012020

Foto: Markus Spiske/Unsplash

Konzept

Marius Stelzer

Die Vielfalt der pastoralen Dienste

Seit vielen Jahren verfolgt die pastoraltheologische Professionsforschung das Anliegen, mehr über Dienst und Leben von Priestern, Pastoral- und GemeindereferentInnen und Diakonen zu erfahren. Die Wurzeln der Professionsforschung reichen dabei zeitlich recht weit zurück.1 Als Autoren sind exemplarisch Jan Delleport oder Norbert Greinacher in der Nachkriegszeit zu nennen. Jakob Crottogini aus der Schweiz hat in den 1950er Jahren zudem Maßstäbe in der Befragung von Priesterkandidaten gesetzt.2 Für die Zeit nach dem Konzil bis in die Gegenwart hinein ist vor allem Paul M. Zulehner zu nennen, der die Professionsforschung aus religionssoziologischer Perspektive wesentlich vorangebracht hat. An der Schnittstelle zur Pastoralpsychologie sind in jüngerer Zeit die Arbeiten von Christoph Jacobs zu nennen – jüngst diesbezüglich die deutsche Seelsorgestudie, an der er federführend beteiligt war.3

 

Werte- und Lebensstilforschung – oder: Menschen sind unterschiedlich 

Die Fragen nach „Dienst und Leben“ (Zulehner) der Seelsorgerinnen und Seelsorger kann rückblickend sozialwissenschaftlich gesehen zum Feld der sozialen Ungleichheitsforschung gezählt werden. Dieser Forschungszweig der Soziologie nimmt zunächst Themen der sozialen Ungleichheit mithilfe der klassischen soziologischen Bezugsgrößen in den Blick: Lebensalter, Einkommen, Bildungsgrad, aber auch berufliche Stellung, Familienstand oder das Geschlecht. Mit zunehmender Post-Modernisierung gewinnt seit ca. 1980 die Analyse sozialer Ungleichheit mit Lebensstilen und Wertvorstellungen an Gewicht. Ronald Inglehart (Materialismus-Postmaterialismus-These) und Helmut Klages sind hier die wichtigsten und einflussreichsten Vertreter, die in der Werteforschung Meilensteine gesetzt haben.   

In diesem Kontext entstehen die Studien des Heidelberger Sinus-Instituts, aber auch zahlreiche unbekannte Lebensstilstudien und modelle in der akademischen Forschung. Deren gemeinsame These ist, dass in der Postmoderne zunehmend individuelle Wertvorstellungen den grundlegenden Habitus prägen und damit individuellen Geschmack, Alltagshandeln, ästhetische Präferenzen, Kulturkonsum etc. lenken.4 Soziale Milieus gruppieren daher in gewisser Weise „Gruppen Gleichgesinnter“: beispielhaft Konservative, Hedonisten, Expeditive, Bürgerliche oder Traditionelle. Die Lebensstilforschung hat die klassischen soziodemografischen Variablen nicht verdrängt, jedoch um eine hilfreiche Perspektive ergänzt. Soziodemografische Variablen beschreiben überwiegend die Verteilung der jeweiligen Ressourcen (wie Einkommen und Vermögen, Bildungskapital), Lebensstilvariablen erkunden darüber hinaus die Verwendung dieser Ressourcen im Alltag.5 

Kirchliche Amtsverständnisse – oder: Seelsorgende sind unterschiedlich

Ich bin mir ziemlich sicher, dass man diese Unterschiede auch an der Inszenierung des eigenen Arbeitsplatzes ablesen kann.

Unabhängig von der sozialwissenschaftlichen Lebensstilforschung hat Paul Zulehner in den berufsspezifischen Studien seit dem Jahr 2000 vier Amtsverständnisse herausdestilliert, die zugleich Rückschlüsse auf die individuellen Lebensstile zulassen: Er identifiziert zeitlose Kleriker, zeitnahe Kirchenmänner, zeitoffene Gottesmänner und zeitgemäße Gemeindeleiter als Gruppen innerhalb des Presbyteriums.6 Auch in der Fremdwahrnehmung anderer pastoraler Berufsgruppen im deutschsprachigen Raum kommen diese vier Amtsverständnisse zum Tragen.7 Sie scheinen, so der Befund Zulehners, zur gegenwärtigen Kirchenkultur zu gehören.8 In ihnen spiegeln sich sowohl Unterschiede im Umgang mit Macht und Leitung, in der Verkündigungspraxis oder in der individuellen beruflichen Weiterbildung wider als auch innerhalb der individuellen Selbstinszenierung im beruflichen Alltag. Der berufliche Habitus stellt sich unterschiedlich dar.  

