine Größe, die sich immer wieder der auf die rationale Vernunft fixierten und der Illusion der Beherrschbarkeit ergebenen modernen Welt entzieht.

Wer also nach dem Platz von Kirche in der modernen Gesellschaft fragt, wird sich einerseits mit den kulturellen Entwicklungen und Reibeflächen in der Gesellschaft beschäftigen und andererseits wahrnehmen müssen, dass Kirche weit mehr ist als eine institutionalisierte Organisationsform für Religion. Denn Kirche kann und wird in ihrem Selbstverständnis immer auch anders verstanden: als lokale Gemeinschaft von Menschen, die vor Ort ein Zusammenleben prägen; als Hort für eine Freiheitserfahrung der Menschen, der nicht stromlinienförmig mit der Gesellschaft schwimmt, oder auch als eine spirituelle Größe, die nicht so einfach in der Gesellschaft aufgeht. Und gerade in den vielfachen Verstehensmöglichkeiten von Kirche liegt eine der großen Chancen und auch Herausforderungen für die Kirchen selber, will man erkunden, warum auch eine moderne Gesellschaft Kirchen braucht.

Was unsere Gesellschaft auszeichnet, sind große Werteunterschiede, die parallel miteinander existieren bzw. konkurrieren. Viele Konflikte in unserem Land, aber auch weltweit, lassen sich als solche Reibeflächen zwischen verschiedenen Wertekulturen und Handlungsmustern beschreiben. 2 In aller Kürze dargestellt, zeigen sie sich als Kerncodes, die ihre Identität beziehen aus: einer ethnischen Identität; der Demonstration von Macht und Stärke; einer heiligen Ordnung; einer von Vernunft geprägten Rationalität; Werten von Mitmenschlichkeit und Schutz von Minderheiten; einer Fokussierung auf das, was notwendig ist zu tun. Diese Identitätsverständnisse fügen sich nicht harmonisch zusammen, sondern führen oftmals zu großen Spannungen. In der zu beobachtenden Dramatik von konflikthaften Entladungen ist dies ein recht junges zu beobachtendes Phänomen, auch weil erst in den letzten Jahrzehnten einige Muster hinzu gekommen sind als Reaktion auf sich wandelnde Lebensbedingungen. Diese Veränderung der Welt, welche dazu führt, dass alte Ordnungen zerbrechen und neue sich erst langsam und mühsam ihren Weg ebnen, bringen um so drängender die Frage nach der Rolle der Kirchen bzw. Religionen ins Spiel, wirken sie doch oft genug als Störfaktor oder auch als Inspiratoren für gewaltsame Auseinandersetzungen.3

Kirchen und Religionsgemeinschaften sind unverzichtbare Bestandteile einer modernen Gesellschaft, verfügen sie doch über all die Inhalte und auch die innere Legitimation, als Förderband für die Entwicklung der Menschheit zu dienen.

Wie passt dazu eine Aussage eines so profilierten Denkers wie Ken Wilber, der die Rolle von Kirchen und Religionsgemeinschaften so beschreibt: Kirchen und Religionsgemeinschaften sind unverzichtbare Bestandteile einer modernen Gesellschaft, verfügen sie doch über all die Inhalte und auch die innere Legitimation, als Förderband für die Entwicklung der Menschheit zu dienen.4 Sie sind also nicht nur gewünschte, sondern notwendige Gruppierungen, um gesamtgesellschaftlich nötige Veränderung zu befördern und das Erwachsen-Werden und Erwachsen-Sein der Menschen in all ihren Bezügen zu unterstützen. Sie bilden ein Reservoir an Fähigkeiten, das für Entwicklung förderlich ist und das in der Lage ist, den Menschen einen hilfreichen Zugang zu Kompetenzen zu schaffen, die sie in der Auseinandersetzung mit den Fragen des Alltags brauchen. Wie kommt er zu einem solchen Votum und was ist das Besondere, das Kirchen in die Gesellschaft einbringen können?

2. Verborgene Potentiale

Schauen wir uns das Potential genauer an, das in den Kirchen verborgen liegt, und zwar unter den oben genannten verschiedenen Verstehensaspekten von Kirche.

