022016

Foto: Tyler Mullins

Statements

Gerhard Trabert

Armut, Exklusion und Religion

Menschen betreiben im Namen von Religionen die extremste Form der Exklusion: Sie töten Menschen. Andere Menschen bringen im Namen von Religionen ihr eigenes Leben in Gefahr, um Menschen nicht aufzugeben und sie gesellschaftlich zu inkludieren. Diese Spannweite des Handelns, diese Widersprüchlichkeit, diese Ambivalenz – im Namen von Religion?! Warum lassen sich Religionen scheinbar beliebig deuten, interpretieren und instrumentalisieren? Dass Religionen sowohl für Exklusion (und dies immer häufiger) als auch für Inklusion (leider immer seltener) verantwortlich sind, ist als Wahrnehmung kaum zu widerlegen. Religion wird häufig dafür benutzt, Macht, Einflussnahme, Anerkennung oder Reichtum zu erlangen. Umgekehrt spielt aber Angst, die Angst vor der eigenen gesellschaftlichen Ausgrenzung, vor Exklusion, eine bedeutsame Rolle, wenn Religion dazu benutzt wird, um andere auszuschließen. Die Instrumentalisierung kann wechselseitig sein: Religion arrangiert sich mit politischen Machtstrukturen, um ihre gesellschaftlichen Ziele zu verfolgen, und umgekehrt.

Mehr als die Hälfte meines Lebens versuche ich mich im Spannungsfeld von Armut und Krankheit als Arzt, als Sozialarbeiter, schlicht als Mensch zu engagieren. Ich erlebe immer wieder, wie Religion sowohl für gesellschaftliche Exklusion als auch für den vergeblichen wie erfolgreichen Versuch zur Inklusion von ausgegrenzten Menschen verantwortlich ist. Gesellschaftlicher Ausgrenzung und allen Versuchen, diese zu begründen, kann man, nein muss man, muss ich, eine lebensbejahende und konsequente, die Menschenrechte in das Zentrum stellende, persönliche Einstellung entgegensetzen. Diese Einstellung muss sich in praktischem Handeln wiederspiegeln.

Das Aufdecken, Entlarven und Kennzeichnen von Benachteiligungs- und Ausgrenzungsstrukturen ist in diesem Kontext eine elementare gesellschaftliche Aufgabe, wenn es um nachhaltige Inklusion geht. Aber genau dieser aktive, gesellschaftskritische Analyseprozess wird immer wieder im Namen von Religionsgemeinschaften verhindert. Sei es durch eine Almosenpraxis, die bestehende strukturelle Ungerechtigkeit stabilisiert, oder mit der Verherrlichung von Opfer und Leiden und dem Hinweis auf das Jenseits. Viele bei uns haben ein Interesse, nicht über Strukturen der Ausgrenzung zu sprechen. Daher ist Mut, Kreativität und Phantasie im Hinblick auf eine wertschätzende und emanzipatorische Förderung und Unterstützung von ausgegrenzten und armen, sozial benachteiligten Menschen gefragt. Entmündigungsprozesse und -einstellungen müssen selbstkritisch hinterfragt und korrigiert werden, wenn wir zusammen eine humane Zukunft haben wollen. Über (Un-)Gerechtigkeit und den materiellen Reichtum in unserer Gesellschaft muss diskutiert werden – auch über den materiellen Reichtum von Religionsgemeinschaften, z.B. der Institution Kirche. Denn die Finanzierung unseres Sozialsystems ist keine Frage der vorhandenen oder angeblich nicht vorhandenen Ressourcen, sondern eine Frage der Verteilung.

Wir sollten uns alle darüber empören, wie mit sozial benachteiligten Menschen in unserer Gesellschaft umgegangen wird. Fangen wir an, Widerstand zu leisten! Gegenüber einer unsozialen, ungerechten Politik, gegenüber Religionen und Interpretationen von Religionsidentitätsmustern, die zu Ausgrenzung und Unterdrückung führen.

Stéphan Hessel, ein in Berlin geborener französischer Staatsbürger und Résistance-Mitglied, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebte, und Mitverfasser der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen war, hat 2010 eine bemerkenswerte Streitschrift verfasst, mit dem Titel: „Empört Euch!“. In dieser Streitschrift kritisiert Hessel den Umgang mit armen Menschen in der Mitte Europas. Dies tut er, indem er die gezielte Unterdrückung, den Verlust an Menschenrechten beanstandet und die Macht des Finanzkapitalismus anprangert. Die westlichen Demokratien unterliegen der Entscheidungshoheit des Kapitals. Leistung, Gewinnmaximierung, Konkurrenzkampf, das Haben steht dabei im Vordergrund und nicht das Sein. Hessel schließt mit den Worten: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“ Andauernder konsequenter Widerstand – eine permanente Revolte, würde es wohl Albert Camus nennen – ist notwendig.

Hier sind Vertreter und Angehörigen von Religionsgemeinschaften besonders gefordert – sofern sie ihre oftmals formulierte Botschaft selbst ernst nehmen: Wir sollten uns alle darüber empören, wie mit sozial benachteiligten Menschen in unserer Gesellschaft umgegangen wird. Fangen wir an, Widerstand zu leisten! Gegenüber einer unsozialen, ungerechten Politik, gegenüber Religionen und Interpretationen von Religionsidentitätsmustern, die zu Ausgrenzung und Unterdrückung führen. Wir müssen dies in Solidarität mit und durch Beteiligung von betroffenen Menschen tun, und dabei konstruktiv und konsequent agieren.

Der dänische Therapeut Jesper Juul hat einen interessanten Begriff in die deutsche Sprache eingeführt, den Begriff der Gleichwürdigkeit. Diesen Begriff gibt es im Deutschen nicht, wohl aber in anderen Sprachen. Es ist ein Begriff, der etwas Elementares und Menschliches zum Ausdruck bringt, das im Kern in allen Religionen vorkommt. Religionsübergreifend sollte daher Würde, Respekt und Wertschätzung im Mittelpunkt zwischenmenschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Prozesse stehen. Unser aller Verantwwortung ist es, Menschen in Würde zu begegnen und ihnen damit ein Stück ihrer Würde, die bei armen Menschen oft verloren gegangen ist, wieder zurückzugeben.

Ich frage mich oft, wo diese fundamentale humanitäre Grundeinstellung in unseren Gesellschaften vorkommt und wahrhaft gelebt wird. Darüber Reden und Schreiben verändert wenig – Handeln ist angesagt.

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