Wir können – analog zur Lebensstilforschung – konstatieren, dass die Amtsverständnisse Zulehners als Typologie nicht die Verteilung intellektueller Ressourcen (theologisches Wissen, rollenspezifische Sozialisationsmuster) beschreiben, sondern deren individuelle Verwendung  Ich bin mir ziemlich sicher, dass man diese Unterschiede auch an der Inszenierung des eigenen Arbeitsplatzes (Schreibtisch und Büroeinrichtung) ablesen kann. 

Ekklesiologische Diversität

Die ekklesiologischen Grundlinien dieser vier Typen als auch die Grundlagen für die empirische Erhebung und Auswertung lassen sich auf die Vorarbeiten zu den so genannten Synodenumfragen der frühen 1970er Jahre zurückführen. Damals wurden im Rahmen einer Vollerhebung unter allen Katholiken in der Bundesrepublik deren Einstellungen zur Zukunft und Glaube der Katholischen Kirche in Deutschland erhoben.9 Die Daten sollten Grundlage für die Themen und Beratungen der Gemeinsamen Synode der Bistümer in Deutschland bilden. Zugleich wurden alle Priester und Priesterkandidaten zu Dienst und Leben befragt.10  

Eine zentrale Erkenntnis der Studien ist, dass es (1.) „den einen“ Priestertyp nicht gibt und dass es (2.) auch keinen bevorzugten Typ gibt.

Für diese Priesterstudie entwickelten unter anderem Karl Lehmann und Walter Kasper die Statements zum Amts- und Kirchenverständnis für die befragten Priester. Dabei operationalisierten diese Statements die Dimensionen eines horizontalen und vertikalen Amtsverständnisses sowie die synchronen und diachronen Aspekte des seelsorglichen Dienstes. Diese Items bildeten das Grundgerüst für die Statementbatterie, die Paul Zulehner Jahrzehnte später verwendete, um die vier Amtsverständnisse zu modellieren und mit deren Hilfe Alltagsinszenierungen, Lebenswelten und stile, religiöse Sozialisation, Themen des beruflichen Alltags, religiöse Praxis u.a.m. von Seelsorgenden zu erkunden. 

Eine zentrale Erkenntnis der Studien Zulehners ist, dass es (1.) „den einen“ Priestertyp nicht gibt und dass es (2.) auch keinen bevorzugten Typ gibt. Jeder Priester ist ein Unikat. Erst im dynamischen Zusammenspiel aller Priester zeigt sich das Presbyterium einer Diözese. Im Übertrag kann man diese These auch auf alle Akteure in den kirchlichen Diensten beziehen: Erst im dynamischen Zusammenspiel aller getauften Frauen und Männer in den Diensten der Kirche (und die Taufe ist nach Papst Franziskus die zentrale Weihe) ergibt sich das gemeinsame Priestertum der Getauften einer Diözese. Das bedeutet, dass Diversität das Paradigma einer Kirche getaufter Christen ist. 

Entwicklung der Rollenarchitektur

Eine weitere Erkenntnis: lange Jahre galt das Ideal des tridentinischen Priesterbildes vom „Guten Hirten“. Dieses wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart vom kirchlichen Lehramt weiter fokussiert: Amt, Habitus, Lebensform, Hingabe für die Kirche.11 Es ist unstrittig, dass innerhalb des Zweiten Vatikanischen Konzils die Rolle des Priesters zu wenig in den Blick genommen wurde. Zugleich erlebt, so die These Zulehners, das priesterliche Rollenverständnis seit dem Konzil eine enorme Anreicherung und Differenzierung. “Neben der Verantwortung für die Sakramente wurde die Verkündigung des Wortes Gottes betont. Die Aufwertung der Laien fügte den Gemeindepriestern neue Aufgaben hinzu. Das Bild vom Priester, der ‚Gemeinden gründet und leitet’, wurde geprägt.12 

Das bedeutet, dass Diversität das Paradigma einer Kirche getaufter Christen ist.