Kirche als Organisation

In der Außen- und Binnenwahrnehmung wird dieses vielfach kritisch beäugt, macht sich hieran doch ein Bild einer mal mehr, mal weniger hierarchisch organisierten Organisation fest, in der viel verwaltet wird, die als Institution daher kommt, die je nach eigenem Erfahrungshintergrund als einengend erlebt wird oder die sich ungefragt einmischt. Kirche als Organisation – für viele Menschen ein schwieriges Kapitel. Und dennoch ist sie nötig, denn sie steht für eine christliche Grundhaltung, die unser Abendland zutiefst geprägt hat. Sie steht für ein Eintreten für die Rechte von Menschen, die wenig Stimme in unserer Gesellschaft haben. Sie steht für einen Wertekanon, der sich an den zehn Geboten orientiert und damit Orientierung und Verlässlichkeit im zwischenmenschlichen Bereich bietet. Und sie stand und steht seit Jahrhunderten für ein soziales Engagement und ein Engagement im Bildungsbereich. Natürlich kann man sagen, dass der Sozialstaat dieses mit gutem Recht als seine eigene Aufgabe ansieht, doch ohne das Gegenüber und Korrektiv der verfassten Kirchen im öffentlichen Dialog wäre manches nicht da, wo es heute ist. Und auch in Zukunft wird Kirche notwendig sein als unbequeme Fragerin, als Mahnerin für Menschenrechte, als gesellschaftliche Kraft, die sich mit ihrer Perspektive in den gesellschaftlichen Dialog einbringt und die diakonische Frage immer wieder neu auf die Tagesordnung bringt. In der gegenwärtigen Situation der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, macht sie zugleich deutlich, welche Bereitschaft da ist, nicht bloß Mahnerin für einen menschlichen Umgang zu sein, sondern eben auch gesamtgesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen.

Und auch in Zukunft wird Kirche notwendig sein als unbequeme Fragerin, als Mahnerin für Menschenrechte, als gesellschaftliche Kraft, die sich mit ihrer Perspektive in den gesellschaftlichen Dialog einbringt und die diakonische Frage immer wieder neu auf die Tagesordnung bringt.

Kirche als lokale Gemeinschaft mit sozialdiakonischer Kraft

Seit den Anfängen der Kirche, noch lange bevor sie eine Organisation im herkömmlichen Sinne wurde, waren Kirchen als lokale Gemeinschaften eine Keimzelle für ein Leben, das den Menschen Halt und Sicherheit bot und zugleich die Würde des Mensch-Seins betonte. In ihr konnten und können Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher biographischer Herkunft eine Gemeinschaft erleben, die trägt, die ermutigt, die erlaubt, sich mit der ganzen Person einzubringen. Angesichts einer Gesellschaft, die in sozialer Hinsicht immer noch wenig durchlässig ist, angesichts einer Gesellschaft, in der Flexibilität, ständige Verfügbarkeit, sich nicht dauerhaft zu binden zu den Standards gehören, bieten Kirchen als lokale Gemeinschaft mit überschaubaren Gruppen von Menschen, mit denen etwas Gemeinsames geteilt wird, einen attraktiven Gegenpol. In diesen überschaubaren Gruppen, so eng sie von manchen auch empfunden werden mögen, finden Menschen ein quasi familiäres Netz, das auch in Notsituationen hält und trägt.

Hier hat die Diakonie als ursprüngliche Form von Gemeinwesenarbeit ihren Ursprung und Platz. Gemeinden waren und sind Orte der Zuwendung und sie sind damit eine notwendige gesellschaftliche Ergänzung in der modernen Welt, in der immer wieder die Rede ist von sozialer Kälte und Egoismus. Hier muss nicht alles professionell sein, vieles ist im niederschwelligen Bereich möglich und trägt zu einem Klima des achtsamen Miteinanders bei.

Kirche als Raum der Freiheit

So konnte und kann es sein, dass zu allen Zeiten Kirche nicht nur im geglaubten Sinne, sondern auch in ihren äußeren Gegebenheiten ein Ort für Freiheitserfahrungen von Menschen gewesen ist.