Durch den bis heute sich zuspitzenden Priestermangel finden weitere Umformungen statt, die diese Differenzierung begünstigen: der Priester wird vielfach Manager einer großen Pfarrei, Personalverantwortlicher und Coach. Klassische seelsorgliche Aufgaben geraten oft in den Hintergrund priesterlicher Tätigkeiten in der Seelsorge 

In diesen Ausdifferenzierungen beruflicher Rollen spiegelt sich möglicherweise auch die allgemeine Erkenntnis Niklas Luhmanns der funktionalen Differenzierung sozialer Systeme in der Moderne wider. Nicht nur die Kirche ist, neben Wirtschaft, Erziehung, Politik oder Recht ein Teilsystem der Gesellschaft, auch binnenkirchlich finden durchaus funktionale Differenzierungen und in Wechselwirkung strukturelle Individualisierungen statt. Zulehner hat diesbezüglich die wesentlichen funktionale Eigenlogiken beruflicher Rollen in der Selbstwahrnehmung der Priester und in der Fremdwahrnehmung von Gemeinde- und Pastoralreferent/innen, Diakone und Pfarreirät/innen identifizert.13 Diese Eigenlogiken sind in diözesanen wie lokalen Maßnahmen der Personalentwicklung wie auch in Konzepten (lokaler) Kirchenentwicklung daher zwingend zu berücksichtigen. Doch wie lassen sich diese Amtsverständnisse genauer umschreiben? 

Vier Typen

Diese vier Typen bilden das Panorama der Amtsverständnisse ab:

  1. der zeitlose Kleriker bindet sich unmittelbar an Christus zurück. Er geht von Gott her auf die Menschen zu. Sein Amtsverständnis ist christomonistisch.
  2. Der zeitnahe Kirchenmann fühlt sich eher der Kirche als Institution verbunden. Die Berufung durch Christus ist für ihn zentral. Er hat ein vokatives Amtsverständnis.
  3. Der zeitoffene Gottesmann fühlt sich sowohl dem Evangelium als auch der modernen Lebenswelt verbunden. Er hat ein pontifikales Amtsverständnis.
  4. Der zeitgemäße Gemeindeleiter geht von den Menschen her auf Gott zu. Er versteht sich als Bruder unter Brüdern und Schwestern. Sein Amtsverständnis ist ekklesial. 

Zulehner Erkundungen ergeben, dass in allen pastoralen Berufsgruppen auch alle vier Typen existieren – wenngleich in unterschiedlicher Verteilung. Der zeitlose Kleriker ist mehrheitlich ein Priester, zeitgemäße Gemeindeleiter sind vielfach eher Pastoralreferent/innen. Interessantes Detail: Es gibt offenkundig eine erhebliche Zahl von Pastoralreferentinnen, die zum bzw. zur zeitlosen Kleriker(in) tendieren. 

Vor zehn Jahren konnte ich im Rahmen einer Fortbildungsstudie14 innerhalb der Dienstgemeinschaft der Seelsorgenden im Bistum Münster erstmals die kirchlichen Amtsverständnisse mit Lebensstiltypen, genauer mit den Sinus-Milieus verbinden. Die empirischen Analysen zeigten erstaunliche starke Korrelation der einzelnen Typen miteinander. 

  • Der zeitlose Kleriker korrespondiert stark mit dem gehobenen Lebensstil der Konservativen. 
  • Der zeitnahe Kirchenmann ist an der Schnittstelle von Konservativen und Etablierten (Arrivierte)15 angesiedelt. 
  • Der zeitoffene Gottesmann korrespondiert überwiegend mit dem Lebensstil der Etablierten, teilweise mit dem der Postmateriellen (Intellektuelle). 
  • Der zeitgemäße Gemeindeleiter zählt überwiegend zu den Postmateriellen (Intellektuelle). 

Wir können die Konfigurationen noch weiter anreichern: Kleriker/Kirchenmänner/-frauen setzen berufliche Akzente eher durch eine Weiterbildung im Feld der geistlichen Begleitung. Gottesmänner und Gemeindeleiter eher im Feld sozialpsychologischer Kompetenzen (Beratung, Supervision). Hier scheinen die Grundorientierungen im Sinus-Modell (A= Tradition, B= Selbstverwirklichung) in den Amtsverständnissen durch. Zudem verlaufen hier möglicherweise auch Konfliktlinien innerhalb des pastoralen Personals. Denn ein Kleriker wird bei Fragen von Führen und Leiten eher ein heroisches Führungsverständnis (vertikales Amtsverständnis) aufweisen. Ein Gemeindeleiter wird diesbezüglich eher synodale Elemente stark machen, d.h. Sympathien für ein postheroisches Führungsverständnis aufweisen. Autorität durch das Amt qua Christusbezug auf der einen Seite – Autorität durch Beteiligung (Taufbezug) auf der anderen Seite. Kirchenmänner und Gottesmänner/-frauen scheinen Abstufungen im Spektrum bzw. in der Skala der beruflichen Rollen und Amtsverständnisse darzustellen.

Die dauerhafte Herausforderung ist, diese feinen Unterschiede kommunizierbar und als produktives Mittel für die gemeinsame Arbeit fruchtbar zu machen.

Es wird deutlich: Die Stärke des einen Typs ist die Schwäche des anderen – und umgekehrt. Die Typen offenbaren im Wechselspiel die jeweils blinden Flecken. Systemtheoretisch gesehen sind die Richtung, Intensität und Eigenarten des systemimmanenten „Driftens“ signifikant unterschiedlich. Die dauerhafte Herausforderung ist, diese feinen Unterschiede in Teams, in Ordinariaten, in Räten und Gremien kommunizierbar und als produktives Mittel für die gemeinsame Arbeit fruchtbar zu machen. Pastoral- und Organisationsberater/innen sowie SupervisorInnen sind gut beraten, hier ein Gespür für die Prozess- und Teambegleitung zu haben. Kritiker mögen jetzt ein Denken in Schubladen monieren. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Wirklichkeit nur dann begreifbar wird, wenn wir Unterschiede bestimmen und kommunizieren können.  

Wir können festhalten: Die vier Amtsverständnisse mit dem jeweils eigenen Habitus, Wertehorizont, Kirchenbild sind nicht nur Kennzeichen der gegenwärtigen Kirchenkultur, sondern sie lassen sich vortrefflich mit weltlichen Wertevorstellungen und Milieuorientierungen verbinden. Diesbezüglich spricht vieles dafür, dass beide Typologien inhaltlich und von der empirischen Konstruktion her valide zu sein scheinen. 

Amtsverständnisse und das soziale Feld der klassischen Pfarreiseelsorge

Doch die Milieutheorie in Verbindung mit der Ämtertypologie16 kann noch mehr: Mithilfe eines eigenen Milieumodells konnten wir bereits 2015 qualitativ das soziale Feld der Pfarrei mit ihren Gremien, Gruppen und Verbänden mit der sozialen Landkarte der Gesellschaft in Deutschland in Beziehung setzen und hineinmodellieren.

Die Pfarrei als „Pfarrfamilie“ im weitesten Sinn umfasst die alt gewordene bürgerliche Mitte (Engagement in Gremien und Katechese), das konventionelle Kleinbürgertum in der Ruhestandsphase (Engagement in kfd, KAB, Kolping, Kultur- und Freizeitgruppen, Gottesdienstgemeinde). Es umfasst zudem Teile des gehobenen konservativen Milieus (Leitung in ehrenamtlichen Bereichen, Lektorendienste etc.) und des Milieus der Etablierten bzw. Arrivierten (Leitungsaufgaben im Kirchenvorstand: Bau, Finanzen, Personal). Im unteren Segment erschließt das kirchliche Feld das Milieu der Traditionellen (Gottesdienstbesucherinnen) und der Benachteiligten (Teilhabe an den gemeindenahen sozialen Diensten).  

Das eingezeichnete Carré ist geschichtlich und theologisch von der Gemeindetheologie Ferdinand Klostermanns gekennzeichnet: „Unsere Pfarreien müssen Gemeinden werden“.17 Darin offenbaren sich aber auch noch Reflexe des „Dauerhaften“ der pianischen Epoche aus dem 19. Jahrhundert. Unser Befund lässt sich auch mit pointierten Aussagen aus den jüngeren Diskursen zur Zukunft der Pfarrgemeinde anreichern. Herbert Poensgen schreibt: Die katholische Wohnzimmerästhetik ist innovationsresistent und der Mythos von der Gemeinschaft der Kirche über soziale Grenzen, Stadtviertel und Generationen hinweg erscheint unausrottbar.“18 Rainer Bucher bemüht ein Zitat von Rolf Zerfaß, der von der Gemeinde als einen Ort spricht, „wo man den Glauben braucht, um es aushalten zu können.“19 

Es ist gut, dass wir seit dem Konzil eine Vielfalt an beruflichen Rollen sehen.