Dieses mag eine Ausdrucksform von Kirche sein, die Menschen unserer Zeit nicht so einfach mit Kirche in Verbindung bringen. Zum einen weil Kirche in Form ihrer Repräsentanten in der Öffentlichkeit immer wieder auch als einengend, bevormundend, kontrollierend bis hin zu übergriffig wahrgenommen wird. Zum anderen weil Kirche selber in Botschaft und Verhalten oftmals gerade nicht diesen kostbaren Schatz ihres Glaubens aktiviert. Die enge Zusammengehörigkeit von Glaube an Gott und Freiheitserfahrung durchziehen die biblischen Texte wie ein roter Faden, und sie gehören ursächlich zu den Fundamenten des jüdischen und christlichen Glaubens. So konnte und kann es sein, dass zu allen Zeiten Kirche nicht nur im geglaubten Sinne, sondern auch in ihren äußeren Gegebenheiten ein Ort für Freiheitserfahrungen von Menschen gewesen ist. Dies gilt nicht nur für die urchristlichen Gemeinden, welche Gemeinden aus Freien und Sklaven waren. Der Muster- und Tabubruch, den christliche Gemeinschaften hier vollzogen (auch wenn das im Binnenverhältnis nicht immer spannungsfrei vor sich ging), kann nicht radikal genug bewertet werden. Auch wenn in der DDR die Kirchen oft nur kleine Grüppchen von Menschen waren, haben gerade die Ereignisse im Jahr 1989 deutlich gemacht, welchen Beitrag die Kirche als Raum der Freiheit für gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse zu leisten vermag. Ohne die jahrelange Kultur eines gesellschaftlichen Diskurses, ohne Keimzellen für ein nicht-angepasstes Denken, ohne Erfahrungsräume, in denen junge Menschen Verantwortung übernehmen konnten in einem Umfeld, das ihnen solches nicht zugestand, wäre der friedliche Umschwung nicht denkbar geworden. In einer Situation, in der es auf des Messers Schneide stand, bot die Kirche mit ihrem Selbstverständnis, ein Raum der Freiheit zu sein, einen sicheren Raum für Tausende von Menschen. Hier konnten sie eine Ich-Identität entwickeln, hier konnten sie Erfahrungen sammeln für andere, demokratische Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.

Kirche in Deutschland hat immer wieder für solche Arten von Aufbrüchen gestanden. Sie war in ihren Akademien ein Ort des Denkens jenseits der Begrenzungen von Parteizugehörigkeiten, sie hat einen Raum geboten für Diskurs und Partizipation, sie hat in ihren Bildungseinrichtungen so manches mal gesellschaftlich notwendige Themen vorweg genommen. Schwierig wurde und wird es immer dann, wenn Kirche sich mit den gesellschaftlichen Strömungen gleich setzt und sie keine innere Distanz mehr herstellen kann. Wenn sie sozusagen ganz in der Gesellschaft aufgeht und ihr damit auch die kritischen Momente der Selbstreflexion abhanden kommen. Oder wenn sie im Sorge um ihre Existenz und ihren Einfluss sich zurückzieht auf traditionelle Ausdrucksformen und Themen des Machterhalts.

Nötiges Korrektiv ist hier die vierte Verstehensweise von Kirche.

Kirche als spirituelle Gemeinschaft

Das Besondere der christlichen Kirchen ist eine inhaltliche Ausrichtung auf Gott, welche einem Lebensstrom gleicht, aus dem Menschen Kraft schöpfen können. Damit aber verfügt die Kirche über eine Qualität, welche in unserer modernen Zeit gesucht und auch nötig ist.