Dieser Befund entspricht aus meiner Sicht in vollem Maße der Annahme Rainer Buchers, der von einer Ringstruktur der kirchlichen Sozialgestalt spricht: Eine Kerngemeinde im Zentrum, flankiert von anlassbezogenen Ritengemeinden zu den Lebenswenden (Hochzeiten, Begräbnisse, Tauffeiern) und umgeben von einem Kranz professionalisierter, aber aus der Pfarrgemeinde ausgelagerter pastoraler Handlungsfelder in Diakonie/Caritas, Schulpastoral, Krankenhaus- und Altenheimseelsorge oder Bildungsstätten für die kirchliche Erwachsenenbildung.20

Es gibt aber noch eine weitere, personale Ringstruktur: In meinen Untersuchungen konnte ich praktisch keine Fälle im Milieu der bürgerlichen Mitte identifizieren. Wenn die Beobachtung stimmt, dass das Soziale Feld der gegenwärtigen Pfarrei ihren Schwerpunkt im älter gewordenen bürgerlichen Mainstream und den Grenzbereichen zu den benachbarten Milieus hat, jedoch kaum einer der hauptamtlichen Seelsorger – bei aller Vielfalt zwischen und innerhalb der Berufsgruppen – aus diesem Milieu kommt, lässt sich auch hier in besonderer Weise das Bild des umliegenden „Kranzes“ festhalten: Das soziale Feld der Pfarrfamilie ist umgeben von einem Kranz der beruflichen Rollen, die aus einer je eigenen Logik (Amtsverständnis, Kirchenbild, Leitungsverständnis, Heilsverständnis) beruflich in dieses Feld hinein agieren.  

Folgende Annahmen drängen sich auf bzw. sind durchaus in der Praxis erkennbar:

  • Der zeitlose Kleriker findet hier (aus der Perspektive eines konservativen Lebensstils) einen Verwirklichungsraum seiner Berufung und Bestellung durch Christus in der Feier der Sakramente (Eucharistie), in der geistlichen Leitung der Pfarrei und der geistlichen Begleitung der Gemeindemitglieder. Hirtensorge als Pater familias „at it’s best.
  • Der zeitnahe Kirchenmann findet hier möglicherweise einen Verwirklichungsraum, die Kirche als Institution, für die er sich berufen fühlt, in der Gesellschaft zu repräsentieren (Arrivierte!). Repräsentatio at it’s best.
  • Der zeitoffene Gottesmann findet hier (aus der Perspektive des liberal-intellektuellen Milieus) den kulturellen Verwirklichungsraum, das Evangelium in die heutige Zeit und Gesellschaft zu übersetzen. 
  • Und der zeitgemäße Gemeindeleiter (aus seiner Perspektive des postmateriell-Intellektuellen) möglicherweise den Verwirklichungsraum, die Charismen Einzelner und die Taufberufung aller zu entfalten, wachsen und reifen zu lassen. Primus inter pares at it’s best.

Interessant dabei ist, dass ehrenamtliche Pfarreirätinnen und Pfarreiräte im bürgerlichen Mainstream hinsichtlich des Amtsverständnisses in der Fremdwahrnehmung nicht nur hinsichtlich ihres bürgerlichen Lebensstils zur Mitte hin tendieren, sondern auch die konturierten Typen „Kleriker“ und „Gemeindeleiter“ eher ablehnen und den moderaten „Kirche- und Gottesmännern“ eher entsprechen.21 Vieles scheint darauf hinzuweisen, dass sie diesbezüglich für die Pfarrei als Institution in der Stadt oder im Dorf/Stadtteil stehen und sich berufen fühlen, die lokale Kirche zu entwickeln (was dem vokativen Charakter der zeitnahen Kirchenmänner bzw. frauen entsprechen würde) bzw. das Evangelium in der Lebenswelt heute in einer zeitgemäßen, verständlichen Art und Weise verkünden möchten (was dem pontifikalen Charakter der zeitoffenen Gottesmänner und frauen entsprechen würde). 

Mit Blick auf Personalentwicklung und (lokaler) Kirchenentwicklung schauen wir noch einmal auf die konturierten Befunde Zulehners, die sich sicherlich auf alle Akteure übertragen lassen.22 Die Begriffe spiegeln dabei die Licht- und Schattenseiten der Typen wider. Bei allem gilt, die Stärken der Amtsverständnisse, die pastoralen Visionen und Stärken produktiv zu heben, zu verstärken und in die pastorale Arbeit einzubringen und die pastoralen Illusionen bzw. Schwächen besprechbar zu machen. Denn bei allem wird nach wie vor die Prämisse sein: Es ist gut, dass wir seit dem Konzil eine Vielfalt an beruflichen Rollen sehen. In einer differenzierten Gesellschaft sind differenzierte berufliche Profile mit ihren Stärken und Schwächen zu begrüßen. Die Stärken müssen in der Dynamik aller Rollen stark gemacht werden und die Schwächen müssen benannt und entwickelt werden. Jeder Akteur – auch die Beratenden – sind gut beraten, in den kommunikativen Prozessen sich über das eigene Amtsverständnis, das dahinter stehende Kirchenbild und die eigene Milieuorientierung bewusst zu sein. Dies alles gilt auch für kirchliche Führungskräfte (Bischöfe und Ordinariatsleitungen), für Theologierprofessor/innen und auch für Akteure in kirchlich-medialen Journalismusformaten. 

  Zeitloser Kleriker  Zeitnaher Kirchenmann  Zeitoffener Gottesmann  Zeitgemäßer Gemeindeleiter 
Stärke  Repräsentatio Christi  Berufung als Beruf, Professionalisierung  Balance zwischen amtlichen und gemeinsamen Priestertum  Bruder unter Schwestern und Brüder 
Gefährdungen  Klerikalismus: Verlust des gemeinsamen Priestertums  Verbeamtung, liberaler Pfarrherr  opportunistische Kompromissbereitschaft  Laizismus: Verlust des amtlichen Gegenübers 
Verhältnis Welt  weltabgewandt-unmodern  weltgewandt   weltzugewandt  weltverwandt-modern 
Verhältnis Kirche  loyal-unkritisch  pragmatisch  kritisch-loyal  kritisch 
Blinde Flecken  sieht weder das Gute der Welt noch das Böse in der Kirche  verliert Interesse am Evangelium (und der Welt)  ist zu sehr um Ausgleich bemüht  übersieht das Welt-Böse, das Kirchen-Böse lähmt ihn 

 