Denn Kirche kann und darf sich selber nie genug sein. Sie kann und darf sich nicht darauf beschränken, nur eine Organisation zu sein, die ihre Abläufe strukturiert und ordnet, die sich diakonisch in die Gesellschaft einbringt und Menschen einen Ort der Zugehörigkeit oder für Freiheitserfahrungen bietet. All das sind Ausdrucksweisen, welche im äußerlich weltlichen Bereich erstarren können, wenn diese Ausdrucksformen nicht genährt werden durch eine Hoffnung, die deutlich größer ist als sie selbst, wenn sie sich nicht inspirieren lässt von einer Botschaft, die Lebenskraft ist. Dann fehlt etwas Wesentliches. Das Besondere der christlichen Kirchen ist eine inhaltliche Ausrichtung auf Gott, welche einem Lebensstrom gleicht, aus dem Menschen Kraft schöpfen können. Damit aber verfügt die Kirche über eine Qualität, welche in unserer modernen Zeit gesucht und auch nötig ist. In Zeiten, in denen die gesellschaftlichen Kräfte zunehmend auseinander driften und die Spannungen zwischen traditionellen, modernen, postmodernen und postpostmodernen Lebensformen kaum mehr vereinbar erscheinen, ist Kirche als Ort für spirituelle Erfahrungen eine Größe, die wie ein gemeinsames Reservoir wirken kann. Jenseits aller Differenzen können Menschen sich hier begegnen, weil es eben nicht um ihre Differenzen geht, sondern um eine gemeinsame Ausrichtung auf etwas, was deutlich über ihre Lebenswirklichkeiten hinausgeht.

Auf der Folie der zuvor beschriebenen Entwicklungsmuster wird sichtbar, dass Kirche in ihren vielfachen Ausdrucksformen Bereiche abdeckt, die in der integralen Perspektive als essentiell für das Werden und Wachsen von Menschen und Gesellschaften verstanden werden. Zugehörigkeit und Sicherheit, ein soziales Netz, das auch in Krisenzeiten trägt; eigene Stärken erkunden, sich ausprobieren können, Freiheit erfahren und leben; verlässliche Strukturen und Regeln haben und diese rückbinden können an eine zeitlos gültige Wahrheit; Professionalisierung und die Freude, in einer großen Vielfalt zu wirken; Zusammenhalt und Mitmenschlichkeit leben dürfen; die Sehnsucht nach einer spirituellen Erdung ans Ziel kommen sehen – all dies beschreibt unterschiedliche Entwicklungsschritte, die alle zusammen die anspruchsvolle Vielfalt und auch Divergenz unserer Gesellschaft ausmachen. All dies beschreibt Entwicklungsschritte, die historisch gesehen sich ursprünglich in Jahrtausenden abspielten, die heutzutage Kinder, Jugendliche und Erwachsene in kürzester Zeit durchlaufen müssen, sollen sie in der Lage sein, sich mit den komplexen Anforderungen der modernen und postmodernen Welt auseinander zu setzen.5

Weil Kirchen und andere Religionsgemeinschaften hier über einen unglaublichen Schatz an Fülle verfügen – durch die Geschichte gesammelt, in unterschiedlichsten Formen gelebt, mit Lebensgeschichten gefüllt, durch exemplarische Menschen vertreten, gerade darum kann Ken Wilber eben sagen, dass sie Förderband der Entwicklung sein können. Sie können, weil sie solches kennen, nahe bei den Menschen sein und sie in Denk- und Handlungsweisen mitnehmen, die dran sind für eine hilfreiche Begegnung mit den Anforderungen, die das Leben stellt.

3. Zukünftige Herausforderungen

Die vielleicht drängendsten Fragen sind an dieser Stelle: Welchen eigenen Weg müssen Kirchen gehen, damit sie diese Rolle auch übernehmen können? Wo ist es nötig, den eigenen Horizont zu erweitern, damit sie wirklich diesen essentiellen Beitrag zu einer modernen Gesellschaft leisten werden?

Eine der großen Herausforderungen hierbei ist, dass die Kirchen entdecken, welcher Schatz ihnen zu eigen ist und sprachfähig werden, dieses auch in reflektierter Weise in die Gesellschaft einzubringen.

Dieses betrifft einerseits den großen Bereiche von Kirche als Raum der Freiheit. Hierbei wird es nötig sein, dass binnenkirchlich Menschen beginnen, mit frischen Augen biblische Texte wahrzunehmen und jenseits der bekannten Interpretationen biblische Botschaft und Lebenswirklichkeit zusammenzubringen. Die größte Hürde hierbei stellen sicherlich die unbewussten mentalen Modelle dar, welche uns als Menschen prägen. Darüber hinaus wird es nötig sein, dass das, was als Glaube vorhanden ist, auch Ausdruck findet in den sichtbaren Strukturen. Denn wenn immer wieder eine Diskrepanz wahrgenommen wird zwischen Inhalt der Botschaft und äußerem Erscheinungsbild, wird das Thema Glaubwürdigkeit von Kirche und Relevanz sich nicht nachhaltig verändern.

Der andere Schatz, der zu heben ist, betrifft den großen Bereich der Spiritualität. Denn obwohl es ein Thema ist, das eine große Sehnsucht in vielen Menschen weckt, obwohl Kirche selber jahrhundertalte Traditionen hat, dem Ausdruck zu geben und Wege kennt, die zu einer vertieften Spiritualität führen, ist genau dieses ein Thema, das in den allerwenigsten Gemeinden eine sichtbare Gestalt bekommt und noch weniger Menschen mitnimmt, hier neue und zeitgemäße Erfahrungen zu machen. Zudem braucht es noch viel Übung im Raum Kirche, diese Erfahrungen in Worte zu kleiden, die mit den Denkmustern der modernen und postmodernen Weltsicht kompatibel sind und die Menschen zu erreichen vermögen. Das Gute ist, für all das gibt es schon Vorbilder und Beispiele – aber sie müssen eben auch genutzt werden.

Es wird also nötig sein, auch im Raum Kirche mehr Integration der unterschiedlichen Ansätze zu leben.

Ein zweites, was auf dem Hintergrund des bisher beschriebenen nötig erscheint, ist, dass Kirche und insbesondere Gemeinden die vielfachen Ausdrucksformen als den Ausdruck einer Ganzheit verstehen. Und das bedeutet eben auch, die ergänzenden Qualitäten und Möglichkeiten der unterschiedlichen Ausdrucksweisen zu wertschätzen, zu nutzen und zusammen zu bringen im Alltag von Kirche und Gemeinde. Für niemanden ist es hilfreich, wenn eine dieser Ausdrucksformen überbetont wird auf Kosten der anderen. Dann geschieht nämlich genau das, was wir gesamtgesellschaftlich ständig erleben: dass in Silos (abgegrenzten Bereichen) gedacht wird und eine Lebensform, ein Wertemuster gegen das anderer ausgespielt wird. Es wird also nötig sein, auch im Raum Kirche mehr Integration der unterschiedlichen Ansätze zu leben. Ziel wäre es, dass Gemeinden selbstbewusst zu offenen, spirituell-diakonische Zentren werden, welche einerseits eine breite Vielfalt von Möglichkeiten der Begegnung eröffnen und zugleich die Individuation der Einzelnen respektieren und wertschätzen.

Gemeinden, welche heute schon in dieser Weise Gestalt gewonnen haben, stehen nicht in Gefahr, ein religiöses Relikt zu sein, sondern leisten einen unverzichtbaren Teil zur Entwicklung einer modernen und menschenfreundlichen Gesellschaft.

 

  1. Frank Vollmer, Die Republik tickt protestantisch, Leitartikel in der Rheinischen Post vom 6. Juni 2015.
  2. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts sind mehrere solcher Beschreibungen von Werteentwicklungsstufen bekannt, die unabhängig voneinander sehr ähnliche Phänomene beschreiben. Vorreiter solcher Gedanken waren vor allem der Philosoph Jean Gebser sowie der Entwicklungspsychologe Clare W. Graves.
  3. Derzeit augenfällig sichtbar in den terroristischen Kämpfern der IS, die den Islam in fundamentalistischer Weise nutzen, um ihre Ziele in die Welt zu tragen.
  4. Ken Wilber, Integrale Spiritualität. Spirituelle Intelligenz rettet die Welt, München 2007, 264ff.
  5. Das Grundkonzept hinter diesen Entwicklungsschritten wurde erstmals vom Entwicklungspsychologen Clare Graves beschrieben und ist heute bekannt unter dem Begriff Spiral Dynamics integral.

Literatur

  • Vollmer, F., Die Republik tickt protestantisch, Leitartikel in der Rheinischen Post vom 6. Juni 2015.
  • Wilber, K., Integrale Spiritualität. Spirituelle Intelligenz rettet die Welt, München 2007.

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