  1. Das Bibliographie-Handbuch zur Soziologie im Christentum von Hervé Carrier SJ und Emile Pin SJ weist auf Einzelstudien in den 1930er Jahren hin. Die pastoralsoziologische Forschung insgesamt wie die damit zusammenhängende Professionsforschung erlebt erst in den 1950er Jahren einen Aufschwung, vgl. Carriér, H., Pin, E., Sociologie du Christianisme. Bibliographie internationale / Sociology of Christianity. International Bibliography, Rom 1964.
  2. Crottogini, J., Werden und Krise des Priesterberufs. Eine psychologisch-pädagogische Untersuchung über den Priesternachwuchs in  verschiedenen Ländern Europas, Einsiedeln u.a. 1955 (Arbeiten zur Psychologie, Pädagogik und Heilpädagogik, Bd. 9).
  3. Vgl. zur gesamten Entwicklung der Literaturbericht von: Stelzer, M., Krisendiagnosen – Lebensperspektiven. Zur Entwicklung priesterlicher Rollenidentitäten und beruflicher Professionalität in der modernen Lebenskultur, ZAP-Workingpaper 1 (2015) DOI: 10.13140/RG.2.1.2455.9444.
  4. Eine sozialwissenschaftliche Grundierung legt hier Gunnar Otte vor: Otte, G., Sozialstrukturanalyse mit Lebensstilen. Eine Studie zur theoretischen und methodischen Neuorientierung der Lebensstilforschung, Wiesbaden 2008 (2. Auflage).
  5. Vgl. dazu: Otte, G., Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft? Eine Auseinandersetzung mit aktuelllen Bilanzierungsversuchen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 57 (2005), S. 1-31.
  6. Zulehner, P.M., Priester im Modernisierungsstress. Forschungsbericht der Studie Priester 2000©, Ostfildern 2001.
  7. Vgl. dazu auch: Zulehner, P.M., Patzelt, E., Samariter-Prophet-Levit. Diakone im deutschsprachigen Raum, eine empirische Studie, Ostfildern 2003; Ders., Renner, K., Ortsuche. Umfrage unter Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten im deutschsprachigen Raum, Ostfildern 2006; Ders., Müller, W., Sieberer, B. (Hgg.), Der Reichtum der Kirche sind ihre Menschen. Pfarrgemeinderäte beleben die Kirchengemeinden, Ostfildern 2010.  Als Zusammenfassung empfiehlt sich: Zulehner, P.M., Wirklich ein Priestermangel? Zur Lage der pastoralen Berufe im deutschsprachigen Raum, in: Herder-Korrespondenz Spezial 1 (2009), S., 36-40.
  8. Dazu nahm Zulehner jeweils eine Clusterzentrenanalyse (k-means-Verfahren) mit den Umfragedaten vor. In den einzelnen Studien zeigten sich bei einer Vorgabe von vier Gruppen offenkundig wiederkehrende Muster der Typen, obgleich die k-means-Prozedur anfällig ist für die Stichprobengröße und -zusammensetzung.
  9. Schmidtchen, G., Zwischen Kirche und Gesellschaft. Forschungsbericht über die Umfragen zur Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg, 1972.
  10. Schmidtchen, G., Priester in Deutschland. Forschungsbericht über die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführte Umfrage unter allen Welt- und Ordenspriestern in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg 1973.
  11. Vgl. dazu die Ausführungen Zulehners zur Entwicklung des Amtsverständnisses in Zulehner, Priester; sowie durchweg: Wolf. H., Zölibat. 16 Thesen, München 2019.
  12. Zulehner, Priester, S. 35.
  13. Vgl. hierzu die Ausführungen von Krüggeler, M., Voll, P., Strukturelle Individualisierung – ein Leitfaden durchs Labyrinth der Empirie, in: Dubach, A., Campiche, R.J., Jede/r ein Sonderfall? Religion in der Schweiz, Zürich/Basel 1993, S. 17-49.
  14. Stelzer, M., Wie lernen Seelsorger? Milieuspezifische Weiterbildung als strategisches Instrument kirchlicher Personalentwicklung, Würzburg 2014 (Angewandte Pastoralforschung, Bd. 1), S. 134-190.
  15. Ich gebe hier die Typenbezeichnungen des open-access-Milieumodelles wider. Weiter unten werde ich die einzelnen Befunde in die soziale Landkarte einzeichnen.
  16. Die Ämtertypologie hat übrigens eine hervorragende Theoretisierung durch den Beitrag von Anna Hennersperger erfahren, die die empirischen Daten der Priesterstudie Zulehners theologisch durchdrungen hat. Wir können durchaus auch von einer pastoraltheologischen Ämtertheorie (analog zur Milieutheorie) sprechen: Hennersperger, A., Ein ein(z)iges Presbyterium. Zur Personalentwicklung von Priestern. Amtstheologische Reflexionen zu Daten der Studie Priester 2000©, Ostfildern 2002.
  17. Vgl. dazu: Bucher, R., Die Gemeinde nach dem Scheitern der Gemeindetheologie. Perspektiven einer zentralen Sozialform der Kirche, in: Sellmann, M. (Hg), Gemeinde ohne Zukunft? Theologische Debatte und praktische Modelle, Freiburg i.Br. 2013 (Theologie kontrovers), S. 19-54, hier: 24f.
  18. Vgl. Poensgen, H., Zu jung, zu modern, zu sportlich, um wirklich katholisch zu sein? In: Lebendige Seelsorge 2 (2011), S. 81-86, S. 84.
  19. Bucher, Gemeindetheologie, S. 27.
  20. Bucher, Gemeindetheologie, S. 29f.
  21. Zulehner, P.M., Der Reichtum der Kirche sind ihre Menschen. Pfarrgemeinderäte beleben die Kirchengemeinden, Ostfildern 2010, S. 136f.
  22. Vgl. Zulehner, Modernisierungsstress, S, 25, 27, sowie ausführlich eine Synopse der Amtsverständnisse und Milieuorientierungen in: Stelzer, M., Rolle-Amt-Lebensstil. Konfigurationen von Diversität im Berufsfeld katholischer Seelsorgerinnen und Seelsoger. Eine Bestandsaufnahme, in: Stelzer, M., Diversity-Management als Dimension kirchlicher Personalentwicklung. Evaluation der Seelsorge-Ausbildung am Beispiel des Bistums Münster, Würzburg 2019 (Angewandte Pastoralforschung, Bd. 7), S. 21-35.

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